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Transparenz staatlichen Handelns und Persönlichkeitsschutz - Diktaturaufarbeitung als Modell für Informationsfreiheit

Sehr geehrte Frau Voßhoff,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

mit Blick auf die Liste der Referenten des heutigen und morgigen Tages könnte man denken ich bin in ihrer Mitte eigentlich falsch platziert. Sie alle sind Expertinnen und Experten für den Umgang mit aktuellen Informationen. Mit dem was in den Ministerien, Behörden und Ämtern in diesen Tagen entsteht oder dem was dort in den letzten Monaten und Jahren vorbereitet und entschieden wurde. Die Informationen, die Sie im Blick haben, sind frisch. Sie dokumentieren aktuelles Handeln. Diese Informationen haben für die Öffentlichkeit eine hohe aktuelle Bedeutung.

Und jetzt steht also der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen vor Ihnen, der sich eigentlich ausschließlich mit Akten der Vergangenheit beschäftigt.

"Der Herr über die Akten" sagen Journalisten, wenn sie eine griffige Schlagzeile brauchen. Der Beauftragte, der für die Dokumente der Vergangenheit zuständig ist, Dokumente die helfen einen untergegangenen Staat aufzuarbeiten. Diese Formulierung des "Herren über die Akten", so wurde der erste Bundesbeauftragte Joachim Gauck häufig in den Medien genannt, stört mich, weil sie eine Allmacht suggeriert, die doch genau durch den Akt der Öffnung dieser Akten eigentlich verschwinden sollte.

Denn diese Akten, die in diesem einmaligen deutschen Archiv verwahrt werden im Stasi-Unterlagen-Archiv, sind nicht irgendwelche Dokumente. Es sind die Dokumente der Geheimpolizei eines diktatorischen Staates. Die Informationen, die in den Unterlagen gespeichert sind, waren zumeist menschenrechtswidrig gesammelt worden und sind nie für irgendeine Öffentlichkeit bestimmt gewesen. Die Stasi-Unterlagen, das darf nicht vergessen werden, waren Arbeitsinstrumente der Geheimpolizei der SED-Diktatur.

In Reaktion auf den Beginn der Friedlichen Revolution begannen im Herbst 1989 Stasi-Mitarbeiter, nicht unbemerkt, in großem Umfang Akten zu vernichten.

Im Winter 1989/1990 gingen tausende Menschen auf die Straße und besetzten zuerst die Bezirksverwaltungen von Erfurt über Rostock bis Suhl und schließlich am 15. Januar die Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg und stoppten die Aktenvernichtung. Auf Transparenten und in Sprechchören forderten sie "Jedem seine Akte". Die Besetzung der Stasi-Zentrale war die größte Demonstration für Informationsfreiheit in Deutschland, die es je gab.

Doch kurze Zeit später, zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung Deutschlands, war die Öffnung der Stasi-Akten umstritten. Die damalige Bundesregierung wollte sie nicht. Sie fürchtete menschliche und rechtliche Konflikte.

Doch DDR-Bürgerrechtler sorgten mit der zweiten Besetzung des Zentral-Archivs der Stasi für einen Passus im Einigungsvertrag, der die Nutzung der Stasi-Akten vorsah.

Dies war ein historisches Ereignis. Denn damit war die Grundlage geschaffen, dass erstmals in der Welt die Akten einer Geheimpolizei für die Gesellschaft transparent gemacht wurden. Die Akten der Geheimpolizei der DDR wurden demokratisiert.

Und als im Jahr 1991 das eigens geschaffene Stasi-Unterlagen-Gesetz vom Deutschen Bundestag verabschiedet wurde, war es fortan möglich, dass das geheime staatliche Handeln in der DDR öffentlich gemacht werden konnte und bis heute kann.

Für mich ist das Stasi-Unterlagengesetz von 1991 das erste Informationsfreiheitsgesetz Deutschlands. Es ist ein Gesetz, das wir nun schon seit über 20 Jahren erfolgreich anwenden. Über 6 Millionen bearbeitete Anträge zur Nutzung der Stasi-Unterlagen sprechen für sich.

Mit den schriftlichen Hinterlassenschaften der DDR-Geheimpolizei hat Deutschland 1990 einen neuen Weg im Umgang mit Archivgut eingeschlagen. Die Akten der Staatssicherheit wurden gerade nicht unter das übliche Archivrecht gestellt. Sie sollten nicht 30 Jahre "erkalten", bis die Gesellschaft mit Abstand und dann vermeintlich besonnener mit ihnen umgehen kann.

Sie sollten zur Aufarbeitung der Diktatur dienen und zwar sofort. Solange die Opfer der Diktatur noch leben, sollten sie eine Chance bekommen, Kontrolle über ihre gestohlenen Biografien zurückzuerlangen.

