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"Einfach abstreifen kann man das nicht, das gelebte Leben in der DDR"

Sehr geehrte Damen und Herren,

Einheit und Freiheit sind umso kostbarer, wenn wir uns vor Augen halten, was deutsche Teilung und Unfreiheit im Osten wirklich für die Menschen bedeutet haben. Einheit und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeit.

Für meine Generation sind die Erinnerungen noch greifbar. Es sind unsere eigenen Erfahrungen. Es sind unsere Erlebnisse, an die jeder von uns sich, egal ob in Ost oder in West, ein Leben lang erinnern kann. Doch für die Jüngeren sind es Geschichten aus einer anderen Zeit, wie aus einem fremden Land. Gerade am Beispiel der Diktatur können wir besonders gut erkennen, was Unfreiheit bedeutet und wann Freiheit heute in Gefahr ist und können daraus immer wieder Leitlinien und Maßstäbe für unsere Demokratie entwickeln. Wir können nicht selbstverständlich von den nächsten Generationen verlangen, dass sie Einheit und Freiheit den gleichen Stellenwert beimessen wie wir es tun. Aber wir können ihnen von dem erzählen was damals passiert ist. Wir können Ihnen zeigen, wie es war. Wie Menschen in Deutschland in Unfreiheit lebten.

Was hat es bedeutet, dass ein ganzes Volk eingemauert war; dass die Freiheit der Reise, der Meinung, der Versammlung unterdrückt war? Und wie hat sich das im Alltag gezeigt? Und in welchen Situationen haben sich Menschen wie entschieden? "Ist es verwerflich, dass mein Opa die DDR-Fahne an seinem Haus aufgehängt hatte, nur weil er wollte, dass meine Mutter studieren durfte?" Das hat mich zum Beispiel eine Erfurter Schülerin gefragt. Ich war überrascht und beeindruckt. Mit ihren 16 Jahren hatte sie genau den Finger auf die Wunde gelegt.

War das verwerflich? Was sagen Sie? Was ist noch okay, in der Anpassung an die Verhältnisse? Wo ist Schluss? Wo geht man zu weit Einfache Wahrheiten gibt es nicht. Mitmachen oder verweigern, anpassen oder widersprechen. Das sind Fragen vor denen viele von uns in der DDR fast täglich standen. Ich erinnere mich an den November 1976. Ich war Student der Wirtschaftswissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Im Seminar  "Wissenschaftlicher Kommunismus" übte ich Kritik an der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann, die kurz zuvor erfolgt war. Was ich nicht wusste, der Seminarleiter war Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Er erstattete Bericht.

Die Folge: Gegen mich begann ein Kesseltreiben betrieben von SED-Funktionären und Staatssicherheit. Die Universitätsleitung beschloss, mich auf Grund meiner Meinungsäußerung wegen "Gröblicher Verletzung der Studiendisziplin" zu exmatrikulieren. Damit dieser Akt demokratisch legitimiert erscheint wurde eine Abstimmung in der Seminargruppe anberaumt. Am Abend vor der Abstimmung saß ich mit meinen Freunden aus dem Seminar in einer Kneipe. Wir tranken Bier und diskutierten. Sie klopften mir auf die Schulter und sagten: "Roland das wird schon. Roland wir stehen zu dir." Am nächsten Tag, keine 20 Stunden später, dann die Abstimmung. Das Ergebnis: 13:1 - gegen mich.

Das Ende meines Studiums war besiegelt. Nach der Abstimmung kamen meine Kommilitonen einzeln zu mir. "Du musst verstehen, Roland, meine Frau bekommt ihr zweites Kind. Ich kann nichts riskieren." Sagte einer. "Es tut mir leid, aber mein Vater ist in herausgehobener Position. Ich kann ihn doch nicht gefährden." Sagte ein anderer. Erklärungen. Ausflüchte. Rechtfertigungen. Ich habe sie alle verstanden. Denn ich wusste Bescheid.

