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Freiheit und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit - Erinnerungen an die deutsche Teilung

Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin Dreyer,
sehr geehrter Herr Landtagspräsident Mertes,
sehr geehrte Abgeordnete,
sehr geehrte Damen und Herren,

"Der Mensch ist frei." Dieser simple und universelle Satz ist der erste Satz der Landesverfassung Ihres Bundeslandes Rheinland-Pfalz.

"Der Mensch ist frei." Das war das Erste, was im Jahre 1947 diejenigen in die Verfassung schrieben, die aus den Trümmern des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges ein neues Land bauen wollten.

Ja, diese Worte, die damals in die Verfassung des neuen Landes Rheinland-Pfalz hineingeschrieben wurden, waren damals ein hoher Anspruch an die Gestaltung von Staat und Gesellschaft.

Die Freiheit des Einzelnen zu schützen und das Gemeinwohl zu mehren, 1947 war das erst einmal nur formulierte Absicht, Hoffnung und Versprechen. Alles Weitere konnte nur die Zukunft zeigen.

Denn das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat war in jener Zeit grundsätzlich zerrüttet. Das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen, es war durch die zwölfjährige Diktatur der Nazis mehr als nur kompromittiert.

Die Vertreter des NS-Staates, aber auch große Teile der Bevölkerung – sie hatten versagt. Sie hatten ein mörderisches System gebaut, und es vielfach gestützt und befördert. Es wurde von vielen, vielen Bürgern ertragen und mitgetragen. Und nur von sehr wenigen bekämpft.

Wir blicken heute immer noch in diese Zeit und können nicht wirklich begreifen, wie es dazu kommen konnte, dass die Nazis im Namen der Deutschen und als Deutsche so viel Unrecht, so viel Unmenschlichkeit und monströse Gewalt ausüben konnten.

Denen, die danach kamen, die einen Neuanfang wollten, blieb nichts anderes übrig, als die hehrsten Grundsätze aufzuschreiben und zu hoffen, dass sie Realität werden.

Dass es geklappt hat, ist tatsächlich eine kaum zu glaubende Geschichte. Aus der Absicht auf beschriebenem Papier wurde gelebte Wirklichkeit der Menschen.

Der 1947 in der Verfassung formulierte Anspruch, die Freiheit des Einzelnen zu schützen und das Gemeinwohl zu mehren, wurde zur Grundlage des politischen Handelns in Rheinland-Pfalz bis heute.

Und es ist das Verdienst demokratisch bewusster Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, dass der Text der Verfassung lebendig ist. Darauf können Sie stolz sein in Rheinland-Pfalz. Und dazu möchte ich ihnen gratulieren.

Doch das Feiern des Jahrestages einer Verfassung sollte keine eingeübte Routine sein, sondern eine lebendige Erinnerung an die Grundlagen des Zusammenlebens von Menschen.

Auch eine Erinnerung an die Schwierigkeiten, die wir damit hatten und haben.

Freiheit und Demokratie sind eben keine Selbstverständlichkeit. Es kommt immer wieder darauf an, sie zu gestalten und auch weiterzuentwickeln.

Die Erneuerung der Absichtserklärung zur Verfassung kann dabei hilfreich sein.

"Von dem Willen erfüllt, die Freiheit und die Rechte des Menschen zu verbürgen, das Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, die Freundschaft mit anderen Völkern zu fördern und den Frieden zu sichern, hat sich das deutsche Volk diese Verfassung gegeben."

Wenn Sie jetzt denken, dass sich das nach dem "Vorspruch" Ihrer Landesverfassung anhört, dann ist es nicht ganz verkehrt. So ähnlich steht es dort. Aber der eben zitierte Satz ist tatsächlich aus der Präambel der Verfassung der Deutschen Demokatischen Republik vom 7. Oktober 1949.

Rheinland-Pfalz hier. DDR dort. Das Versprechen von Freiheit ist gleich, die Ziele für das Gemeinwohl sind es ebenfalls. Aber die 40 Jahre DDR waren eben keine Erfolgsgeschichte für die Grundrechte von Menschen.

Im Gegenteil. 40 Jahre DDR, das waren 40 Jahre Diktatur der SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.