Und sie sollten dazu dienen, die Verantwortlichen der SED-Diktatur im Apparat einer Geheimpolizei zu benennen und sie nicht einfach unerkannt in der neuen Gesellschaft untertauchen zu lassen. Dabei war allen Beteiligten klar, dass gerade die Unterlagen einer Geheimpolizei eine besondere Herausforderung für die Offenlegung darstellen.

Daher wurde mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz 1990 ein einzigartiges Gesetz geschaffen, das die Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes ermöglicht und Verfassungsgrundsätze wahrt.

Das StUG verschafft vor allem Bürgern den Zugang zu den Unterlagen, um ihr eigenes Schicksal aufzuklären.

Durch den Blick in die Akten erfahren sie, wann, wo und wie der Staat in ihr persönliches Leben eingegriffen hat und – und das ist ebenso wichtig – sie können erkennen, wo es nicht die Stasi war, die Entscheidungen beeinflusst hat.

Durch Nutzung der Stasi-Unterlagen können außerdem Forschung, Medien und gesellschaftliche Institutionen über die Herrschaftsmechanismen der ehemaligen DDR detaillierte Kenntnisse erlangen. Unsere Arbeit mit den Stasi-Akten schafft für die Menschen heute Transparenz, die ihnen in der Diktatur verwehrt blieb.

Aber das Streben nach Transparenz im Umgang mit den Hinterlassenschaften der Diktatur hat auch Grenzen. Dort wo Persönlichkeitsrechte von Bürgern berührt werden, steht der Persönlichkeitsschutz über dem Interesse der Öffentlichkeit nach Transparenz und Auskunft.

Um den Persönlichkeitsschutz zu gewährleisten, prüfen die Mitarbeiter der Stasi-Unterlagen-Behörde jedes Blatt aus den Akten vor der Herausgabe. Die Namen von anderen Betroffenen, Unbeteiligten und Jugendlichen, die von der Stasi angeworben wurden, werden anonymisiert.

Von manchen Betroffenen werden die Einschränkungen in der Auskunft bedauert.

Ohne Frage ist ein Bericht, den die Stasi über die eigene Person angelegt hat und in dem jeder zweite Name geschwärzt ist, nicht das, was man sich als Betroffener wünscht. Aber: Kaum jemand beschwert sich darüber, dass hier die Rechte Dritter, die ohne ihr Wissen und ihre Einwilligung in den Akten benannt sind, geschützt werden. Der eigene Name wird ebenso in den Akten der anderen anonymisiert.

Gerade weil die Rechte des Einzelnen geschützt werden, wird der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie deutlich.

Das Stasi-Unterlagen-Gesetz verlangt genau dieses: Die Abwägung zwischen dem Bedürfnis nach Transparenz staatlichen Handelns und dem Schutz von Persönlichkeitsrechten.

Das Spannungsfeld zwischen Transparenz und Schutzinteressen einzelner Bürger ist ein laufender Aushandlungsprozess, der uns in unserer täglichen Arbeit begleitet.

Auch die Stasi-Unterlagen-Behörde ist immer wieder Teil aktueller Diskussionen über die Herausgabe von Unterlagen geworden. Anfang der 2000er-Jahre entschieden verschiedene Gerichte – bis hin zum Bundesverwaltungsgericht – dass der Zugang zu Teilen der Akten, die die Stasi zu Bundeskanzler Helmut Kohl angelegt hatte, zu beschränken ist. Es ist ein gutes und wegweisendes Urteil.

Helmut Kohl ist eine Person der Zeitgeschichte. Sein Regierungshandeln transparent zu machen, auch so wie es in den Stasi-Unterlagen dokumentiert war, galt damals als ein Gebot der Stunde.

Schließlich galt es, den Parteispendenskandal zu durchdringen und die Stasi-Unterlagen schienen dafür Informationen bereit zu halten. Die Entscheidung, den Zugang zu bestimmten Informationen zu beschränken und die Kontrolle über die Informationen der Person selber zu überlassen, die im Visier der Beobachtung stand, war für mich keine Niederlage der Aufarbeitung von Geschichte. Für mich waren die Urteile in den Kohl-Prozessen ein Bekenntnis zum Schutz der Persönlichkeitsrechte. Wenn der Staat, auch die Geheimpolizei eines untergegangenen Staates, menschenrechtswidrig in die informationelle Selbstbestimmung eines Bürgers eingreift, dann kann es heute keine höheren Güter geben, die es rechtfertigen, dieses Recht auf informationelle Selbstbestimmung auszuhebeln. Das war das Signal dieser Prozesse. Transparenz staatlichen Handelns soweit irgend möglich, erfährt eine Grenze, wenn es die Persönlichkeitsrechte einzelner berührt, selbst wenn sie Kanzler waren.