Auch ich hatte mich ja jahrelang in vielen Situationen angepasst an die Vorgaben des SED-Staates. Auch ich war mal ein Rädchen was sich drehte im Mechanismus der Diktatur. "Seid bereit - immer bereit"- So begrüßte auch ich im Chor der Thälmann-Pioniere die Lehrer. Ich erinnere mich wie ich in der 8. Klasse am 1. Mai 1968 im Blau-Hemd der Freien Deutschen Jugend mit marschierte an der Ehrentribüne der SED-Kreisleitung Jena vorbei. Ich machte mir keine Gedanken über das für und wider. Der Grundwehrdienst war Pflicht, und so leistete ich ihn ab bei der Bereitschaftspolizei in Rudolstadt.

Nicht freiwillig, aber ich war dabei. Stationen eines typischen DDR-Kindes, in den vorgeschriebenen Bahnen. Ich wollte dabei sein, nicht ausgegrenzt sein. Ich wollte ein glückliches Leben führen in Schule und Familie. Und so nahm ich auch Rücksicht auf die Menschen, die mir lieb sind im Leben.
Zum Beispiel auf meinen Vater. Im VEB Carl Zeiss Jena hatte er als Ingenieur an der Entwicklung der Weltraumkamera mitgearbeitet, mit der Siegmund Jähn, der gefeierte DDR-Kosmonaut, ins All flog. Mein Vater machte mir öfter deutlich, dass er Schwierigkeiten im Betrieb bekommt, wenn ich in der Schule oder später an der Uni widerspreche. Er habe mit seiner Hände Arbeit, ohne SED-Mitgliedschaft, seine berufliche Existenz geschaffen. Das solle ich doch nicht gefährden, für ein kleines Stück Meinungsfreiheit. Es gehe schließlich um das Glück der ganzen Familie. Und so habe ich manches Mal den Mund gehalten, statt meine Meinung offen zu sagen.

Widersprechen, nein sagen, das war eben nicht einfach in der DDR. Man konnte nicht berechnen, was das für Folgen hatte, Folgen für einen selbst, Folgen für die Familie. Willkür, Sippenverfolgung, ein System der Angst. Dem konnte man sich nicht einfach entziehen. Selbst wenn man jung und leicht rebellisch war. Anpassen oder widersprechen. Fast täglich musste ich mich entscheiden. Mitmachen oder verweigern. Wer verhält sich wie in welcher Situation?

Was ist mit dem jungen Abiturienten, der eingezogen wurde zum Wehrdienst, befehligt zu den Grenztruppen an der Staatsgrenze West Arzt wollte er später werden, wie sein Vater. Hätte er den Wehrdienst verweigern sollen? Verweigern und damit sein Medizinstudium verspielen. Die Karriere seines Vaters gefährden? Es wird schon nicht so schlimm werden, die Zeit als Grenzsoldat, das war die Hoffnung.

Und es ist gut gegangen, das war die Bestätigung für den gegangenen Weg. Glück gehabt. Kein Flüchtling hatte sich den Grenzabschnitt ausgesucht, in dem der Abiturient Posten stand. Seine Bereitschaft zum Schießen, seine Bereitschaft zum Töten, sie wurde im Ernstfall nicht geprüft. Den Ernstfall haben hunderte andere erfahren, den Ernstfall, dass ein Flüchtling und ein Grenzsoldat aufeinandertrafen. Der eine hat geschossen, der andere war am Ende tot. Reicht es, zu hoffen, dass der Flüchtling einen anderen Weg geht? Reicht es, zu hoffen, dass der Zufall an einem vorbeigeht?