Die DDR gibt es nicht mehr. Die Diktatur im Osten Deutschlands ist vorbei. Und dieses Jahr begehen wir bereits den 25. Jahrestag der Deutschen Einheit. Das ist für uns alle Grund genug, uns zu freuen und kräftig zu feiern. Alles vorbei? Alles vergessen? Nein. Feiern und gedenken, das ist kein Widerspruch.

Die Freude über 25 Jahre Wiedervereinigung, über 25 Jahre Freiheit und Selbstbestimmung für alle Deutschen, wird umso bedeutender, wenn wir uns erinnern an die Zeit davor, an das Leid im geteilten Deutschland. 

Sehr geehrter Herr Präsident, ich freue mich deshalb sehr, dass Sie den 18. Mai den Tag der Verfassung von Rheinland-Pfalz in diesem Jahr auch dem Thema "25 Jahre Freiheit und Einheit" widmen.

Sie haben ganz bewusst einen Redner eingeladen, der Ihnen als Zeitzeuge vom anderen Deutschland berichten soll.

Dafür bedanke ich mich und ich will dies gerne tun. Denn ich denke, dass in der Erinnerung an die Vergangenheit auch eine Chance für uns heute liegt. Je klarer wir Unfreiheit vor Augen haben, umso besser können wir Freiheit schätzen und schützen.

So können wir auch dazu beitragen, dass die Grundsätze, die in den Verfassungen der Länder und im Grundgesetz formuliert sind, lebendig gehalten werden.

Trotz der Teilung Deutschlands, trotz unterschiedlicher Erfahrungen der Menschen in Ost und West, es ist unsere gemeinsame deutsche Geschichte, die wir miteinander haben.

Und gerade deswegen stellt sich für uns, und besonders für die nachgeborenen Generationen die Frage:

Wie kommt es, dass im Osten und im Westen, wie ich Ihnen vorgetragen habe, in jenen Jahren des Neuanfangs nach NS-Diktatur und Krieg, gleiche Absichten und Werte in den Verfassungen formuliert wurden, und doch die Entwicklung der Wirklichkeit gegensätzlich verlief?

Ja, es genügt eben nicht Grundsätze von Freiheit und Demokratie auf Papier zu formulieren, sondern es braucht engagierte Menschen, die die Verfassung lebendig werden lassen.

Und es braucht politische Rahmenbedingungen, die genau das ermöglichen. 

Sie hier in Rheinland-Pfalz hatten Glück, dass das Gebiet ihres Landes nach dem Krieg durch französisches Militär besetzt war. Im Westen Deutschlands ebneten die westlichen alliierten Siegermächte den Weg zu einer freiheitlichen Demokratie.

Sie gaben den Worten der neuen Verfassung eine Chance auf Realität. Im Osten, auf dem Gebiet der sowjetisch besetzten Zone war die Freiheit der Menschen durch die kommunistischen Machthaber begrenzt, und das trotz der Garantie von demokratischen Grundrechten in der Verfassung der DDR.

"Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben."

Das war das Motto des SED-Parteiführers Walter Ulbricht, der 1945 aus dem Moskauer Exil kam und mit den Kommunisten aus der Sowjetunion eng zusammen arbeitete. Nach dem Motto der Scheindemokratie von Walter Ulbricht regierte die SED das Land.

Demokratie – das war in der DDR von Anbeginn an nur Garnitur.

Nur 11 Tage nach Verabschiedung der DDR-Verfassung kam ein junger Mann namens Arno Esch in Rostock in Haft. Der junge Jura-Student war 21, als er mit 13 Kommilitonen am 18. Oktober 1949 inhaftiert wurde.

Gleich zu Beginn seines Studiums 1946 gründete er die Hochschulgruppe der liberal-demokratischen Partei LDP, einer Partei, die zu dem Zeitpunkt noch unabhängig von der Unterwerfung unter die SED-Linie war.

Arno Esch hat die DDR-Verfassung wörtlich genommen: "Alle Bürger haben das Recht, innerhalb der Schranken, der für alle geltenden Gesetze ihre Meinung frei und öffentlich zu äußern und sich zu diesem Zweck friedlich und unbewaffnet zu versammeln."

Entschieden trat Arno Esch gegen den Leit-Anspruch der SED-Jugendorganisation FDJ, der Freien Deutschen Jugend, auf.

Er war Pazifist und argumentierte in Veröffentlichungen für einen sozial orientierten Liberalismus, für Gewaltenteilung, Bürgerrechte und die Abschaffung der Todesstrafe.

