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"Wir müssen wegkommen von der Fixierung auf die Stasi"

In der Ostsee-Zeitung vom 23. Mai 2011 warnt Roland Jahn vor einer einseitigen Aufarbeitungsdebatte: "Wir müssen wegkommen von der Fixierung auf die Stasi, wir müssen die Menschen vielmehr abholen bei ihren eigenen Erlebnissen. Wir müssen deutlich machen, wie hat der Alltag in der Diktatur funktioniert, wie hat die SED ihren Machtanspruch etwa über Rat der Stadt, Rat des Kreises, Rat des Bezirks oder über das Bildungssystem durchgesetzt. Wie hat es der Stasi-Apparat geschafft, ein Klima der Angst zu verbreiten."

OSTSEE-ZEITUNG: Herr Jahn, wenn Sie morgens in Ihre Behörde kommen und der Pförtner, der mal hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter war, macht Ihnen die Tür auf, was sagen Sie dem?

Roland Jahn: Ich begrüße alle Mitarbeiter freundlich, egal, ob sie früher für die Staatssicherheit gearbeitet haben oder nicht. Ich habe Respekt vor allen Kollegen.

Aber warum wollen Sie dann die Ex-Stasi-Leute, die seit 20 Jahren in der Behörde ordentlich arbeiten nun loswerden, das klingt nicht gerade nach Versöhnung?

Jahn: Ich respektiere die Arbeit dieser Menschen. Aber ich kann nicht darüber hinweg gehen, dass mir Opfer der Staatssicherheit sagen, jeder ehemalige Stasi-Mitarbeiter in der Behörde sei ein Schlag in ihr Gesicht. Ich verstehe diese Sicht der Opfer und ich möchte helfen, ihre Verletzung zu heilen. Ich fände es gut, wenn die die Ex-Stasi-Mitarbeiter dabei helfen und ein Zeichen setzen. Nicht mehr in der Behörde zu arbeiten wäre so ein Zeichen dafür, dass man die eigene Rolle im Unterdrückungsapparat begriffen hat und die Empfindungen der Opfer respektiert.

Warum tun Sie sich diesen Job an der Spitze der Stasi-Unterlagenbehörde überhaupt an, Sie müssen jeden Tag in der Vergangenheit wühlen, als Journalist hätten Sie es einfacher?

Jahn: Nein, je besser wir die Diktatur begreifen, umso mehr können wir Demokratie gestalten. Ich begreife die Behörde als eine Schule der Demokratie. Durch die Beschäftigung mit der Unfreiheit können wir den Wert der Freiheit besser schätzen. Das ist vor allem eine Botschaft an die jungen Menschen, gleichsam eine Lebenshilfe: Welche Werte sind uns heute wichtig, warum sind Toleranz und Wahrhaftigkeit so wichtig? Welche Strukturen machen Menschen unfrei, zwingen sie zu Verrat und Anpassung? All dass sind hoch spannende Fragen. Ich möchte jungen Menschen nahe bringen, dass wir damals ebenso junge Menschen waren, wie sie heute sind. Wir wollten eine gerechte und menschenwürdige Gesellschaft, aber wir wurden vom Staat brutal drangsaliert.

Sie waren in der FDJ, haben Wehrdienst geleistet, ein Studium begonnen, wie Millionen ihrer Altersgenossen in der DDR. Wann kam es zum Bruch mit dem SED-System?

Jahn: Es gab keinen konkreten Zeitpunkt, ich wurde Schritt für Schritt zum Staatsfeind gemacht. Eine Zäsur war allerdings der Verlust eines Freundes…

Matthias Domaschk, der 1981 in Stasi-Haft in Gera ums Leben kam…

Jahn: Genau. Da war mir klar, es ist kein Spielchen mit der Staatssicherheit, es geht um Leben und Tod. Dass ein jungen Mann von 23 Jahren, der einfach nur ein selbst bestimmtes Leben leben wollte, am Ende auf der Strecke bleibt, hat mir bewusst gemacht, dass unser aller Leben durch die Stasi bedroht sein konnte.

Sie hörten gerne die Band Ton, Steine, Scherben, und ich vermute auch Rolling Stones und Janis Joplin, diskutierten über Gott und die Welt, wollten Gerechtigkeit - und wurden so zum Staatsfeind der DDR.

Jahn: Genau das war es. Schritt für Schritt wurde aus dem Spaß ernst. Immer wieder gab es neue Ereignisse, die deutlich machten, dieser Staat kennt kein Pardon, er schlägt zu, wenn ihm etwas nicht in den Kram passt. Spätestens nach dem Tod von Matthias Domaschk, der vertuscht wurde, habe ich diesen Staat insgesamt infrage gestellt. Ich wurde auch deshalb ins Gefängnis gesteckt, weil ich diesen Tod nicht einfach hinnehmen wollte, weil ich für Öffentlichkeit über diesen Tod gesorgt habe, in der DDR und im Westen. Da hat die Stasi zugeschlagen, weil sie nicht wollte, dass wir ihre schmutzigen Praktiken offen legen.