Jeder trägt die individuelle Verantwortung für sein Handeln, wie und an welcher Stelle er sich mit einem Unrechtssystem einlässt. Selbst wenn es die Norm ist, scheinbar Pflicht, und wenn viele es tun. Warum haben so viele mitgemacht? Warum haben sich so viele Menschen angepasst? Warum hat das System der Diktatur solange funktioniert? Wir sind den nächsten Generationen in ganz Deutschland bis heute viele Antworten schuldig geblieben. Es ist wichtig, weiter Antworten zu suchen.

Warum sind Menschen zum Töten bereit, nur weil ein Regime das Verlassen des Landes zu einem kriminellen Akt erklärt und diejenigen, die es dennoch tun, zum Abschuss frei gibt? Warum sind Menschen bereit zu töten im Namen einer Ideologie? Es geht nicht um Abrechnung. Es geht um Aufklärung. Um Aufklärung darüber wer, wie, warum gehandelt hat, und welche Folgen das für andere Menschen hatte.

Ich vermisse das Bekenntnis zur Biografie. Ich vermisse die Übernahme individueller Verantwortung, ich vermisse die Bitte um Entschuldigung. Was ich erlebe, ist vielfach Rechtfertigung und Beschönigung der Verhältnisse in der DDR. Die Auseinandersetzung mit dem Verhalten der Menschen in den Zwängen und Spielräumen der Diktatur ist bei der Aufarbeitung der DDR bisher viel zu kurz gekommen. Dabei kann der kritische Blick auf die eigene Biografie für jeden Einzelnen auch eine Chance sein. Ob privat, im Beruf oder auch in der Politik. Eine selbstkritische Reflexion kann befreien von der Last des damaligen Verhaltens.

Und was ist mit denjenigen, die das System der Angst betrieben haben? Was ist mit den hauptamtlichen Mitarbeiter der Stasi und den SED-Funktionären, den Auftraggebern? Auch diejenigen, die mittendrin wirkten, im Staats- und Parteiapparat, auch die sollen ihre Chance in der neuen Gesellschaft bekommen. Aber nicht ohne Bedingungen. Aufklärung und glaubhafte Reue sind Voraussetzung dafür. Barmherzigkeit führt nur über den bitteren Weg der Erkenntnis. Es geht um die Aufarbeitung der Vergangenheit, damit wir gemeinsam besser Zukunft gestalten können.

Und dabei geht es nicht nur um die ostdeutsche Vergangenheit, sondern um Aufarbeitung gesamtdeutscher Geschichte. Mir wird in Deutschland oft noch zu sehr in Ost-West-Gegensätzen gedacht, geredet und außerdem noch mit Wertungen für Menschen verknüpft. Natürlich waren die Lebenserfahrungen in der Generation, die die deutsche Teilung bewusst erlebt hat, in Ost und West sehr unterschiedlich. Und das soll auch immer wieder beschrieben werden. Aber Pauschalurteile über Menschen helfen dabei nicht.

"Den Ostdeutschen" oder "den Westdeutschen" gab und gibt es nicht. Jeder Einzelne, auch hier in Sachsen, hat seine spezifischen Erfahrungen mit dem Leben vor 1989 gemacht. Durchaus in Gegensätzen. Der SED-Funktionär im Gegensatz zum kritischen Pfarrer. Der privilegierte Staatsschriftsteller im Gegensatz zum Arbeiter im Volkseigenen Betrieb, der Stasi-Offizier im Gegensatz zum politischen Häftling. Das alles sind unterschiedliche Lebenserfahrungen in der DDR, die nicht mit dem Begriff Ostler pauschalisiert werden sollten.  Es ist wichtig, genau hinzuschauen. Jeder der genannten hat seine besondere, eigene Biografie in die deutsche Einheit eingebracht.