Die Landesjustizabteilung der SED erklärte nach Rücksprache mit der sowjetischen Militäradministration, dass Esch "als Wissenschaftler und Richter eine Gefahr" darstelle.

Daher wurde er im Oktober 1949 mit 13 Mitstreitern verhaftet und dem Sowjetischen Militärtribunal, kurz SMT, in Schwerin übergeben.

Das Tribunal verurteilte ihn am 21. Juli 1950 wegen Spionage, antisowjetischer Propaganda und Aufbau einer konterrevolutionären Untergrundorganisation zum Tode.

Ein Jahr später, im Juli 1951, wurde er in Moskau erschossen. Erschossen wegen angeblicher "Konterrevolutionäre Umtriebe".

Dabei hatte Arno Esch nur, gemäß Verfassung der DDR, sein Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen. Mit seiner Meinung hatte er die Allmacht der Partei, der SED, in Frage gestellt und dafür musste er mit seinem Leben bezahlen. 

Zwei Jahre nach dem Tod von Arno Esch wurde ich im Juli 1953 in diesen Staat hineingeboren. Ich konnte es mir nicht aussuchen. Unsere Wohnung war gleich neben dem Glas-Werk "Otto-Schott".

Aber nicht in Mainz, sondern in Jena. Meine Eltern lebten eben nicht in Rheinland-Pfalz, sondern in der DDR. Das war mein Schicksal.

1953 diese Jahreszahl hat mich in meinem Leben nicht nur als mein Geburtsjahr begleitet.

Das Jahr 1953 warf einen langen Schatten für die Menschen in der DDR

"Wir wollen freie Menschen sein!" Das war der Ruf, den streikende Arbeiter in Berlin und an über 700 Orten der DDR am 17. Juni 1953 anstimmten.

Es war ein Volksaufstand gegen die SED-Herrschaft, der brutal mit Hilfe sowjetischer Panzer niederschlagen wurde. Es gab Verhaftungen und Hinrichtungen.

Das Trauma des 17. Juni 1953 prägte die Menschen in der DDR jahrzehntelang.

Meine Eltern haben ihren drei Kindern deshalb stets den Rat gegeben: "Haltet euch bloß raus aus der Politik! Widerspruch lohnt nicht. Am Ende rollen wieder die Panzer der Sowjets!".

Fast 30 Jahre habe ich in der DDR gelebt, habe das Trauma des 17. Juni gespürt, ohne genau zu wissen, was es für mein Verhalten bedeutete.

In der Schule lernte ich nichts über Männer wie Arno Esch. Und der 17. Juni galt als faschistischer Putsch der mit Hilfe der Sowjetarmee abgewehrt wurde.

Der Sozialismus wurde uns in den schönsten Farben als eine Gesellschaft gepriesen, in der das Wohl des Menschen im Mittelpunkt steht.

Als Beleg dienten unserem Lehrer dabei auch immer wieder Zitate aus der neuen Verfassung der DDR von 1968.

"Die Persönlichkeit und die Freiheit jedes Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik sind unantastbar." So hieß es in Artikel 30.

Und unser Staatsbürgerkundelehrer war stolz darauf, dass diese "sozialistische Verfassung", wie sie genannt wurde, per Volksabstimmung beschlossen wurde.

Das Ergebnis 94,5 Prozent Ja-Stimmen. Es war ein deutliches Bekenntnis der Bevölkerung zum sozialistischen Staat und der Partei, der SED.

In dieser "sozialistischen Verfassung" wurde nämlich auch die führende Rolle der Staatspartei SED verankert.

Das Volk hatte entschieden. Die Volksabstimmung sei ein Ausdruck "sozialistischer Demokratie" konnte man in den in den Zeitungen lesen.

Es galt immer noch das Motto von SED-Parteichef Walter Ulbricht.

Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben."

Vor der Volksabstimmung organisierte die SED monatelang sogenannte Volksaussprachen.

Diese in Arbeitskollektiven, an Hochschulen, Universitäten und bei den Streitkräften organisierten Treffen dienten der Kontrolle und Lenkung des Abstimmungsverhaltens.

Auch die Stasi war im Dauereinsatz. Alle Diensteinheiten waren verpflichtet, regelmäßig über die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung zu informieren, vor allem darüber, ob es ablehnende Haltungen oder gar offenen Protest gegen die neue Verfassung gab.

