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"Wir müssen die Empfindungen der Opfer respektieren"

In der "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" (FAS) vom 8. Mai erzählt Roland Jahn von seinem Rebellentum in der DDR, appelliert an Linkspartei und CDU mehr für die DDR-Aufklärung zu tun und erläutert, weshalb jungen Leuten der Blick auf die Diktatur in der DDR hilfreich sein kann, um eigene Wertmaßstäbe zu finden: "So kann man sich besser einmischen". Um Jugendliche besser zu erreichen ist auch Twittern für den Bundesbeauftragten eine Option. Im Streit um die Weiterbeschäftigung ehemaliger Stasimitarbeiter in seiner Behörde mahnt Jahn: "Es ist wichtig, dass die Glaubwürdigkeit der Aufarbeitung nicht beschädigt wird".

FAS: Herr Jahn, Sie haben als Jugendlicher beim FC Carl Zeiss Jena Fußball gespielt, waren in der FDJ, haben Abitur gemacht und Wehrdienst geleistet, dann Wirtschaftswissenschaften studiert. Warum ist aus Ihnen kein angepasster DDR-Bürger geworden?

Roland Jahn: Ich habe zu viele Fragen gestellt. Das ging los mit: Warum können wir die Haare nicht so lang tragen, wie wir wollen? Warum können wir nicht die Musik hören, die uns gefällt? Ich habe keine Antworten bekommen. Später habe ich an der Uni gefragt: Warum gibt es keine Meinungsfreiheit? Die Antwort war der Rausschmiss.

Sie wurden exmatrikuliert, nachdem Sie 1976 gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann protestiert hatten. Sie mussten als Transportarbeiter zur Bewährung in die Produktion.

Jahn: Ja, man hat da manches gelernt. Aber meine politische Haltung entwickelte sich nach und nach. Ich wurde nicht als Staatsfeind geboren, sondern dazu erzogen. Ich wurde in diese Rolle gedrängt.

Na ja, immerhin hatten Sie auch Lust an der Provokation. Am 1. Mai 1982 stellten Sie sich während der Demonstration in Jena neben die Tribüne der Staats- und Parteifunktionäre. Ihre eine Gesichtshälfte war als Hitler geschminkt, die andere mit Schnauzer als Stalin.

Jahn: Natürlich wollte ich mit dieser Aktion provozieren. Die Botschaft war: Überlegt euch, wem ihr zujubelt. Dem Hitler haben sie zugejubelt, dem Stalin, dem Ulbricht, jetzt dem Honecker. Die Stasi konnte mit dieser Aktion erst einmal nichts anfangen und hat mich gewähren lassen. Aber später, als das Maß in ihren Augen voll war, wurde sie herangezogen unter dem Vorwurf, ich hätte den Staat öffentlich herabgewürdigt.

Ihr Spitzname war Gag. Sie hatten immer Gags drauf, mit denen sie das System verlachten. Waren Sie eine Ein-Mann-Spaßguerilla in der DDR?

Jahn: Nein. „Gag“ war auch ein Ausdruck meiner Lebensfreude. Die wollte ich mir in der Auseinandersetzung mit dem Staat nicht nehmen lassen, wollte nicht verbittern. Und ich war nicht allein, ich hatte Freunde in Jena, es gab dort eine oppositionelle Szene. Wir haben uns Halt gegeben, aber auch gemeinsam Spaß am Leben gehabt.

Ihr Freund Matthias Domaschk starb 1981 in Stasi-Haft. Was hat dieser Tod in Ihnen bewirkt?

Jahn: Das war ein enger Freund, lebenslustig, 23 Jahre alt. Ich habe noch die Bilder vor Augen, wie wir gemeinsam die Wohnung meiner damals schwangeren Freundin renovierten. Mir wurde durch seinen Tod endgültig klar dass die Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit kein Spiel ist. Sondern es geht um Leben und Tod. Ich habe verstanden, man muss nicht der große Staatsfeind sein, sondern nur ein junger Mensch, der selbstbestimmt leben will, dass man in die Klauen der Staatssicherheit geraten und am Ende auf der Strecke bleiben kann. Ich habe damals die Illusion verloren, dass dieser Staat mein Staat ist.

