Direkt zum Seiteninhalt springen

Diktatur begreifen – Demokratie gestalten

Warum ist es immer noch wichtig, in die Unterlagen der Staatssicherheit zu schauen? Diese Frage höre ich häufig. Sie sicher auch. Wie lange müssen wir uns denn noch mit diesen Stasi-Akten beschäftigen? Eine gewisse Ungeduld liegt in der Luft. Braucht man überhaupt noch Landesbeauftragte? Es ist doch alles schon so lange her.

Es sind konkrete Geschichten, die eine Antwort geben. Diese hier spielt in Sachsen-Anhalt. Sie beginnt im Jahre 1985. Da wurde ein unbescholtener DDR-Bürger in Halle für ein angebliches Wirtschafts-Verbrechen verurteilt. Michael Will aus Naumburg war damals Mitte 40, er war verheiratet, hatte drei Söhne. Nur eine Parteimitgliedschaft hatte er nicht. Dem Eintritt in die SED hatte er sich stets verweigert. Und deshalb taugte er zum Sündenbock. Irgendjemand musste für die Nichterfüllung von Planvorgaben herhalten. Man guckte sich Michael Will aus.

Unterschlagung hängte man ihm an. "Versuchter verbrecherischer Betrug zum Nachteil sozialistischen Eigentums" hieß das Delikt – die Stasi lieferte die fingierten Beweise. Das Urteil: Drei Jahre Gefängnis, 15.000 Mark Geldstrafe.

Auch Jahre später, lange nach dem Ende der DDR, hatten es seine Söhne nicht verwunden, dass ihr Vater im Gefängnis saß. Die Erinnerung an die Ausgrenzung der Familie. Die Zeit, die der Vater im Gefängnis verbrachte. Der schweigsame und gebrochene Mann, der danach in die Familie zurückkehrte. Ein dunkler Fleck, der bis vor kurzem, bis zum 24. Oktober 2012 anhielt.

An jenem Tag im Herbst letzten Jahres nämlich hat ein bundesdeutsches Gericht Michael will rehabilitiert. Es hat die angebliche Tat, die Verurteilung, die Gefängniszeit als ausschließlich politische Strafmaßnahme gewertet. Im Wesentlichen stützte sich der Richter dabei auf Stasi-Unterlagen. Sie dokumentierten die politische Entscheidung, einen unschuldigen Mann in Haft zu nehmen.

Es waren die Söhne, die den resignierten Vater 2010 doch noch dazu brachten, nach Beweisen für das Unrecht in den Akten zu suchen. Doch die Rehabilitierung erlebte Michael Will nicht mehr. Er verstarb 12 Tage vor der Urteilsverkündung. Für seine Söhne war der Tag der Rehabilitierung ein unglaublich wichtiger und schöner Tag. Der dunkle Fleck über der Familiengeschichte ist nun hell erleuchtet.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit – sie ist wichtig für die Opfer, aber sie kann auch wichtig sein für die nächste Generation. Denn das Gift der Stasi, die Repression der SED-Diktatur, sie wirken lange fort, hinein in die nächste Generation.

Wie hat sie funktioniert, diese Diktatur? Die Stasi-Akten sind ein beredtes Zeugnis der SED-Diktatur. Sie zeigen das Wirken der Geheimpolizei und nicht nur das. Sie zeugen davon, wie Menschen das Selbstbestimmungsrecht genommen wurde. Wie ihnen ein Teil ihrer Biografie gestohlen wurde. Hinter jeder Akte steckt ein menschliches Schicksal. Das wissen im Besonderen die Landesbeauftragten. In ihrer täglichen Arbeit bei der Beratung und Betreuung von Opfern erfahren sie von den Sorgen und Nöten der Menschen.

Die Landesbeauftragten und ihre Mitarbeiter sorgen für konkrete Hilfe für die Betroffenen und mit Respekt vor dem geschehenen Unrecht auch für ihre gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung. Sie helfen besonders denen, die nach der erlebten Repression auch nach langer Zeit nur mühsam auf die Füße kommen. Und deshalb, und nicht nur deshalb, brauchen wir die Landesbeauftragten auch weiter. Gerade die Arbeit in den Ländern, in der Region, nah an den Menschen und ihren Erfahrungen, an ihren konkreten Befindlichkeiten und Bedürfnissen, ist besonders wichtig.