Personen, die dabei festgestellt wurden, wurden mal sanft, mal deutlicher darauf hingewiesen, dass eine ablehnende Haltung zur neuen Verfassung, eine Ablehnung für die weitere Entwicklung des Sozialismus bedeute.

Dies sei nicht im Interesse der Menschen in der DDR und eine Ablehnung sei auch nicht zum Vorteil für sie persönlich.

Der Alltag in der DDR, er hatte seine ganz eigenen Regeln.

Selbstbestimmt leben, die vorgezeichneten Bahnen des Staates einfach verlassen, das war nicht so einfach. Es war ein Wechselspiel zwischen Anpassung und Widerspruch. Oft beides in einem.

Viele meiner Altersgruppe, die 1953 Geborenen, wir wollten anfangs in gewisser Weise sogar mitlaufen. Das Versprechen einer gerechten Gesellschaft, die Parolen vom "besseren Deutschland" – sie hatten eine Wirkung auf unsere Generation.

Eine Generation, die in die DDR hineingeboren wurde und abgeschottet aufwuchs. Und wir waren auch in unseren Vorstellungen von Gesellschaft beschränkt.

Es war ein Leben hinter der Mauer, das uns nicht nur im Handeln, sondern auch im Denken beschränkte.

Wie kann man sich, wie darf man sich, wie soll man sich verhalten in der Diktatur?

Gibt es einen moralischen Maßstab für das Verhalten?

Warum haben sich so viele angepasst?

Warum haben sie die in der Verfassung formulierten Rechte nicht oder nur selten eingefordert?

Mitmachen oder verweigern, anpassen oder widersprechen?

Das waren Fragen vor denen viele von uns, auch ich, jeden Tag neu standen.

Ich erinnere mich an den November 1976. Ich war Student der Wirtschaftswissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena.

Im Seminar "Wissenschaftlicher Kommunismus" übte ich Kritik an der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann, die kurz zuvor erfolgt war. Wolf Biermann, dessen kritische Texte dem Staat DDR nicht passten.

Als ich meine Meinung im Seminar offen sagte, ahnte ich nicht, dass der Seminarleiter an der Uni ein Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit war. Er erstattete Bericht über das, was ich sagte.

Die Folge: Gegen mich begann ein Kesseltreiben, betrieben von SED-Funktionären und Staatssicherheit.

Die Universitätsleitung beschloss mich auf Grund meiner Meinungsäußerung wegen "Gröblicher Verletzung der Studiendisziplin" zu exmatrikulieren.

Damit dieser Akt demokratisch legitimiert erscheint, wurde eine Abstimmung in der Seminargruppe anberaumt.

Am Abend vor der Abstimmung saß ich mit meinen Freunden aus dem Seminar in einer Kneipe. Wir tranken Bier und diskutierten.

Sie klopften mir auf die Schulter und sagten: "Roland das wird schon. Roland wir stehen zu dir."

Am nächsten Tag, keine 20 Stunden später, dann die Abstimmung.

Das Ergebnis: 13 zu 1 – gegen mich. 

Das Ende meines Studiums war besiegelt.

Nach der Abstimmung kamen meine Kommilitonen einzeln zu mir. "Du musst verstehen, Roland, meine Frau bekommt ihr zweites Kind. Ich kann nichts riskieren." Sagte einer.

"Es tut mir leid, aber mein Vater ist in herausgehobener Position. Ich kann ihn doch nicht gefährden." Sagte ein anderer.

Erklärungen. Ausflüchte. Entschuldigungen.

Ich habe sie alle verstanden. Denn ich wusste Bescheid. Auch ich hatte mich ja jahrelang in vielen Situationen angepasst an die Vorgaben des SED-Staates. 

Auch ich war mal ein Rädchen, was sich drehte im Mechanismus der Diktatur.

"Seid bereit - immer bereit" - So begrüßte auch ich im Chor der Thälmann-Pioniere die Lehrer in der Schule.

Ich erinnere mich wie ich in der 8. Klasse am 1. Mai 1968 im Blau-Hemd der Freien Deutschen Jugend mit marschierte an der Ehrentribüne der SED-Kreisleitung Jena vorbei. Ich machte mir keine Gedanken über das Für und Wider. Ich marschierte mit.