Warum wollten Sie dennoch in der DDR bleiben, sie wurden in einen Interzonenzug gesperrt und nach Bayern verfrachtet?

Jahn: Ich bin ein heimatverbundener Mensch, ich liebe meine Heimatstadt Jena, hatte dort meine Familie, Freunde, eine wunderschöne Landschaft.

Das war Jena, meine Kernberge, meine Saale, mein Fußballplatz. Ich wollte nicht denen, die an der Macht waren, mein Land überlassen. „Junger Deutscher erstmals mit Gewalt aus der Heimat gebracht“ – das war die Schlagzeile in West-Berlin am 9. Juni 1983, einen Tag nachdem ich in den Westen verfrachtet wurde. Das hat es getroffen.Was war die DDR für Sie, ein Unrechtsstaat mit FKK an der Ostsee, mit Kinderferienlagern, aber auch mit Bautzen und Hoheneck?

Jahn: Die DDR war ein Land, in dem ich viele schöne Stunden hatte, in dem sich Menschen gegenseitig geholfen haben und in dem ich aber auch gespürt habe, dass es eine Diktatur war. Auch in der Diktatur scheint die Sonne. Doch es gab viele, die diese Sonne nicht sehen durften, die verfolgt und eingesperrt wurden, weil sie anders leben wollten, weil sie dem Staat nicht passten. Es geht darum diesen Widerspruch aufzuzeigen.

OZ: Wenn man die veröffentlichte Meinung zur DDR-Vergangenheit hört und liest, drängt sich der Eindruck auf, der Osten war ein einziges Stasi-Land.

Jahn: Ich denke schon, dass zwanzig Jahre Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu sehr auf das skandalträchtige Thema Stasi fixiert war. Dadurch ist vieles andere verloren gegangen. Es wurde viel zu wenig über das ganz normale Leben in der DDR gesprochen und geforscht. Es geht um den Alltag in der Diktatur.

OZ: Die Stasi als Sündenbock?

Jahn: Richtig, es gab viele, die daran interessiert waren, alles auf die Stasi zu schieben. Das hat abgelenkt, etwa von der Verantwortung der SED, die ja Auftraggeber des Stasi-Apparates war, aber auch von der Verantwortung der Menschen, die sich angepasst hatten, die Mitläufer waren.

Stellen Sie damit nicht alle an den Pranger, auch die, die nur vernünftig leben wollten in der DDR, die sie sich nicht ausgesucht hatten, waren nicht auch Sie am Anfang ein Angepasster?

Jahn: Ich nehme mich doch gar nicht aus. Auch ich lief eine Zeit lang in den vorgeschriebenen Bahnen. Die große Masse waren, wie meine Eltern, rechtschaffene Leute. Aber auch die haben in bestimmten Situationen lieber den Mund gehalten. Man konnte auch Nein sagen. Gerade in den Akten ist dokumentiert, dass sich viele Menschen der Stasi widersetzten, dass viele Nein gesagt haben, Freunde nicht verraten haben. Darauf kann man stolz sein.

Gerade mal ein bis zwei Prozent der DDR-Bürger waren inoffizielle oder hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter.

Jahn: Stimmt, es gibt so eine Wahrnehmung, vor allem im Westen: DDR gleich Stasi. So war es nicht. Wir müssen wegkommen von der Fixierung auf die Stasi, wir müssen die Menschen vielmehr abholen bei ihren eigenen Erlebnissen. Wir müssen deutlich machen, wie hat der Alltag in der Diktatur funktioniert, wie hat die SED ihren Machtanspruch etwa über Rat der Stadt, Rat des Kreises, Rat des Bezirks oder über das Bildungssystem durchgesetzt. Wie hat es der Stasi-Apparat geschafft, ein Klima der Angst zu verbreiten. Die Stasi wirkte überall, auch dort, wo sie nicht war.

Die DDR sei kein kompletter Unrechtsstaat gewesen, meinte Ministerpräsident Erwin Sellering, es gab etwa Gerichtsurteile, die Bestand haben. Hat er nicht recht?

Jahn: Das ist für mich eine Nulldebatte. Unrechtsstaat ist da, wo von Staats wegen Unrecht ausgeübt wird. Das war in der DDR an der Tagesordnung. Nach meinem verlorenen Arbeitsgerichtsprozess, in dem ich gegen meine Entlassung bei Carl Zeiss geklagt hatte, sagte mir mein Stasi-Vernehmer: „Sehen sie, es kommt nicht darauf an, wer Recht hat, sondern wer die Macht hat und die haben wir.“ Der Staat hat Recht außer kraft gesetzt, wenn er es wollte. Denken Sie an die praktizierte Sippenhaft. Weil ich gegen das System aufbegehrte und ausgebürgert wurde, wurde gegen meinen Vater, der bei Carl Zeiss Jena an der Weltraumkamera mitgebaut hatte, die Sippenhaft vollstreckt. Seine Leidenschaft war es, Jugendmannschaften beim Fußballclub aufzubauen. Da haben sie ihn rausgeworfen.