Die bisher geleistete Arbeit der Landesbeauftragten, die Opferberatung, Veranstaltungen, Ausstellungen, Forschung und Publikationen, und auch die Kooperation mit Gedenkstätten und Unterstützung gesellschaftlicher Initiativen und Vereine macht deutlich: Die Landesbeauftragten sind tragende Säulen der Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Auch die Außenstellen der Stasi-Unterlagen-Behörde unterstützen die Aufarbeitung der SED-Diktatur in der Region, aber sie sollen und können die Landesbeauftragten nicht ersetzen und sie dürfen nicht in Konkurrenz treten, weder zu Landesbeauftragten noch zu gesellschaftlichen Initiativen. Wichtig ist, dass alle gut zusammenarbeiten, das heißt Kooperation und Arbeitsteilung gut absprechen. Für unsere Behörde heißt das im speziellen, die Arbeit mit den Stasi-Unterlagen in den Mittelpunkt unserer Tätigkeit zu stellen.

Schon 21 Jahre gibt es sie, die Einsicht in die Stasi-Akten. Fast zwei Millionen Menschen haben Anträge auf persönliche Akteneinsicht gestellt. Zwei Drittel davon in den Außenstellen der östlichen Bundesländer. Tausende von Opfern haben so ein Stück ihrer Biografie zurückbekommen, das ihnen die Stasi gestohlen hatte.

Zu Unrecht Verurteilte haben Rehabilitierung erfahren. Freunde den Verdacht gegen den Nachbarn ausräumen können. Andere haben erkennen müssen, dass ein Arbeitskollege tatsächlich als Spitzel der Stasi zu ihrem Karriereknick beigetragen hat. Vieles war erschreckend, aber immer hat das Wissen um das, was war, Klarheit gebracht. Klarheit, die hilft, gefestigt durchs Leben zu gehen.

Auch Medien und Forschung haben zig-tausendfach Zugang zu den Akten erhalten und über das Wirken der Geheimpolizei aufklären können. Die jüngsten Berichte über fragwürdige Pharmatests an DDR-Patienten oder die Häftlingsarbeit für westliche Firmen sind lebhafter Beleg dafür, dass die Gesellschaft noch immer viel erfahren kann aus den Stasi-Akten. Auch hier tragen die Landesbeauftragten konkret in der Region zur weiteren Aufklärung bei.
Es ist gut, dass die Konferenz der Landesbeauftragten ein klares Zeichen gesetzt hat und weitere Forschungen unterstützen will. Wissen was war, wem Unrecht widerfahren ist und wer gehandelt hat - das hilft Gerechtigkeit zu schaffen.

So wohl organisiert der Machtapparat auch war, es waren Menschen, die in den Strukturen gehandelt haben. Die Akten sind Zeugnisse des Handelns von Menschen. Zeugnisse des Verrats, des Opportunismus, des Karrierismus. Sie dokumentieren die Unterwerfung der Menschlichkeit unter die Ideologie.

Menschen haben für den Staat gehandelt. Sie haben sich den Regeln unterworfen, als Hauptamtliche der Stasi, als inoffizielle Mitarbeiter, aber auch als SED-Parteifunktionäre, als Handlanger in allen Funktionen des öffentlichen Lebens, von der Volksbildung bis in den volkseigenen Betrieb.

Der Alltag in der Diktatur hat viele Facetten. Es geht nicht nur um die Stasi. Das heißt: Aufarbeitung darf sich nicht reduzieren auf das Wirken der Geheimpolizei. In der DDR gab es keine Stasi-Diktatur, sondern eine SED-Diktatur, eine kommunistische Diktatur. Das sollten wir immer wieder betonen.

Die Länder Brandenburg und Thüringen haben ein ein Zeichen gesetzt und dies auch im Titel ihrer Landesbeauftragten deutlich gemacht. Auch für die anderen Länder würde ich mir das wünschen, dass die Landesbeauftragten die Aufarbeitung der SED-Diktatur, der kommunistischen Diktatur auch im Namen tragen, so auch in Sachsen-Anhalt.

Die SED-Diktatur aufzuarbeiten heißt, in der Gegenwart auch für jeden Einzelnen mit dieser Vergangenheit umgehen. Vergessen oder verdrängen befreit nicht von der eigenen Verantwortung, egal wie lange es her ist.

Ich vermisse oft das Bekenntnis zur Biografie. Bei den Funktionären, aber auch bei den Mitläufern. Ich vermisse das Bekenntnis zur Verantwortung und das Hinterfragen des eigenen Handelns. Was ich stattdessen erlebe, ist vielfach Rechtfertigung und die Beschönigung der Verhältnisse in der DDR. Oder auch das Abtauchen in das neue Leben, so als ob nichts gewesen ist.