Und so ging das weiter. Der Grundwehrdienst war Pflicht, und so leistete ich ihn ab bei der Bereitschaftspolizei in Rudolstadt in Thüringen. Nicht freiwillig, aber ich war dabei.

Stationen eines typischen DDR-Kindes, in den vorgeschriebenen Bahnen.

Ich wollte dabei sein, nicht ausgegrenzt sein. Ich wollte ein glückliches Leben führen in Schule und Familie.

Und so nahm ich auch Rücksicht auf die Menschen, die mir lieb sind im Leben. Zum Beispiel auf meinen Vater.

Im VEB Carl Zeiss Jena, dem volkseigenen Betrieb Carl Zeiss Jena, hatte er als Ingenieur an der Entwicklung der Weltraumkamera mitgearbeitet, mit der Siegmund Jähn, der gefeierte DDR-Kosmonaut, als erster Deutscher ins All flog. Auf seine Arbeit war er stolz. 

Mein Vater machte mir öfter deutlich, dass er Schwierigkeiten im Betrieb bekommt, wenn ich in der Schule… oder später an der Uni… widerspräche. Er habe mit seiner Hände Arbeit, ohne SED-Mitgliedschaft, seine berufliche Existenz geschaffen.

Das solle ich doch nicht gefährden, für ein kleines Stück Meinungsfreiheit. Es gehe schließlich um das Glück der ganzen Familie.

Und so habe ich manches Mal den Mund gehalten, statt meine Meinung offen zu sagen.

Anpassen oder widersprechen. Fast täglich musste ich mich entscheiden.

Und immer wieder stellten sich die gleichen oder ähnliche Fragen, nicht nur für mich.

Mitmachen oder verweigern? Wer verhält sich wie in welcher Situation?

Was ist mit dem jungen Abiturienten, der eingezogen wurde zum Wehrdienst, befehligt zu den Grenztruppen an die Staatsgrenze West?

Arzt wollte er später werden, wie sein Vater.

Ich kenne viele solcher Leute aus meiner Schule, aus meinem Abiturjahrgang.

Hätte er den Wehrdienst verweigern sollen? Verweigern und damit sein Medizinstudium verspielen, die Karriere seines Vaters gefährden?

Es wird schon nicht so schlimm werden, die Zeit als Grenzsoldat – das war die Hoffnung.

Und meist ist es gut gegangen. Dann war das die Bestätigung für den gegangenen Weg. Glück gehabt! 

Kein Flüchtling hatte sich den Grenzabschnitt ausgesucht, in dem der Abiturient Posten stand.

Seine Bereitschaft zum Schießen, seine Bereitschaft zum Töten, sie wurde im Ernstfall nicht geprüft.

Den Ernstfall haben hunderte anderer erfahren, den Ernstfall, dass ein Flüchtling und ein Grenzsoldat aufeinandertrafen.

Der eine hat geschossen, der andere war am Ende tot.

Reicht es zu hoffen, dass der Flüchtling einen anderen Weg geht? Reicht es zu hoffen, dass der Zufall an einem vorbeigeht?

Aber jeder trägt die individuelle Verantwortung für sein Handeln, wie und an welcher Stelle er sich mit einem Unrechtssystem einlässt. Selbst wenn es die Norm ist, scheinbar Pflicht, und viele es tun.

Die Angst – das war der Kitt der Diktatur. Das Mittel, das die Diktatur zusammen hielt.

Doch auch in der DDR konnte sich jeder Einzelne ein kleines Stück Freiheit nehmen, ohne einen zu hohen Preis zu zahlen. Der Preis, den man zahlen musste, er war eben nicht berechenbar.

Übrigens, der einzige Kommilitone, der zu mir hielt, bei der Abstimmung über meinen Rauswurf, konnte ohne Probleme weiter studieren und seinen Abschluss machen.

Es brauchte Anlässe, manchmal außergewöhnliche Ereignisse, um die Angst zu verlieren. Der Schriftsteller Jürgen Fuchs hat dies "Das Ende einer Feigheit" genannt.

Meine Feigheit hatte ein Ende, als mein Freund Matthias Domaschk aus meiner Heimatstadt Jena im April 1981 in einem Verhör in der Stasi-Haft zu Tode kam. Er war gerade mal 23 Jahre alt.