Warum nutzen wir die Erfahrungen, die wir als Gesellschaft im Umgang mit den Stasi-Akten gesammelt haben nicht, um auch in anderen Bereichen den Zugang zu Informationen zu erleichtern? Auch für andere Dokumente die in vielen Bundes- und Landes-Archiven liegen, ist eine weitere Verkürzung der Zugangsfristen auch unter Beachtung von Persönlichkeitsrechten denkbar.

Ohne Frage ist dies ein aufwändiger Weg. Aus der Auseinandersetzung mit den Stasi-Unterlagen, als Betroffener, als Journalist und jetzt als Bundesbeauftragter kann ich nur sagen: Die Anstrengung lohnt.

Wenn in der Öffentlichkeit von Transparenz gesprochen wird, werden oft nur die Extreme gegenübergestellt. Totale Transparenz auf der einen Seite und auf der anderen Seite ein Staat der keinerlei Notwendigkeit sieht sein Handeln zu erklären. Diese beiden Extreme gibt es für mich in der Praxis nicht. Transparenz ist kein Wert an sich.

Auch weiterhin bedarf es vertraulicher Beratungen, geschützter Räume in Politik und Verwaltung in denen Ideen entwickelt aber auch wieder verworfen werden können, ohne das eine Rechtfertigung vor einer breiten Öffentlichkeit notwendig ist. Aber wenn wir die Ebene des konkreten Handelns erreichen, kann Transparenz für den Staat hilfreich sein.

Transparenz stärkt, so meine Erfahrung, die Akzeptanz für Entscheidungen durch die Bürgerinnen und Bürger. Warum sollten die Bürger eine Entscheidung mittragen, wenn sie keinen Einblick erhalten, warum sie so gefällt wurde, wie sie gefällt wurde? Welche Argumente gab es dafür, welche Argumente dagegen? Welche Zwänge haben das Handeln bestimmt?

Durch Transparenz gelingt es Vertrauen zu schaffen und Kontrolle durch die Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen.

Kontrovers wird die Auseinandersetzung um Fragen der Transparenz dann, wenn es um die Arbeit der Geheimdienste geht.

Gerade in der Diskussion um die NSA und Ausspähungen durch unterschiedliche Geheimdienste wird deutlich, wie hilfreich es sein kann sich mit Vergangenheit zu beschäftigen.
Die Diskussion zeigt, dass es gut ist, wenn wir unsere Sinne schärfen mit dem Blick in die Diktatur. Dem Blick in unsere Geschichte. So können wir besser erkennen, wo Freiheit hier und heute in Gefahr ist.
Es geht darum, genau hinzuschauen: Wo werden Grundwerte verletzt?

Ich kann nur ermuntern, dass man heute mit dem Wissen darum, wie es früher in der Diktatur war, die Stopp-Zeichen setzt. Es geht um eine demokratische Kontrolle der Geheimdienste.

Dort wo die Bürgerinnen und Bürger nicht die Möglichkeit haben selbst Einblick zu erhalten und Kontrolle auszuüben, kann diese Verantwortung an das Parlament, an die Vertreter des Volks, delegiert werden. Warum stärken wir nicht die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste?

Sei es durch einen Aufwuchs der Kompetenzen des parlamentarischen Kontrollgremiums oder in dem wir den Parlamentariern die Instrumente an die Hand geben, die sie brauchen um diese wichtige Kontrollaufgabe zu erfüllen. Die Arbeit der vom Bundestag gewählten Bundesdatenschutzbeauftragten Frau Voßhoff und ihrem Vorgänger Herrn Schaar zeigt, wie stark Parlament und Gesellschaft von unabhängiger Expertise und Kontrolle profitieren können.

Geheimdienstkontrolle – und hier sind wir wieder bei den Unterschieden zwischen Demokratie und Diktatur – ist in meinem Verständnis Aufgabe des Parlaments und nicht Aufgabe der Regierung.

Ich wünsche mir für die öffentliche Diskussion um Informationsfreiheit, dass die Erfahrungen der gesellschaftlichen Praxis besser einbezogen werden.

Prüfen wir konkret, wo ein Mehr an Transparenz Sinn macht. Wo ist es umsetzbar? Wo liegen Grenzen, weil Schutzinteressen berührt sind? Wo kann Transparenz das Verständnis für die Hintergründe staatlichen Handelns stärken?

Dort wo der Staat stärker aktiv Einblick in sein Handeln gewährt, wird mancher Untersuchungsausschuss überflüssig, manchem Journalisten entgeht eine aufsehenerregende Schlagzeile und mancher Whistleblower kann nicht mit brisantem Material aufwarten.

Für mich wäre dies ein echter Fortschritt und ein Zugewinn für unsere Demokratie.