Sie sind Herr über 111 Kilometer Akten. Was sagen Stasi-Akten und was sagen sie nicht?

Jahn: Diese Akten sind Dokumente der Zeitgeschichte, die Denkanstöße geben. Sie dokumentieren das Wirken der Staatssicherheit aus Sicht des Apparats. Wir dürfen die Akten aber nicht eins zu eins nehmen. Sie müssen hinterfragt und eingeordnet werden. So sind sie ein wesentlicher Ausgangspunkt für die Aufarbeitung der Geschichte.

Sie haben zu Versöhnung aufgerufen, aber ist Rache an den ehemaligen Peinigern nicht auch etwas, was man Opfern wie Ihnen zugestehen müsste?

Jahn: Nein, Rache war nie mein Sinnen und ist nicht mein Sinnen. Ich bin eher auf Ausgleich bedacht, habe immer geträumt von einer friedlichen und gerechten Welt. Mein Streben ist es, Versöhnung in dieser Gesellschaft zu ermöglichen.

Die Jahn-Behörde als Versöhnungsbehörde?

Jahn: Wir sind eine Behörde der Aufklärung, die die Grundlage für Versöhnung, für das Heilen von Wunden ist. Aber wir müssen zur Versöhnung diejenigen mitnehmen, die besonders unter der Stasi gelitten haben. Wer früher bei der Stasi war, sollte auf die Empfindungen der Opfer Rücksicht nehmen, wenn er in dieser Gesellschaft seine zweite Chance wahrnehmen will. Versöhnung kann man nicht verordnen, sie setzt voraus, dass sich einstige Täter zu ihrer Verantwortung, zu ihrer Biografie bekennen und wirklich Reue zeigen. Barmherzigkeit führt über den Weg der Erkenntnis. Ich beobachte allerdings eher, dass Legenden gesponnen werden.

Egon Bahr meinte, Ihre Behörde trage Schuld dafür, dass der Stolz von Ostdeutschen verletzt und geduckt wurde.

Jahn: Ich weiß nicht, ob Egon Bahr in den vergangenen zwanzig Jahren etwas verpasst hat. Die Geschichte der Behörde ist eine Erfolgsgeschichte. Wir haben es geschafft, dass Menschen ihre Würde wieder bekommen haben. Wir haben es geschafft, Strukturen und Funktionsweise des Unterdrückungsapparates offen zu legen. Ich glaube, Egon Bahr macht den Fehler, die Stasi mit der DDR gleich zu setzen. Was mich stört ist, dass Bahr für einen Schlussstrich unter die Vergangenheit eintritt. Aber einen Schlussstrich kann und darf es in einer freien und offenen Gesellschaft nicht geben.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die friedliche Revolution in Leipzig begann und nicht etwa in Jena, einem Zentrum der Opposition?

Jahn: (Lacht) Weil ich schon im Westen war. Nein ernsthaft, darüber lohnt es, intensiver nachzudenken. Ich habe jedenfalls allergrößten Respekt vor der historischen Leistung von Zehntausenden Leipzigern. Sie sind mutig auf die Straße gegangen und haben gewaltlos Demokratie eingefordert, als die Staatsmacht noch hätte zuschlagen können. Das wird bleiben.

Wie lange wird es die Rostocker Außenstelle Ihrer Behörde noch geben?

Jahn: Rostock hat eine funktionierende Außenstelle, die bürgernah eine hervorragende Arbeit macht. Die Besonderheit von Rostock war, dass es als „Tor zur Welt“ propagiert wurde. Doch unsere Ausstellungen zeigen, dass dieses Tor nicht für alle offen war. Wie hier bespitzelt worden ist, wie junge Menschen gehindert wurden, als Matrosen anzuheuern, wie aussortiert wurde. Auch wie die Stasi auf die unsichtbare Grenze an der Ostsee eingewirkt hat, wie Fluchtversuche verhindert wurden. Was mir in Rostocker Dokumentationszentrum, dem ehemaligen Stasi-Gefängnis, besonders gefällt ist, dass hier deutlich wird, dass hinter jeder Akte ein menschliches Schicksal steht.

Erleben Sie jetzt angesichts der Freiheitsbestrebungen in Nordafrika und im arabischen Raum ein Déjà Vu?

Jahn: Das wird jedem so gehen, der die Bilder von 1989 noch im Kopf hat. Aber man kann das natürlich nicht gleichsetzen. Vieles dort ist anders. Aber es macht Mut, dass Diktatoren nicht ewig herrschen.

Das Gespräch führte Reinhard Zweigler