Die Staatssicherheit beobachtete den zunehmenden Einfluss der Bürgerrechtsgruppen, konnte diesen aber nicht mit offen repressiven Mitteln verhindern.

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Dieses Foto aus Beständen des MfS zeigt die Teilnehmer einer Diskussionsrunde in der Gethsemanekirche. Vor dem Altar sitzt links außen der Theologe Erhart Neubert. Rechts außen ist die Bürgerrechtlerin Marianne Birthler und der Molekularbiologe Jens Reich, beide waren Mitbegründer des Neuen Forum, zu sehen.

Bürgerrechtsgruppen richten sich an die Öffentlichkeit

Bürgerrechtsgruppen hatte es in der DDR selbstverständlich schon vor dem Spätsommer 1989 gegeben. Eine Übersicht, die die Stasi im Mai fertig gestellt hatte, zählte in der gesamten DDR 160 Gruppen auf, die zu einem erheblichen Teil schon seit Jahren existierten (siehe Dokument vom 23.5.1989). Diese Gruppen beschränkten sich allerdings in der Regel auf bestimmte Themen (Frieden, Ökologie, Gleichberechtigung der Frauen usw.) und ihre Mitglieder lehnten es ab, sich selbst als "Dissidenten" oder "Oppositionelle" zu bezeichnen. Das hatte vor allem taktische Gründe, weil sie die Diktatur nicht zu sehr herausfordern wollten. Auf der Gegenseite hat die Staatssicherheit die Gruppen genau beobachtet, mit Inoffiziellen Mitarbeitern infiltriert, einzuschüchtern und zu zersetzen versucht. Aber sie mit offen repressiven Mitteln zu zerschlagen und die Aktivisten einzusperren, war ihr nicht möglich. Weil das als "politische" (nicht als rechtliche) Frage galt, hätte die Stasi dazu vorab eine Erlaubnis von SED-Generalsekretär Erich Honecker benötigt. Der aber zögerte, weil er einen Ansehensverlust im westlichen Ausland fürchtete.

Durch die Fluchtwelle über Ungarn und die Unruhe, die sie in der DDR auslöste, änderte sich die Konstellation grundlegend (siehe August 1989). Viele Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler kamen in diesen Wochen zu der Überzeugung, es sei an der Zeit, sich zu Wort zu melden und eine kritische Öffentlichkeit zu schaffen. Einen wichtigen Beitrag leisteten dabei auch die evangelischen Kirchen, in deren Schutzraum die meisten Gruppen in der Zeit zuvor aktiv gewesen waren. Die Kirchenleitung forderte in einem Brief an Honecker, der in den Gemeinden verlesen wurde, einen offenen Dialog über die Ursachen der Fluchtwelle. Die Staatssicherheit war deshalb stark beunruhigt:

 

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Die Gründung des Neuen Forums

Die Bürgerrechtsinitiative mit der bald größten öffentlichen Resonanz war das Neue Forum, das am 9./10. September in Grünheide bei Berlin ins Leben gerufen wurde. Ihre Kernbotschaft war: "Die Zeit ist reif." Von der Staatssicherheit wurde sie genau beobachtet:

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Das MfS bekämpft die aufblühende Bürgerrechtsszene

Das Neue Forum war eine von mehreren politischen Initiativen, die in diesen Wochen gestartet wurden oder, schon etwas länger in Vorbereitung, nun zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gingen: die Initiative für die Schaffung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR, die "Vereinigte Linke", der "Demokratische Aufbruch" und "Demokratie jetzt". Zudem solidarisierten sich Liedermacher und Prominente aus der Rockmusik mit den Forderungen der Bürgerrechtsgruppen. Das war auch aus Sicht der Stasi "eine neue Qualität" des Vorgehens "feindlicher, oppositioneller Kräfte". Minister Mielke hatte all das der SED-Führung mitgeteilt und, wie er berichtet, Einverständnis hergestellt, dass auch die SED zur Zurückdrängung dieser Bewegung eingespannt werden müsse:

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Am nächsten Tag, dem 22. September, forderte Erich Honecker in einem Fernschreiben an die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen, die "konterrevolutionären Gruppen" zu bekämpfen, und erklärte, "dass diese feindlichen Aktionen im Keime erstickt werden müssen". Das war eine Wortwahl, die schärfer war als die der Staatssicherheit (die zum Beispiel das Adjektiv "konterrevolution" zur Kennzeichnung der Gruppen nicht verwendete). Dass Honeckers Forderung aus ihrer Sicht illusionär war, zeigt das Protokoll einer Dienstbesprechung von Mielkes Stellvertreter Rudi Mittig mit hohen Stasi-Offizieren aus den Bezirksverwaltungen über aktuelle Fragen der inneren Repression.

In den "Informationen" zur "Bildung der oppositionellen Sammlungsbewegung 'Neues Forum'" und zu dessen Gründung und Vorhaben werden die weiteren Aktivitäten des Neuen Forum geschildert. Dass ihre Initiative von staatlicher Seite als "staatsfeindliche Plattform" bezeichnet wurde, vermochte die Initiatoren nicht einzuschüchtern.

Es gab noch eine Reihe weiterer Initiativen der Bürgerrechtsbewegung. Eine davon war der "Demokratische Aufbruch", über den ein Spitzen-IM der Hauptabteilung XX berichtete:

 

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Mitglieder des Neuen Forums sitzen auf dem Podium während einer Veranstaltung in der Berliner Christuskirche. Die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley (Mitte) spricht in ein Mikrofon.

Die meiste öffentliche Aufmerksamkeit aber erhielt das Neue Forum. In der folgenden "Information" des MfS wird geschildert, dass sich die Aktivisten des Neuen Forums durch die Drohung mit strafrechtlicher Verfolgung nicht einschüchtern ließen. Zweitens verzeichnet es eine wachsende Resonanz ihres Gründungsaufrufs unter den "Kunst- und Kulturschaffenden":

 

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Am weitesten in die Zukunft wies eine Aktivität von Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern aus verschiedenen Gruppen am 4. Oktober 1989, die in einer "Gemeinsamen Erklärung" freie Wahlen unter UNO-Kontrolle forderten.

Die Bürgerrechtsbewegung gewann im folgenden Monat Oktober noch weiter an Einfluss innerhalb der DDR-Bevölkerung. Das gesellschaftliche Klima veränderte sich und das Neue Forum fand immer mehr Sympathisanten.

  1. August 1989
  2. Oktober 1989