Wo sind sie hin, zum Beispiel die Stasi-Vernehmer, die Menschenrechte mit Füßen traten? Der eine hat sich als Rechtsanwalt niedergelassen. Der andere ist Wachleiter der Brandenburger Polizei geworden. Ein Dritter wurde Manager einer Markthalle in Berlin-Kreuzberg. Gefangenendrangsalierung, erpresste Geständnisse, Mitverantwortung für einen Tod in der U-Haft. Alle drei Ex-Stasi-Offiziere reden bis heute nicht offen über das, was geschehen ist.

Die Täter der Diktatur, sie sind mitten unter uns. Und das ist auch gut so. Ich bin froh, dass ich in einer Demokratie, in einem Rechtsstaat lebe, der das möglich macht. Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie gelten für alle. Für die, die Diktatur bekämpft haben, für die, die sich angepasst haben und auch für die Täter des Unrechtsstaates.

Das ist der Vorteil des Rechtsstaates. Jeder soll eine faire Chance bekommen, jeder der bereit ist, sich seiner Verantwortung zu stellen. Und das setzt voraus, sich damit auseinanderzusetzen, wie es dazu kam, dass Menschenrechte verletzt wurden. Überhaupt anzuerkennen, dass Menschenrechte verletzt wurden. Und sich fragen welchen Anteil man daran hatte.

Doch das tun eben nur wenige. Dabei kann der kritische Blick auf die eigene Biografie für jeden Einzelnen auch eine Chance sein. Ob privat, im Beruf oder auch in der Politik. Eine selbstkritische Reflexion kann auch befreien von der Last des damaligen Verhaltens.

Dass das möglich ist, heißt für uns alle, auch den Rahmen dafür zu schaffen. Nicht gleich die Leute aburteilen und verdammen, sondern zuhören, und genau hinschauen.

Seit wir vor über 20 Jahren begonnen haben, mit Hilfe der Akten die zweite deutsche Diktatur aufzuarbeiten, hat die öffentliche Diskussion um die Stasi oft ein klares Drehbuch. Um es mit Hoffmann von Fallersleben zu sagen:
"Der größte Schuft im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant." Den persönlichen Verrat der vielen inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi öffentlich zu machen, diesen besonders perfiden Vertrauensbruch ans Licht zu zerren, das hat die Betrachtung der Stasi vielfach bestimmt.

Jemandem mit Hilfe der Akten nachzuweisen, dass er bei der Stasi war, dass er inoffizieller Mitarbeiter war, ein IM, das war die Story. "Der war ein IM, also ein Schuft" – Ende der Geschichte. Aber - das reicht nicht.

Was genau heißt dieser Verrat? Was waren die Umstände? Warum ist jemand jahrelang zu seinem Führungsoffizier gegangen und hat über seine Mitmenschen erzählt?

IM ist nicht gleich IM. Die Umstände zu erkennen, unter denen jemand zum Verräter wird, sind bedeutsam. Sie bieten Erkenntnisfortschritt. Wobei wir trotzdem beachten müssen: egal wie weniger schlimm oder verstehbar die Spitzelei war, immer waren die Konsequenzen des Ausplauderns bei der Geheimpolizei nicht abzuschätzen. Die Berichte waren Teil der Maschine, die Menschen verfolgte und Menschen Leid zufügte. Der Pakt mit der Stasi war immer eine Stütze des Unterdrückungsapparates.

"Der war Spitzel" - da fängt die Geschichte eigentlich erst an. Es geht um das Funktionieren des ganzen Systems. Erkennen, wie es war, wie die Diktatur funktioniert hat, das hilft Demokratie hier und heute zu gestalten.
Und: Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten.

Es ist gut, wenn wir unsere Gesellschaft einer Prüfung im Spiegel der Diktatur unterziehen. Das schärft die demokratischen Sinne. Aufklärung hat kein Verfallsdatum.

Aufklärung ist der beste Weg, einen gesellschaftlichen Diskurs zu führen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und in diesem Diskurs spielen auch die Landesbeauftragten eine wichtige Rolle. Wer Unfreiheit klar vor Augen hat, kann Gefahren für die Freiheit besser erkennen. Wer den Unrechtsstaat aufarbeitet, kann den Rechtsstaat besser schützen.

Darum ist die Zeit der Akten nicht vorbei. Sie sind uns Mahnung für das Heute. Die Erfahrungen der Vergangenheit sind ein Maßstab, an dem wir auch Verstöße in der Demokratie messen können. Sie stellen klar, wo der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie ist.

Diese Chance zu nutzen – dazu lade ich Sie alle ein. Lassen Sie uns gemeinsam mit all unseren Ressourcen unserer Demokratie ein Angebot machen. Das Angebot, bestmöglich immer wieder die Lehren aus der Diktatur zu ziehen. Diese Chance sollten wir uns alle nicht entgehen lassen.