Der Tod von Matz, wie wir ihn nannten, war Einschüchterung und Ansporn zugleich.

Mein Mittel gegen die Angst hieß jetzt: keine faulen Kompromisse mehr.

Sicherlich wurde das begünstigt durch die Tatsache, dass mein Vater in jenem Jahr Invalidenrentner wurde. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, auf seine berufliche Stellung Rücksicht nehmen zu müssen.

Ein Jahr nach Matz‘ Tod gab ich gemeinsam mit Freunden eine Todesanzeige in einer Jenaer Tageszeitung auf. Wir besorgten uns Dutzende Zeitungsexemplare und klebten die Anzeige in der ganzen Stadt an Laternenpfähle und Häuserwände.

Zusätzlich mit Hilfe von Freunden im Westen verbreiteten wir die Nachricht über den westlichen Rundfunk, auch in den Osten hinein. Der Tod in der Stasi-U-Haft blieb nicht mehr unter der Decke.

Wir hatten unsere verfassungsmäßigen Rechte einfach wahrgenommen. Freie Meinung, freie Information, das wollte die Stasi nicht dulden. Die Folge: die Stasi zog mich aus dem Verkehr und sperrte mich in das Gefängnis, in dem Matthias Domaschk ums Leben kam. Sechs Monate war ich in Haft.

Kurze Zeit nach der Haftentlassung hat mich die Stasi dann im Juni 1983 aus der DDR ausgebürgert und gewaltsam in den Westen abgeschoben.

Was für viele eine Befreiung gewesen wäre, für mich war es trotzdem eine Bestrafung, denn es war ein Abtransport aus der Heimat.

Als mir meine Mutter wenige Tage später am Telefon mit weinender Stimme sagte, man habe Ihr den Sohn gestohlen, wusste ich, dass die Freiheit des Westens nur eine halbe Freiheit ist solange die Mauer steht.

Und heute. Die Mauer steht nicht mehr.

Die Vergangenheit aufzuarbeiten heißt, in der Gegenwart mit dieser Vergangenheit umzugehen und nicht so zu tun als ob nichts gewesen sei.

Ich vermisse das Bekenntnis zur Biografie. Bei den Funktionären, aber auch bei den Mitläufern. Ich vermisse das Bekenntnis zur Verantwortung und das Hinterfragen des eigenen Handelns.

Was ich stattdessen erlebe, ist vielfach die Rechtfertigung des eigenen Handelns und die Beschönigung der Verhältnisse in der DDR

Die Beschönigung der DDR erlebe ich auch immer wieder im Westen Deutschlands. Auch so manchen Alt-Linken aus dem Westen täte es gut, sein Verhältnis zur DDR zu hinterfragen und genau hinzuschauen. 

Die schönen Worte von den Menschenrechten in der DDR-Verfassung waren eben nichts wert, wenn es der SED gegen den Strich ging.

Die DDR war ein Unrechtsstaat, an dieser Erkenntnis kommt man bei der Analyse von 40 Jahren SED-Diktatur nicht vorbei.

Gemeinsam über diese Geschichte nachzudenken und sie als gemeinsame zu begreifen, das ist mein Wunsch. Aufarbeitung des SED-Unrechts, das ist eine gesamtdeutsche Angelegenheit.

Es geht nicht um Abrechnung, es geht um Aufklärung. 

Erkennen, wie es war, wie die zweite deutsche Diktatur funktioniert hat, das kann helfen Demokratie zu gestalten. 

Das Wissen darum, wie es schief gehen kann mit den Menschenrechten, das schärft unsere demokratischen Sinne. Eines hat uns die Geschichte der DDR schon gelehrt.

Der Text einer Verfassung ist noch keine Garantie für Menschenrechte. Es braucht Rahmenbedingungen damit die Worte lebendig werden können.

Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. 

Und. Die Regeln der Demokratie auf Papier zu schreiben, das reicht nicht aus

Demokratie, die Herrschaft des Volkes ist nur so lebendig wie das Volk selbst.

Demokratie, sie braucht engagierte Bürger, wachsame und kluge Politiker und weitsichtige Amtsinhaber auf allen Ebenen, und in allen Zeiten.

Es ist gut, dass Sie heute hier im Landtag zum Jahrestag der Verfassung von Rheinland-Pfalz mit dieser, ihrer Festveranstaltung daran erinnern.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.