Bürgerrechtsgruppen gelang es, bei den Kommunalwahlen in der DDR im Mai 1989 ein gefälschtes Wahlergebnis nachzuweisen. Die Staatssicherheit konnte dies nicht verhindern.

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Das Bild zeigt Transparent vor dem Palast der Republik in Berlin: "Wir fordern freie Wahlen".

Bürgerrechtsgruppen beobachten die Kommunalwahlen

Der 7. Mai 1989 sollte zu einem wichtigen Datum in der Geschichte der DDR werden: nicht weil an diesem Tag Kommunalwahlen stattgefunden haben und auch nicht, weil das Wahlergebnis verfälscht worden ist. Beides war regelmäßig der Fall. Neu war, dass es Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern gelang, die Fälschung nachzuweisen, und dass die Staatssicherheit unfähig war, das zu verhindern. Beides zeigt, dass der Machtapparat bereits erheblich an Wirksamkeit eingebüßt hatte. Für das ohnehin geringe Ansehen des Regimes war der Verlauf dieser Kommunalwahlen eine mittlere Katastrophe. Wie es dazu kam, wird im folgenden dokumentiert.

Die Staatssicherheit war von den Aktivitäten der Bürgerrechtsgruppen nicht überrascht. Sie war bestens darüber informiert. Bereits im Dezember 1988 hatte die für diesen Bereich zuständige Hauptabteilung XX deshalb davor gewarnt, gegen das Wahlgesetz der DDR zu verstoßen: Das würde von der Gegenseite ausgenutzt werden.

Selbstverständlich bedeutete das nicht, dass die Stasi (und die SED) auf das freie Spiel der politischen Kräfte vertraut hätte. Vielmehr sollten die Weichen bereits im Vorfeld der Wahlen so gestellt werden, dass nur das gewünschte Ergebnis dabei herauskommen konnte. Dabei ging es vor allem darum, dass nur solche Kandidaten aufgestellt wurden, die dem Regime genehm waren. Dafür zu sorgen war in erster Linie Aufgabe der SED, aber die Staatssicherheit hatte dieses Vorhaben abzusichern. Minister Erich Mielke gab dazu in einem Befehl zur Aktion "Symbol 89" umfangreiche Anweisungen.

 

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Bürgerrechtsgruppen und Untergliederungen der evangelischen Kirche, wie etwa die Synode der Kirchenprovinz Sachsen, machten mit einer Vielzahl von Aktivitäten darauf aufmerksam, welche Farce diese "Wahl" ohne Auswahlmöglichkeit darstellte. Von der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) der Staatssicherheit wurden sie dabei genau beobachtet.

 

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Aber nicht nur Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler nutzten die Gelegenheit, um die Verhältnisse zu kritisieren, sondern auch sonst politisch unauffällige Menschen. Mit Sorge stellte die Staatssicherheit fest, dass "die allgemeine Stimmung unter breiten Teilen der Bevölkerung" sich "spürbar verschlechtert" habe.

Im unmittelbaren Vorfeld der Kommunalwahlen fand eine Dienstberatung der Generalität des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) statt. Mielke ging in seiner langen Rede auch auf die Wahlen ein (Bl. 71-83) und schilderte ausführlich seine Befürchtung, dass die "feindlich-negativen Kräfte" dieses Ereignis für eine "Destabilisierung der politischen Machtverhältnisse in der DDR" nutzen wollten, was es aus seiner Sicht selbstverständlich zu verhindern galt, aber ohne dass dies für "Außenstehende […] sichtbar" würde.

Erich Honecker und Willi Stoph bei der Stimmabgabe vor der Wahlurne.

§37 (1) des DDR-Wahlgesetzes garantierte eine öffentliche Stimmenauszählung. Eine Beobachtung der Wahlen war daher nicht verboten.

Ein Bericht der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des MfS für das SED-Politbüro zeigt, dass der Versuch gescheitert war, die bürgerrechtliche Wahlkontrolle zu unterbinden. Berichtet wird über die oppositionellen Aktivitäten zum Nachweis von Wahlfälschung, vor allem in Ost-Berlin und in Leipzig, wo es auch zu einer Reihe von Festnahmen kam. Zuvor war verhindert worden, dass ein Westkorrespondent in die Messestadt fuhr.

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Aufdeckung des Wahlbetrugs und Proteste

Nachdem die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler nachgewiesen hatten, dass die Wahlergebnisse gefälscht worden waren, erstatteten etliche von ihnen Anzeige wegen Wahlbetrugs, ein Straftatbestand auch nach DDR-Recht (§ 211 Strafgesetzbuch der DDR). Außerdem zirkulierten hektographierte Broschüren mit den von den Gruppen ermittelten Wahlergebnissen. Wie dagegen vorzugehen sei, teilte Mielke am 19. Mai 1989 den Leitern der Diensteinheiten mit:

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Die Zusammenarbeit verschiedener Gruppen bei der Aufdeckung des Wahlbetrugs gab der Bürgerrechtsbewegung erheblichen Auftrieb. Das Thema blieb durch regelmäßige Aktionen, vor allem Demonstrationen am 7. Tag jedes Monats, bis zum Herbst präsent. Ein Informationspapier der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe berichtet über solche Aktivitäten und über gleichgerichtetes Engagement evangelischer Geistlicher im Mai und im Juni 1989. Das Papier enthält außerdem genauere Angaben zu den Nichtwählerinnen und -wählern und zeigt, dass Protestverhalten mittlerweile auch jenseits der oppositionellen Milieus in Bevölkerungskreisen zunahm, die bis dahin nicht weiter auffällig gewesen waren.

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Im Juni 1989 erhielt die Bürgerbewegung weiteren Auftrieb. Die Staatssicherheit registrierte eine Zunahme von oppositionellen Aktivitäten und führte diese auf die Entwicklungen in den reformorientierten "sozialistischen Bruderländern", wie Polen, Ungarn und der Sowjetunion zurück. Die blutige Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung am 4. Juni auf dem "Platz des himmlischen Friedens" in Beijing war für die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler in der DDR ein wichtiges Thema. Mit dem Androhen einer "chinesischen Lösung" versuchte das SED-Regime ein Erstarken der Opposition zu verhindern.

  1. April 1989
  2. Juni 1989