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''Als Menschen ein ganzes Leben riskierten''

Heinz Grünhagen wollte am 17. Juni 1953 demonstrieren. Doch er kam nicht weit. Die Stasi nahm ihn fest und organisierte einen Schauprozess gegen den damals 20jährigen. Grünhagen steht stellvertretend für viele der von der DDR-Geheimpolizei hartnäckig verfolgten Demonstranten. Eine Erinnerung von Roland Jahn.

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"An einem Tag wie diesem sind meine Gedanken bei den Akteuren des Aufstandes. An einem Tag wie diesem sind meine Gedanken bei Heinz Grünhagen. Letztes Jahr ist er im Alter von 79 Jahren gestorben. Mit ihm ging ein Stück lebendiger Geschichte des 17. Juni 1953 von uns. Heinz Grünhagen war 20 Jahre jung, im Juni 53. Er war einer jener Menschen, die man als Helden des Volksaufstandes bezeichnen kann. Aber lange, viel zu lange, hat seine Geschichte kaum jemanden interessiert.

Warum war das so? Warum sind Jahrzehnte vergangen, bevor die Helden des 17.Juni 1953 in ganz Deutschland gewürdigt wurden? Warum brauchte es erst einen 50. Jahrestag, bis dieser Tag wirklich als "Volksaufstand" Eingang in die kollektive Erinnerung fand?

In diesen Fragen habe ich meine ganz persönlichen Erfahrungen gemacht, im Osten wie im Westen. Und auch im vereinten Deutschland.

Vor 10 Jahren, zum 50. Jahrestag, bin ich auf die Geschichte von Heinz Grünhagen gestoßen. Die Beschäftigung mit ihm hat mein Verhältnis zu diesem Volksaufstand stark beeinflusst. Seit ich seine Geschichte kenne, seine Geschichte in der DDR, aber auch im vereinten Deutschland, ist mir bewusster, was wir versäumt haben, in der Wertschätzung der Leistung dieser mutigen Männer und Frauen.

1953 ist Heinz Grünhagen ein junger Bauarbeiter in Strausberg bei Berlin. Fleißig und bei den Kollegen beliebt hat er es mit seinen 20 Jahren bereits zum Vorarbeiter geschafft. Er ist verheiratet, seine Frau erwartet das erste Kind. Am Abend des 16. Juni hört er im RIAS, dass Berliner Bauarbeiter zum Sitz der DDR-Regierung ziehen. Dort verlangen sie die Rücknahme der staatlichen Normerhöhung und fordern freie Wahlen.

Heinz Grünhagen ist begeistert von der Aktion. Am nächsten Morgen versammelt er seine Kollegen auf der Baustelle und organisiert einen Streik. Sie fahren zu anderen Baustellen, versuchen weitere Unterstützer zu gewinnen. Derweil rollen sowjetische Panzer in Berlin über die Straßen. Als die Strausberger Bauarbeiter nach Ost-Berlin fahren wollen, scheitern sie an den Straßensperren. Sie kehren um und gehen nach Hause.

In Todesangst ein falsches Geständnis

Doch der 17. Juni ist damit nicht zu Ende. Für Heinz Grünhagen wird er für den Rest seines Lebens eine Last, die er tragen muss.

Noch in der Nacht wird er verhaftet, tagelang verhört. Unter Druck in Todesangst gesteht er, dass er von westlichen Geheimdiensten den Auftrag zur Streikunterstützung erhalten habe. Ein junger Mann wird gebrochen. In einem Schauprozess wird er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. In der Haft wird er isoliert, er muss im Steinbruch arbeiten, dreieinhalb Jahre verbüßt er, dann kommt er frei. Seine Tochter ist da schon drei Jahre alt. Er sieht sie zum ersten Mal. Sie rennt weg vor dem Vater. Das vergisst er nie.

Der 17. Juni wirft einen langen Schatten für die Menschen in der DDR. Menschen wie Heinz Grünhagen gelten offiziell als Verräter. Im Schulunterricht bringt man uns als Schülern bei, dass der Aufstand ein faschistischer Putsch war. Das sozialistische Deutschland sollte in einer schwachen Stunde zum Umsturz gebracht werden, agitieren die Lehrer. Meine Eltern, ohne ein umfassendes Bild von den Umständen des Aufstandes, hatten der Propaganda wenig entgegen zu setzen. Sie sagen: Wer weiß, irgendwas kann schon dran sein, wenn es heißt, es waren faschistische Umtriebe im Spiel.

Unterm Strich zählte für meine Eltern, dass es Unruhen gab. Und nichts scheuten sie mehr als das. Nie wieder Krieg! Für ihre drei Kinder entwickelten sie daraus den Rat: "Haltet euch bloß raus aus der Politik! Das bringt nur Ärger. Und am Ende rollen sonst wieder die Panzer der Sowjets!" Niemand erzählte uns von den Fakten des Aufstandes, von den wahren Motiven der Demonstranten. Der 17. Juni war ein Tabu-Thema in der DDR.

Und Heinz Grünhagen? Er und seine Familie bleiben mit ihrem Schicksal allein. Heinz Grünhagen arbeitet weiter auf dem Bau, aber jede Art von Aufstieg ist ihm verwehrt. Die Stasi umkreist ihn stetig. Einmal Feind, immer Feind.

Die Legende vom faschistischen Putsch

Als ich im Juni 1983 gegen meinen Willen aus der DDR geworfen werde, erlebe ich den 17. Juni erstmals in der Bundesrepublik. Für die meisten ist er einfach ein freier Tag im Frühsommer, ohne politische Bedeutung. Nur für wenige ist er eine ernst gemeinte Erinnerung an die Menschen in der DDR, die ihre Menschenrechte nicht wahrnehmen konnten und können.

Frisch im Westen angekommen lädt mich die gerade erstmals in den Bundestag gewählte Fraktion der Grünen zu einer Gegenveranstaltung ein. Unter dem Beifall von Petra Kelly, Joschka Fischer und Otto Schily spreche ich davon, dass der 17. Juni 1953 in der DDR zwei Gesichter hatte. Es sei schon ein Arbeiteraufstand, aber noch ein "faschistischer Putsch" gewesen.

Ich habe diese Worte vom "faschistischen Putsch" schon mehrmals zutiefst bedauert. Sie waren pure SED-Propaganda. Aber auch in meinem Kopf hatte sich der 17. Juni festgesetzt, als Spielball der Ideologien, nicht als Tag von Menschen, die um Menschenrechte und für die Freiheit kämpften.

Als die deutsche Einheit dann wirklich kam, geriet der 17. Juni weiter in Vergessenheit. Als Feiertag wurde er ganz abgeschafft. Stattdessen wurde ein Tag zum Tag der Deutschen Einheit bestimmt, an dem Politiker ein Papier unterschrieben – kein Tag, an dem das Volk auf die Straße ging.

Heinz Grünhagen fand das unverständlich.

Er verknüpfte mit dem Ende der SED-Herrschaft große Hoffnungen. Er wollte endlich raus aus dem Verlies des angeblichen Verräters, in das der SED-Staat ihn gestoßen hatte. Und er wollte, dass die Öffentlichkeit sein Leiden und das Leiden der vielen anderen Tausend Menschen anerkennt. Menschen, die für ihren Mut im Juni 1953 im Gefängnis landeten oder sogar ihr Leben verloren.

Endlich im Jahre 2003, zum 50. Jahrestag gelingt es Heinz Grünhagen, in seinem Wohnort Strausberg einen Gedenkstein aufstellen zu lassen. Ein halbes Jahrhundert war da bereits vergangen. Eine Straße des 17. Juni in Strausberg, für die er auch immer gekämpft hat, gibt es bis heute nicht.

Im Mittelpunkt standen Menschenrechte

Die Geschichte des 17. Juni ist ein wichtiger Teil für die Geschichtsschreibung unseres einst geteilten Landes. Aber, und das ist mir besonders wichtig, sie ist vor allem die Geschichte von Menschen, die vor uns gehandelt haben, für das, was uns auch heute wichtig ist. Menschenrechte.

Ich habe lange gebraucht, bis ich richtig begriffen habe, was dieser 17. Juni war. Heinz Grünhagen hat mir dabei sehr geholfen. Ich habe einen Menschen getroffen, der Jahrzehnte seines Lebens unter den Folgen des 17. Juni 1953 litt, nur weil er sich für Freiheit und Selbstbestimmung einsetzte.

Und gerade weil wir heute in Freiheit und Selbstbestimmung leben können, ist es unverzichtbar, sich in der Erinnerung zur vergegenwärtigen, wie kostbar diese Güter sind. Der Blick zurück in die Vergangenheit, der Blick zurück auf den 17. Juni 1953 und seine Folgen kann uns helfen, den Wert von Freiheit und Selbstbestimmung besser zu schätzen und zu schützen. Dass Menschen ein ganzes Leben riskierten, um eine bessere Gesellschaft zu erkämpfen, ist uns eine stete Mahnung und Ermutigung.

Danke diese Menschen! Danke Heinz Grünhagen!"

Die Rede hielt Roland Jahn am 10. Juni 2013 anlässlich einer Feierstunde der CDU/CSU-Bundestags-Fraktion zum 17. Juni im Tränenpalast Berlin.

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