Bis heute stellen mir Journalisten gern die Frage, was ich denn als "Ostler" über dieses oder jenes denke. Oder, bei Gesprächen über das Stasi-Unterlagen-Archiv, ob denn die Stasi-Akten nicht von den "Westlern" dazu benutzt würden, den Osten kleinlaut zu halten. Eigentlich will ich darauf nie wirklich antworten. Ich kenne "den Ostler" nicht und "den Westler" der den Osten kleinlaut halten will auch nicht. Das ist mir ein fremder Gedanke, zu viel Klischee. Ich bin in Jena geboren und aufgewachsen. Und als mich die Stasi in den Westen beförderte, habe ich noch für einen kleinen Moment versucht, die Aushändigung eines Passes der Bundesrepublik Deutschland hinauszuzögern.

Das war ein Protest gegen den Staat DDR, der mich meiner Heimat beraubt hatte und mir ein neues Zuhause aufzwang. Ich wollte diese neue bundesdeutsche Staatsbürgerschaft nicht, weil ich sie nicht gewählt hatte. Mir ging es nicht um die DDR, um den Osten, mir ging es um Heimat, um die Stadt und die Landschaft, und vor allem um die Menschen, um Freunde und Familie. Die Freiheit des Westens war für mich nur die halbe Freiheit, weil mir die Heimat gestohlen wurde. Ich habe mich in Berlin niedergelassen, im West-Teil der Stadt. Und da war ich West-Berliner. Eine ganz spezielle Gattung des Bundesbürgers.

Ich lebte sechs Jahre in einer Stadt, in der es nur eine Himmelsrichtung gab. Wohin man auch schaute, überall war Osten. Doch die meisten West-Berliner sahen nicht richtig hin. Wir waren eine kleine Gruppe, die auf der westlichen Insel mitten in der DDR versuchte, eine Brücke der Kommunikation zwischen beiden Teilen der Stadt zu schlagen. Damals fühlten wir uns eher belächelt, bemitleidet oder auch angefeindet. Denn vielen Menschen im Westen Deutschlands war die DDR ziemlich egal. Nicht wenige derjenigen, die sich als "progressiv" verstanden, wollten zudem die DDR gar nicht genau wahrnehmen.

Menschenrechtsverletzungen hin oder her, wer die DDR deswegen kritisierte oder gar Ost- und Westdeutschland als ein Land begriff, galt als Kalter Krieger, als Revanchist oder Kommunistenhasser. Auf der offiziellen Bühne stellten sich die meisten Politiker gut mit der Parteiführung der SED, die die DDR fest im Griff hatte. Entspannungspolitik. Pragmatismus. Wirtschaftsinteressen waren angesagt. Die, die in diesem Kontext an die eingesperrten politischen Häftlinge, die Verhinderung der Meinungs- und Reisefreiheit, an die unterdrückte Opposition erinnerten, galten im offiziellen Polit-Diskurs schnell als Störenfriede. Dabei war es egal, wo die Kritiker aufgewachsen waren, ob im Osten oder Westen. Es ging eben nicht um Herkunft, sondern um Haltung.

Ostler oder Westler. Ich war keines von beiden und doch beides zugleich. Ich lebte die deutsche Einheit, als die Mauer noch stand. Ich war ein Jenenser, der in Berlin-Kreuzberg ein neues Zuhause fand. Als die Mauer endlich fiel, konnte ich ganz ausleben, was ich war: Deutscher und gern auch Europäer. Vielleicht war es für mich einfacher, mich nicht von der DDR definieren zu lassen, weil ich meine Auseinandersetzung mit dem Land bereits zu den Zeiten begonnen habe, als es die DDR noch gab. In den sechs Jahren in West-Berlin habe ich zudem viele Erfahrungen mit dem Leben im Westen machen können. Die Vereinigung war da kein Einsturz meines Lebensgefüges. Dennoch. Es ist immer noch ein Thema im Leben vieler Menschen, die in der DDR gelebt haben und die von ihr geprägt wurden.