Und die DDR hat die Illusion verloren, dass sie ein guter Staatsbürger werden. Die Stasi hat sie 1983 in Knebelketten gelegt, in einen Zug verfrachtet und in die Bundesrepublik abgeschoben.

Jahn: Diese zwangsweise Ausbürgerung hat mich sehr getroffen, fast mehr als die mehrmonatige Inhaftierung. Denn es war der Verlust der Heimat. Ich hatte ja auch viel Schönes in der DDR erlebt, das Aufwachsen in der Familie, die Freunde. Und ich habe noch die Stimme meiner Mutter im Ohr, als ich aus West-Berlin anrief: Man hat uns unseren Sohn gestohlen.

Sie sind 1985 heimlich in die DDR zurück. Wie war das?

Jahn: Ich habe lange alles versucht, um zurückzukommen. Ich habe den UNO-Generalsekretär auf dem Kurfürstendamm in West-Berlin einen Bittbrief übergeben, dass er sich bei Eich Honecker dafür einsetzt. Ich habe versucht, auf eigene Faust einzureisen - vergeblich. Eines Tages bin ich von Prag kommend in Berlin-Schönefeld gelandet und bei der Kontrolle durchgerutscht. Ich bin nach Jena gefahren. Und war erschrocken über den Zerfall der Stadt, viele Freunde waren ausgereist. Ich ging zur Wohnung meiner Eltern, es war frühmorgens, darin brannte Licht. Ich stand fast eine Stunde vor dem Haus. Ich hatte Angst reinzugehen. Ich dachte, mein Vater könnte vielleicht wieder einen Herzinfarkt kriegen, meine Eltern könnten Schwierigkeiten bekommen, wenn der Sohn sie illegal aufsucht. Ich habe es nicht gewagt. Ich bin zurück nach Ost-Berlin gefahren, habe mit den dortigen Oppositionellen beratschlagt. Sie haben mir gesagt, wie wichtig ich für sie in West-Berlin bin, vor allem durch die Kontakte zu den Medien. Am Ende des Gesprächs haben sie mich zum Grenzübergang gefahren.

Als Sie in West-Berlin in Kreuzberg lebten, hat die Stasi Sie weiter „bearbeitet“.

Jahn: Ich habe immer gespürt, dass die Stasi an mir dran ist. Aber ich wollte mein Leben nicht von der Angst vor ihr bestimmen lassen. In den Akten habe ich dann gesehen, wie nah sie auch in West-Berlin an mir dran waren. Es gab Pläne, Kneipen zu verwanzen, in denen ich verkehrte. Ich sah, dass sie Skizzen von der Einrichtung meiner Wohnung hatten, dass der Schulweg meiner Tochter untersucht wurde. Da lief mir doch ein Schauer über den Rücken.

Sie haben auch im Westen noch mal im Gefängnis gesessen.

Jahn: Ja, wegen einer Blockade des Raketenstützpunktes in Bitburg. Da wurde ich wegen Nötigung verurteilt. Und weil ich die Tagessätze nicht gezahlt habe, wurde ich eingesperrt. Später hat das Verfassungsgericht diese Verurteilungen aufgehoben.

Nun sind Sie 57, waren Fernsehjournalist der ARD und sind seit kurzem Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde. „Mielke und Co. wollten ihn fertigmachen. Nun hat er sie in der Hand. Im Archiv“, hat man über Sie geschrieben. Haben Sie ein Gefühl der Genugtuung?

Jahn: Ich habe zumindest ein gutes Gefühl, dass die Stasi mich nicht mehr in der Hand hat. Sondern dass ich jetzt in einer besonderen Funktion an der Aufklärung beteiligt bin, was Staatssicherheit war. Und ich tue das ohne Zorn.

Sie wollen aber, dass 47 ehemalige hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter, die seit 20 Jahren in Ihrer Behörde treu ihren Dienst versehen, versetzt werden. Warum?

Jahn: Mir geht es darum, Versöhnung möglich zu machen. Die kann nicht verordnet werden. Sondern sie findet nur statt, wenn die Wunden der Opfer geheilt sind. Deswegen habe ich deutlich gemacht: Wir müssen die Empfindungen der Opfer respektieren. Wenn sie mir sagen, wir empfinden die Arbeit dieser Leute gerade in dieser Behörde als Schlag ins Gesicht, dann kann ich das nicht ignorieren.

Aber Sie sind nicht der Anwalt der Opfer.

Jahn: Ich habe den gesetzlichen Auftrag, aufzuarbeiten. Dazu gehört auch, die Opfer der Staatssicherheit ernst zu nehmen. Grundsätzlich geht es mir um die Frage nach der individuellen Verantwortung in der Gesellschaft. Welche Rolle habe ich in der Diktatur gespielt? Und wie gehe ich heute damit um? Da kann man sich nicht darauf zurückziehen: Das war damals, und heute spielt es keine Rolle mehr.

Sie haben sich mit der Forderung, die ehemaligen Stasi-Leute, die meist im Wachschutz tätig sind, sollten versetzt werden, weit aus dem Fenster gelehnt. Sie könnten daran grandios scheitern.

Jahn: Nein. Ich habe nur das Problem benannt. Ich selbst kann es gar nicht lösen. Das können die ehemaligen Stasi-Leute, wenn sie bereit sind, woanders zu arbeiten. Und lösen kann es der Arbeitgeber, die Bundesregierung.

Wie weit sind Sie denn in Ihren Bemühungen gekommen?

Jahn: Ich habe erste Gespräche mit den ehemaligen Stasi-Mitarbeitern gesucht. Einige haben mir das Signal gegeben, dass sie es als möglich ansehen, woanders zu arbeiten. In Gesprächen mit dem Staatsminister der Kultur und dem Bundestag versuche ich Möglichkeiten zu finden, dass die Leute, die 20 Jahre gut gearbeitet haben, in Behörden arbeiten können, die nicht so sensibel sind. Unsere Behörde, die über die Tätigkeit der Staatssicherheit aufklärt, ist etwas Besonderes. Es ist wichtig, dass die Glaubwürdigkeit der Aufarbeitung nicht beschädigt wird..

Der Einfluss der Stasi auf den Bundestag, auf die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter, ist kaum erforscht. Wie soll das geschehen?

Jahn: Der Bundestag hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, dass die Behörde erstellt. Wir hoffen, dass das bis Mitte 2012 fertig ist. 

Müssten die politischen Parteien nicht mehr für diese Aufklärung tun und ihre eigenen Archive öffnen?

Jahn: Bei meiner Vorstellung im Bundestag haben mir alle Fraktionen, auch die der Linkspartei, versichert, dass das Wirken der Stasi in Ost und West weiter untersucht werden soll. Aufarbeitung der Diktatur darf sich aber nicht auf die Staatssicherheit beschränken. Ihr Auftraggeber war die SED. Da ist die Linkspartei als Nachfolge-Partei in der Verantwortung, die Karten auf den Tisch zu legen. Auch die Union könnte mehr zur Erforschung der DDR-Blockpartei CDU beitragen.

Heute wissen viele Schüler im Osten nicht mehr, wer Honecker war. Ist das gut oder schlecht?

Jahn: Es ist immer schlecht, wenn junge Menschen wenig über die Geschichte wissen. Aber Freiheit heißt auch, dass man sich nicht alles vorsetzen lassen will. Deshalb ist es für mich eine Herausforderung, junge Menschen für das Thema DDR zu interessieren. Um eigene Wertmaßstäbe zu finden, ist der Blick auf die Diktatur hilfreich. So kann man sich besser in Demokratie einmischen.

Wenn wir heute den Kindern erzählen, dass es eine Mauer gab und zwei durch eine schwer bewachte Grenze geteilte deutsche Staaten, dann ist das so, wie wenn früher die Onkels vom Krieg erzählten. Wie wollen Sie der Twitter- und Facebook-Generation nahebringen, was die DDR war?

Jahn: Wir sind Dienstleister für die Gesellschaft. Wenn junge Leute sich moderner Kommunikationsmittel bedienen, dann müssen wir uns darauf einstellen. Wir können nicht dasitzen und darauf warten, dass alle zu uns kommen. Wir haben die Aufgabe, die Gesellschaft zu erreichen.

Also wird Roland Jahn auch twittern?

Warum nicht?

Das Gespräch führte Markus Wehner