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"Wer Freiheit für Sicherheit aufgibt, wird beides verlieren"

Mehr als 20 Jahre sind seit der Wiedervereinigung vergangen - braucht man da noch eine Stasi-Unterlagen-Behörde? Das wollten die Schüler der Klasse O121 der Marie-Elisabeth-Lüders-Oberschule im Interview von Roland Jahn, dem Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, wissen. Beim exklusiven Termin für die Morgenpost-Projektschüler erklärte Jahn, warum die Arbeit seiner Behörde wichtig bleibt. Und dass viele der ehemaligen Spitzel noch immer wenig Reue zeigen:

Berliner Morgenpost: Wie sieht bei Ihnen ein normaler Arbeitstag aus, Herr Jahn?

Jahn: Ich habe keinen "normalen" Arbeitstag. Kein Tag gleicht dem anderen. Neben der Leitung der Behörde nehme ich unter anderem öffentliche Termine wahr, halte zum Beispiel Vorträge, nehme an Konferenzen teil, eröffne Ausstellungen oder bin Gast bei Podiumsdiskussionen. Das alles erfordert viel Ausdauer, in der Regel habe ich eine 80-Stunden-Woche. Obenan steht immer die Aufklärungsarbeit über das Wirken der Stasi. Es ist mir wichtig, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, wie die Stasi Menschen- und Grundrechte verletzte und dabei auch die Frage aufzuwerfen, wie dies geschehen konnte. Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten.

Was sind Ihre wichtigsten Aufgaben?

Jahn: Die Stasi-Unterlagen-Behörde ist ein Dienstleister für die Gesellschaft. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist es, die Stasi-Akten zu verwahren und zu verwalten und sie für die Opfer und die öffentliche Aufarbeitung zugänglich zu machen. Darüber hinaus unterrichten wir die Öffentlichkeit über das Wirken der Stasi.

Was ist das Interessanteste an Ihrer Arbeit?

Jahn: Die Menschen. Zum einen, die jüngere Generation an das Thema heranzuführen und zum anderen, den Kontakt mit den Betroffenen des Überwachungsstaats zu pflegen, ihnen zu helfen, mit ihrer gestohlenen Biografie umzugehen. Ihre Fragen an ihr Leben zu klären und sie dabei zu unterstützen, mit den Tätern von damals ins Gespräch zu kommen, um Versöhnung möglich zu machen.

Wie erleben Sie die Begegnungen mit diesen Tätern?

Jahn: Mein Resümee ist, dass es zu wenig Bekenntnis zur Verantwortung gibt, es wird immer noch geleugnet und verdrängt. Sicher gibt es auch Ausnahmen und gerade diese Reue ist es dann, die den Opfern das Vergeben ermöglicht und Frieden schließen lässt.

Welche Konsequenzen drohten beziehungsweise drohen diesen Tätern?

Jahn: Die Mitarbeit bei der Stasi an sich konnte im Grunde strafrechtlich nicht verfolgt werden. Eine strafrechtliche Verfolgung ist dann möglich, wenn im Rahmen der Tätigkeiten für die Stasi Delikte begangen wurden, die auch schon zu DDR-Zeiten gesetzeswidrig waren. Dennoch drohen ehemaligen Stasi-Mitarbeitern auch Konsequenzen, zum Beispiel dann, wenn sie im öffentlichen Dienst beschäftigt sind und ihre Stasi-Tätigkeit verheimlicht haben. In diesem Fall kann der Dienstherr ihre Entlassung oder Versetzung veranlassen.

Wie wichtig ist es heute noch, die Öffentlichkeit über die Stasi-Verstrickungen berühmter Persönlichkeiten zu informieren?

Jahn: In einer demokratischen Gesellschaft ist Transparenz wichtig. Es ist wichtig über ein vergangenes Unrechtssystem aufzuklären. Das Wissen um das Geschehene trägt zur Offenheit in einer Gesellschaft bei und fördert das demokratische Verantwortungsbewusstsein in der Gesellschaft.

Wie geriet man ins Visier der Stasi?

Jahn: Zum Beispiel, wenn man seine Meinung sagte. War man einmal im Visier, war es sehr gefährlich. Und durch das willkürliche Eingreifen der Stasi entstand oft ein Gefühl der Ohnmacht.

Wie bewerten Sie rückblickend die Methoden der Stasi, welche waren die schlimmsten?

Jahn: Wenn man sich den Stasi-Begriff der Zersetzung genauer vor Augen führt, sieht man, dass die Stasi als "Waffe der SED" Menschenrechte verletzte und Biografien zerstörte. Sie hat Menschen verunsichert, Persönlichkeiten zerstört, Familien zerrüttet und vieles mehr. Es ist schwer, da eine Wertung vorzunehmen. Die Stasi hat sogar vor Mordplänen nicht zurückgeschreckt.

Wie wurden die Stasi-Mitarbeiter ausgebildet, dass sie Menschen so fertig machen konnten?

Jahn: Es gab unter anderem eigene Studiengänge, an denen spezifische psychologische Methoden der Staatssicherheit gelehrt wurden. Hier ging es zum Beispiel darum zu lernen, wie man die Glaubwürdigkeit eines Opfers zerstört und so seine "Zersetzung" erreicht.

Warum gab es nicht früher Widerstand?

Jahn: Anpassung war in der DDR die große Linie. Es hat lange gedauert, bis sich genug Menschen gefunden haben, die "nein" sagten. Das Machtsystem der SED durchzog die gesamte Gesellschaft, da war es nicht einfach, sich gegen diese Bedrohung zu erheben. Ziel der Stasi war der Machterhalt der SED, nicht der Schutz der Menschen in der DDR.

Haben Sie selber Freunde gehabt, die mit der Stasi gegen Sie gearbeitet haben?

Jahn: Ja, es gab solche Freunde und deswegen sind einige Beziehungen zerbrochen. Nach dem Ende habe ich mit vielen das Gespräch gesucht, um aufzuarbeiten. Allerdings waren nur einige von ihnen bereit, mit mir zu sprechen, andere leugnen und verdrängen bis heute.

Die Stasi verletzte Menschen- und Bürgerrechte - warum hatte sie trotzdem so viele Mitarbeiter?

Jahn: Sicher spielten Privilegien eine große Rolle. Die Mitarbeiter hatten ein gutes Gehalt und - wie nur wenige - ein Telefon und vieles mehr. Da wollten viele dazugehören. Zudem ließ die Stasi ihre Mitarbeiter glauben, dass sie für die richtige Sache kämpften und dass ihre Arbeit im Interesse der Menschen in der DDR sei.

Was sollten wir Ihrer Meinung nach noch heute über die Stasi wissen?

Jahn: Wir sollten so viel wie möglich darüber wissen und unsere Sinne schärfen, damit so ein System der Unterdrückung und der Angst nicht wieder entstehen kann.

Die Wiedervereinigung ist jetzt fast 23 Jahre her - brauchen wir heute noch immer diese Behörde?

Jahn: Wir brauchen die Stasi-Unterlagen-Behörde, solange ihre Dienstleistung in dieser Form gefragt ist.

2019 soll mit der Stasi-Unterlagen-Behörde Schluss sein - wie stehen Sie dazu?

Jahn: Das steht noch nicht definitiv fest. Ob und wann die Behörde ihre Arbeit beendet, das klärt eine Expertenkommission des Bundestags.

Kann es sein, dass der Überwachungsstaat aus Angst vor Terrorismus wieder kommt?

Jahn: Das ist eine gute Frage. Wie viel Freiheit darf eingeschränkt werden für Sicherheit? Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.

Die Fragen stellten die Schüler der Klasse O 121 der Marie-Elisabeth-Lüders-Oberschule, Schöneberg