Vor einiger Zeit habe ich in einer Wochenzeitung einen langen Artikel über die psychischen Langzeitfolgen der Vereinigung für viele Ostdeutsche gelesen. Für manche der Befragten einer Langzeitstudie galt sogar, dass sie sich umso ostdeutscher fühlten, je länger die DDR vorbei ist. "Die Sozialisation eines Menschen kann man nicht ablegen wie ein Hemd. Die Unterschiede übertragen sich über Generationen. Die behauptete Angleichung an den Westen mag manche Äußerlichkeit betreffen, nicht aber den psychosozialen Zustand der Menschen."

So analysiert der Hallenser Therapeut und Buchautor Jochen Maaz in dem Artikel den Zustand 22 Jahre danach. Verleugnen hilft nicht. Ich glaube, dass es sogar ganz hilfreich sein kann, sein Leben ganz bewusst auf den Erfahrungen aufzubauen, die man in der DDR gemacht hat. Denn Erlebnisse im Guten wie im Schlechten haben uns geprägt. Erinnern und offen darüber sprechen, das hilft Kraft daraus zu schöpfen. Einfach abstreifen kann man das nicht, das gelebte Leben in der DDR. Schon gar nicht, wenn man sich klar macht, dass die DDR als Diktatur 40 Jahre lang funktioniert hat.

Die DDR hat ihre Bürger unfrei gehalten, sie zur Anpassung angehalten und Widersprechen bestraft. Das hat die Gesellschaft verändert. Tiefgreifend, lang anhaltend, mit Folgen auch für unser jetziges Miteinander. So habe ich es erfahren. Die Praxis und das Prinzip der Abgrenzung haben die Menschen nicht nur im Handeln sondern auch im Denken beschränkt. Sich das einzugestehen, ist schmerzhaft, aber auch befreiend. Denn das Überwinden dieser Schranken heißt Ankommen in der Freiheit.

Im heutigen Deutschland so angekommen zu sein, ist eine Lebensleistung, die viel zu wenig anerkannt wird. Freiheit musste gelernt werden, sie war nicht einfach da. Das haben viele im anderen Teil Deutschlands nur bedingt verstanden. Anzukommen in einer weit offenen Gesellschaft, in der jeder Gedanke sein darf und die die Selbstbestimmung in alle Richtungen möglich macht, ist eine große Herausforderung. Frei zu sein im Denken. Frei zu sein, jede Meinung zu äußern. Frei zu sein, sein Leben so zu gestalten, wie man es will. Das kann auch eine Last sein. Man kann sogar Angst vor zu viel Freiheit haben. Es ist ein Lernprozess mit der Fülle der Möglichkeiten umzugehen, mit dem Risiko der falschen Entscheidung zu leben. Das ist anstrengend, aber für mich war das eindeutig besser, als bevormundet zu werden.

Freiheit ist ein ständiger Prozess. Freiheit heißt auch, alte Denkmuster, die einem verordnet werden oder die man sich im Leben selber auferlegt, aufbrechen zu können, ganz unabhängig davon, in welcher Gesellschaft man lebt. Das Verdrängen der Vergangenheit kann Probleme nicht lösen. Vielmehr hilft ein bewusstes Bekenntnis zur Biografie, Lebenskraft zu schöpfen, um neue Wege zu gehen. Jeder hat die Chance, etwas Positives in die Deutsche Einheit einzubringen, auf das er stolz sein kann.

Der SED-Funktionär aus dem Beispiel vorhin könnte stolz darauf sein, dass er eingestanden hat, die falsche Politik gemacht zu haben. Der Pfarrer könnte auf seinen aufrechten Gang stolz sein, der Arbeiter auf seine handwerklichen Fähigkeiten. Der Schriftsteller könnte stolz sein auf seine Bücher und der Stasi-Offizier auf die Bitte um Entschuldigung für das begangene Unrecht. Der politische Häftling schließlich darauf, dass er auf dem Weg zur Friedlichen Revolution nicht zerbrochen ist. Ja, es muss immer wieder betont werden. Die deutsche Einheit ist kein Geschenk des Himmels gewesen, sondern es war ein Akt der Selbstbefreiung der Menschen.

