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Denen gerecht werden, die ihr Leben an dieser Mauer ließen

Liebe Freunde der Opferverbände, sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
des Abgeordnetenhauses von Berlin, der Bezirksverordnetenversammlung Treptow-Köpenick,
sehr geehrter Staatssekretär Gaebler, sehr geehrter Bürgermeister Igel,
sehr geehrte Damen und Herren,

Es geschah an einem Tag wie heute, es geschah an einem Freitag im August. 177 Schüsse zerreißen an jenem Freitag, dem 7. August 1970, die Stille des Sommerabends. Die Schüsse gelten einem Mann aus West-Berlin.

Gerald Thiem aus Neukölln. Nach einem fröhlichen Kneipenabend mit seinen Arbeitskollegen, ist der 42-jährige auf dem Nachhauseweg. Doch im Wirrwarr einer Baustelle gerät er in die Grenzanlagen der Berliner Mauer. Die DDR-Grenzsoldaten eröffnen das Feuer. 177 Schüsse auf einen wehrlosen Menschen. Gerald Thiem bricht im Kugelhagel zusammen und stirbt. Für die DDR-Grenzer gibt es am nächsten Tag Auszeichnungen.

Und in Neukölln, in der Wohnung von Gerald Thiem, wartet die Familie vergeblich, dass der Ehemann und Vater nach Hause kommt. Nichts wissend meldet seine Frau Gerald Thiem bei den West-Berliner Behörden als vermisst. Und auch in Ost-Berlin stellt die verzweifelte Familie Nachforschungen an. Der Generalstaatsanwalt erklärt, die DDR-Behörden wissen nichts über Gerald Thiem.

Erst 24 Jahre später, 1994, die Mutter ist inzwischen verstorben, erfahren die Töchter vom schlimmen Schicksal ihres Vaters. Und sie erfahren auch, dass der Weg ihres Vaters hier an diesem Ort, hier auf diesem Friedhof sein Ende fand.

Hier im Krematorium Baumschulenweg fand auf Anordnung der Stasi die heimliche Einäscherung des Leichnams von Gerald Thiem statt, und hier auf diesem Friedhof wurde die Asche 6 Wochen nach dem gewaltsamen Tod einfach anonym ausgestreut.

Es war der Zugang zu den Archiven der DDR, insbesondere dem Stasi-Unterlagen-Archiv, der nach Mauerfall und Deutscher Einheit, endlich Aufklärung über die Gewalttaten an der Mauer ermöglichte. Im Stasi-Unterlagen-Archiv fanden sich sogar die Brieftasche mit dem Ausweis von Gerald Thiem und seine Wohnungsschlüssel die er bei sich trug.

Und Gerald Thiem ist kein Einzelfall.
Der DDR-Führung ging es um internationale Reputation, den schönen Schein des Sozialismus, da passten die Todesschüsse an der Mauer nicht ins Bild und mussten verschleiert werden. Über die Toten an der Mauer hatte die Stasi die alleinige Verfügungsgewalt. Die Stasi führte Regie, und viele halfen mit, beim Täuschen und Vertuschen. 

Mitarbeiter der gerichtsmedizinischen Institute, der Krankenhäuser, der Staatsanwaltschaft, der Volkspolizei, der Standesämter, der Bestattungsinstitute, des Krematoriums Baumschulenweg und der Friedhofsverwaltung kooperierten mit der Stasi oder dienten ihr als Instrumente oder sie beteiligten sich an der Fälschung amtlicher Dokumente wie Totenscheinen. "Leichensache unbekannt" hieß es irreführend.

Dutzende von Menschen verschwanden so einfach von der Bildfläche und diejenigen, die über ihr Ende aufklären konnten, taten alles dafür, das Dunkel undurchdringbar zu machen. Die Unmenschlichkeit eines Todesschuss an der Mauer wurde so um ein vielfaches potenziert.

Was hieß es für die Angehörigen, nicht zu wissen, ob und wie ihr Vater oder Bruder oder Sohn verstarb? Dass er einfach so verschwand? Aus Tagen und Monaten der Ungewissheit wurden Jahre und Jahrzehnte der Leere, der Suche, des Zweifelns.

Es blieb für immer ein Schatten auf den Leben derjenigen, die nie eine Antwort bekamen auf die letzten Momente im Leben ihrer Liebsten. Das Schweigekartell der Verantwortlichen wirkt bis heute.

Bis heute konnte das spurlose Verschwinden der Leichname von sechs Menschen nicht aufgeklärt werden. Und darum ist es auch wichtig, dass wir heute an dieser Stelle, auf dem Friedhof Baumschulenweg an der mit großer Wahrscheinlichkeit etliche der Berliner Mauertoten eine letzte Ruhestätte fanden, auch dieser sechs Menschen erinnern.

Wir denken an Johannes Musiol, Roland Hoff, Siegfried Nofke, Dieter Beilig, Silvio Broksch und Michael Bittner.

Es waren vor allen Menschen die von einer besseren Welt träumten, die die Bevormundung in der DDR satt hatten. Sie wollten einfach nur ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit führen und suchten einen Weg in den Westen der Stadt. Doch sie bezahlten ihre Sehnsucht nach Freiheit mit ihrem Leben.

Sehr geehrte Damen und Herren,
morgen, am 13.August jährt sich der Tag des Mauerbaus zum 55. Mal. Der 13.August 1961 war eine Bankrotterklärung der SED-Führung. Der Mauerbau war ein Eingeständnis der Machthaber, dass sie die Existenz der DDR, dass sie den Sozialismus nur mit Mauer und Schießbefehl sichern können. Und nicht mal das haben die DDR-Funktionäre geschafft.

Wir können heute dankbar sein und uns auch freuen. Die Friedliche Revolution in der DDR brachte das SED-Regime und die Berliner Mauer zu Fall. Doch es ist hilfreich zu wissen, die Mauer und ihre schrecklichen Folgen waren kein Naturereignis. Sie waren von Menschen gemacht.

Deshalb sind wir es den nächsten Generationen schuldig, ihnen die Möglichkeit zu geben, zu erfahren, wozu Menschen fähig sind, und zu erkunden, warum sie anderen Menschen Leid antun.

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Igel, ich danke Ihnen und Ihrem Stadtbezirk Treptow-Köpenick. Mit Ihrer Initiative für eine Gedenktafel gerade hier an diesem Ort leisten Sie einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung und zur Erinnerung.

Erinnerung an die Toten an der Berliner Mauer.

Erinnerung aber auch an das Täuschen und Vertuschen, welches hier auf dem Friedhof Baumschulenweg stattgefunden hat.

Erinnerung auch, um den Nachgeborenen die Möglichkeit zu geben, zu begreifen warum in einer Diktatur so viele Menschen mitmachen oder duldsam schweigen.

So können wir vielleicht die Chancen erhöhen, dass es nie wieder geschieht. Und denen gerecht werden, die ihr Leben an dieser Mauer ließen.