Es waren Bürger der DDR, die die Selbstbefreiung von der Diktatur als ein Geschenk an die gemeinsame Zukunft Deutschlands in die Vereinigung eingebracht haben. Viel zu oft geht diese großartige historische Leistung von Deutschen im Lamentieren über die Schwierigkeiten des Vereinigungsprozesses unter. Jeder Einzelne, der ausgebrochen ist, aus dem System der Anpassung, verdient eine besondere Anerkennung. Dass so viele Menschen es geschafft haben, ihre Angst zu überwinden, das war die Grundlage für die Friedliche Revolution.

Menschen im Osten Deutschlands haben mit ihrem Handeln den Mauerfall bewirkt und damit die Deutsche Einheit möglich gemacht. Und noch etwas hat diese Friedliche Revolution möglich gemacht. Mutige Bürger haben etwas geschafft, das damals weltweit einmalig war. Sie haben die Unterlagen des zentralen Instruments der Diktatur, der Geheimpolizei Staatssicherheit, für die Aufarbeitung gesichert. Sie haben der untergehenden DDR, aber auch dem vereinten Deutschland abgetrotzt, in die Akten schauen zu dürfen, die über die Bürger angelegt wurden.

"Jedem seine Akte – Freiheit für meine Akte." so lautete die Lösung in der Friedlichen Revolution. Weltweit erstmalig ist seither der Zugang zu den Geheimpolizei-Akten eines Staates für jedermann möglich. Unter Beachtung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, nach rechtsstaatlichen Prinzipien. Wie wir als Gesellschaft diese Aufgabe des Umgangs mit der geheimpolizeilichen Hinterlassenschaft der Diktatur gelöst haben, das findet internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Vor allem auch von Ländern, die selber einen Umsturz bewirkt haben und jetzt nach Wegen zur Demokratie suchen. In den Begegnungen der letzten Jahre mit Gästen aus über 40 Ländern Ägypten, Tunesien oder Marokko ist mir noch mal deutlicher geworden, was wir Besonderes tun, in dem wir uns in Deutschland mit der Vergangenheit so intensiv beschäftigen. Die Stasi-Unterlagen geben der Aufarbeitung in Deutschland ein wichtiges und tragfähiges Fundament.

Die ehemals geheimen Dokumente der Staatssicherheit sind wichtige Quellen bei der Aufklärung über die Mechanismen der Diktatur. Die Akten der Stasi zeugen von Repression, von Angst, von Unterwerfung, aber auch von Eigensinn und Widerstehen. Ihr vielfach biografischer Gehalt lässt aus trockenem Papier ein lebendiges Zeugnis werden, eine Brücke zwischen der Vergangenheit und unserer Gegenwart. Die Beschäftigung mit dem, was war, und vor allem mit dem, was Unrecht war, fokussiert wie im Brennglas das, was uns heute als Wert zu schnell selbstverständlich erscheint. Freiheit.

Die DDR erlebt und gelebt zu haben ist für mich eine Erfahrung, die mir hilft, die Freiheit in der heutigen Gesellschaft zu definieren. Diese Chance haben auch die nächsten Generationen, wenn sie sich mit der Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern beschäftigen. Die Beschäftigung mit Geschichte, sie ist eine Chance für neue Erkenntnis. Übrigens nicht nur für die, die die DDR erlebt haben, sondern für uns alle im nun vereinten Deutschland. Es ist unsere gemeinsame Geschichte. Unsere Gesellschaft einer Prüfung im Spiegel der Diktatur zu unterziehen, das schärft die demokratischen Sinne.

Erkennen, was genau es heißt, wenn Menschenrechte verletzt und missachtet werden, heißt sie in der heutigen Gesellschaft besonders zu schätzen und zu schützen. Erkennen, wie im Detail die zweite deutsche Diktatur funktioniert hat, das kann helfen, Demokratie zu gestalten. Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten.