Wie auch in den anderen nördlichen Bezirken entfaltete der Aufstand im Bezirk Rostock nicht dieselbe Dynamik wie im Süden der DDR. Dennoch kam es auch hier zu Streiks, Demonstrationen und Aktionen gegen die herrschende Ordnung. Zentren des Geschehens im Norden waren die Hafen- und Werftstädte Rostock und Warnemünde, Wismar, Wolgast sowie Stralsund. Hier gab es eine hohe Konzentration von Arbeitern, neben Hafen- und Werftarbeitern auch Bauarbeiter aus anderen Bezirken, die sich zumeist entscheidend an Streiks und Demonstrationen beteiligten. 

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Eine Losung mit dem Schriftzug "Nieder mit dem Iwan" auf einer in der Tür verbauten Fensterscheibe.

Schlechte Stimmung an der Küste

Auch im Norden der DDR war die Atmosphäre im Juni 1953 angespannt. Ursachen waren die miserable Wirtschaftslage, die katastrophale Versorgung mit Lebensmitteln, die Unzufriedenheit mit der Regierung, die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft und die Verfolgung des bürgerlichen Mittelstandes. Hinzu kamen die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft und die Anwesenheit der Roten Armee. In zahlreichen Orten an der gesamten Ostseeküste wurden zwischen Januar und April 1953 in der "Aktion Rose" die noch privaten 621 Hotels, Pensionen und Gasthäuser enteignet. Deren Besitzer wurden größtenteils verhaftet und verurteilt. 219 Personen gelang es noch rechtzeitig, in den Westen Deutschlands zu fliehen. Diese Aktion drückte die Stimmung an der Küste zusätzlich.

Wie auch in den anderen nördlichen Bezirken entfaltete der Aufstand im Bezirk Rostock nicht dieselbe Dynamik wie im Süden der DDR. Dennoch kam es auch hier zu Streiks, Demonstrationen und Aktionen gegen die herrschende Ordnung. Zentren des Geschehens im Norden waren die Hafen- und Werftstädte Rostock und Warnemünde, Wismar, Wolgast sowie Stralsund. Hier gab es eine hohe Konzentration von Arbeitern, neben Hafen- und Werftarbeitern auch Bauarbeiter aus anderen Bezirken, die sich zumeist entscheidend an Streiks und Demonstrationen beteiligten. In den meisten Städten und Gemeinden kam es erst am 18. Juni zu Aktionen. Auch auf Rügen kam es zu Protesten. Weitere Aktionen sind zum Beispiel aus Bergen, Binz, Prora und Putbus überliefert.

Protest auf der Warnowwerft in Warnemünde

Das Schwarz-Weiß-Bild zeigt ein Schwimmdock der Warnowwerft im Überseehafen Rostock. Davor fährt ein Schlepper.

Ähnlich wie in allen anderen Rostocker Großbetrieben war es auch auf der Warnowwerft in Warnemünde der Betriebsleitung am 17. Juni noch gelungen, Streiks und gewaltsame Aktionen zu verhindern. Sie schaffte dies, indem sie Belegschaftsversammlungen zuließ, in denen die Arbeiter ihre Forderungen vortragen durften. Die Versammlungen waren aber unbefriedigend, die Arbeiter wurden zumeist nur vertröstet. Am Morgen des 18. Juni hatte sich die Stimmung auf der Warnowwerft deshalb weiter verschlechtert. Über den Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) erfuhren die Werftarbeiter von den Ereignissen in Berlin, Halle und anderen Städten am 16./17. Juni. Sie hörten auch von den Verletzten und Toten und von den sowjetischen Panzern.

Rasend schnell verbreiteten sich außerdem Nachrichten von Protesten im Dieselmotorenwerk und auf der Neptunwerft in Rostock. Der Unmut über die wirtschaftlichen Zustände und das brutale Vorgehen in Berlin und anderswo entlud sich zunächst in einer Protestversammlung der Belegschaft in Halle I. Mehrere Arbeiter meldeten sich zu Wort. Sie betonten, dass diese Aktion ein Teil des Aufstandes in der DDR wäre. Dann wählten die Anwesenden eine Kommission, die mit der Werksleitung über rund 30 Forderungen der Arbeiter verhandeln sollte. Gegen 9:00 Uhr, während dieser Verhandlungen, formierte sich auf dem Werftgelände eine Demonstration mit weit über 1.000 Teilnehmern. Im Laufe des Tages legten schließlich die rund 10.000 Beschäftige aller drei Schichten auf der Werft die Arbeit nieder.

Zunächst protestierten die Arbeiter und auch Angestellten gegen die absurden Normenerhöhungen. Hinzu kamen weitere politische und soziale Forderungen wie die nach Fahr- und Wegegeld, 18 Tagen Urlaub, vernünftiger Arbeitsschutzbekleidung und Vollmilch für Arbeiter mit gesundheitsschädigenden Aufgaben. Außerdem forderten sie die Bildung einer Arbeiterkommission aus Vertretern aller Werftabteilungen. Bald machten ersten politische Forderungen die Runde, wie die Absetzung der Regierung, gesamtdeutsche Wahlen, die Freilassung aller politischen Gefangenen und das Setzen der Flaggen auf Halbmast für die am Vortag Erschossenen.

Etwa 600 Arbeiter formierten einen Protestzug, der zunächst durch das Werk führte. Dabei rissen aufgebrachte Demonstranten im Betriebsgelände die Bilder von Walter Ulbricht und von "verdienten Aktivisten" von den Wänden und zerstören sie. Ein geplanter Marsch nach Rostock gelang jedoch nicht. Sowjetische Truppen und Kasernierte Volkspolizei verschlossen die Werktore und hinderten die Werftarbeiter am Verlassen des Geländes. Als sowjetische Soldaten auch noch Warnschüsse über die Köpfe der Demonstrierenden abgaben, zogen sich die Arbeiter in die Werkhallen zurück. Die Anwesenheit der sowjetischen Truppen half schließlich auch, die Streiks endgültig zu beenden – obwohl es noch bis zum 20. Juni vereinzelt zu Protesten und Arbeitsniederlegungen auf der Werft kam.

 

Das Schicksal des Schweißers Robert Dahlem

Zu den Hauptrednern auf der Warnowwerft zählte der Schweißer Robert Dahlem. Er war Jahrgang 1922 und Sohn des KPD/SED-Spitzenfunktionärs Franz Dahlem, der als Rivale Walter Ulbrichts im Frühjahr 1953 in Ungnade gefallen war. Robert Dahlem war im Moskauer Exil der Stalin-Ära aufgewachsen und dadurch wohl auch geprägt worden. So entschied es sich nach 1945 gegen eine Karriere in der KPD/SED und arbeitete wieder in seinem Beruf. Hier, an der Basis, sah er, wie weit entfernt die Realität in der DDR von den Versprechungen und den Idealen der SED war.

Am Morgen des 18. Juni sorgte er entscheidend mit dafür, dass die Proteste auf der Warnowwerft weitergingen. In der Frühschicht scharte er rund 50 Elektro-Schweißer um sich und stellte mit ihnen einen Forderungskatalog zusammen. Später wählte man ihn in die Arbeiterkommission. Die von ihm eingebrachten Forderungen waren politischer Sprengstoff. Demnach sollten nicht nur auf der Werft und in allen anderen Industrie-Betrieben der DDR Arbeiterräte gebildet werden. Ebenso sollten sich auf dem Land Bauernräte in den Maschinen-Traktoren-Stationen und in den LPG bilden. Vertreter aller dieser Räte hätten dann auf einem Kongress eine wirkliche Arbeiter- und Bauernregierung zu wählen. Außerdem forderte Dahlem die Abschaffung der "Spitzeltätigkeit" durch die Staatssicherheit und den Abzug der sowjetischen Truppen von der Warnowwerft.

Am 19. Juni wurde Robert Dahlem gegen 9:00 Uhr von sowjetischen Soldaten als sogenannter Rädelsführer verhaftet. Anfang Juli übergab ihn die Besatzungsmacht an die Stasi-Zentrale in Berlin. Der offizielle Haftbefehl vom 6. Juli warf ihm vor, "nach dem 08. Mai 1945 durch faschistische Propaganda den Frieden des Deutschen Volkes gefährdet zu haben, indem er [...] mittels links-radikaler, opportunistischer und faschistischer Losungen [...] zum Sturz der Regierung der Werktätigen aufforderte".

Franz Dahlem

„Ich bestreite entschieden, mich faschistisch betätigt zu haben und zwar deshalb nicht, weil meine ganze Vergangenheit gegen den Faschismus gerichtet war.“

Robert Dahlem
aus dem Ermittlungsbericht des Stadtbezirksgerichts Berlin-Mitte

Berlin, den 14.07.1953  An die Oberste Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik Abteilung I  in Berlin z.Hd.d. Herrn Staatsanwalt Löser  Es wird gebeten zu beantragen, den Haftbefehl gegen  [anonymisiert] geb. am [anonymisiert] in [anonymisiert] Beruf: Elektro—Schweißer wohnhaft: Warnemünde, [anonymisiert]  aufzuheben und das Verfahren einzustellen.

In den Verhören erklärte er mutig und offen, dass die Missstände auf der Werft und die gemachten Fehler der Regierung nicht durch Ablösung einzelner behoben werden könnten. Vielmehr müsste man eine Arbeiter- und Bauernregierung bilden, die von unten nach oben wähl- und kontrollierbar sei. Außerdem könnte man die "Speichelleckerei in der Verwaltung der Regierung und deren Institutionen" nicht beseitigen, wenn die Funktionäre nur von oben eingesetzt würden. Energisch verwahrte er sich gegen den Vorwurf faschistischer Tätigkeit, "weil meine ganze Vergangenheit gegen den Faschismus gerichtet war".

Am 15. Juli wurde der Haftbefehl überraschend aufgehoben. Vermutlich waren seine alten Kontakte in die Sowjetunion, die dortige Entstalinisierung und die persönliche Fürsprache seines Vaters bei Stasi-Minister Zaisser dafür ausschlaggebend. Es bestand angeblich kein ausreichender Haftgrund mehr. Aber erst ein halbes Jahr später, am 16. Januar 1954, stellte die Stasi auf persönliche Weisung des damaligen Generalleutnants Erich Mielke ihre Untersuchungen gegen Robert Dahlem ein. Der war jedoch inzwischen, noch im Herbst 1953, nach West-Berlin geflohen.

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Hinweis: Die Veröffentlichung des Artikels "Funktionär, Revolutionär, Republikflüchtling" auf dieser Seite wurde von der Geschichtswerkstatt Rostock genehmigt. Die Publikationsrechte liegen vollständig beim Verlag der Geschichtswerkstatt.

Streiks und Unruhen in Stralsund

Auch in Stralsund kam es zu Streiks und Unruhen auf der Werft, wo am Morgen des 18. Juni die gesamte Belegschaft in den Ausstand trat. Die 5.000 Arbeiter wählten eine Streikleitung und übermalten in einem ersten symbolischen Ausdruck ihres Protests den Namenszug eines auf der Werft gebauten Fischkutters. Er hatte im Laufe des Tages auf den Namen "Walter Ulbricht" getauft werden sollen. Währenddessen versuchten SED-Mitglieder und Polizisten, auf das Werftgelände zu gelangen, um die Belegschaft zur Arbeitsaufnahme zu bewegen. Als das allein nicht ausreichte, zogen sowjetische Soldaten und Panzer vor der Werft auf.

Trotz der hohen Militärpräsenz weitete sich die Bewegung am frühen Nachmittag auf die Innenstadt aus. Eine Reihe größerer Betriebe beteiligte sich an den Streiks, auch Angestellte von städtischen Verwaltungen traten in den Ausstand. Der Straßenbahnverkehr kam am Nachmittag zum erliegen. Zu größerem Aufruhr kam es jedoch nicht, auch weil die KVP anders als in anderen Städten vorsorglich Präsenz zeigte. So hatten Einheiten die Kreisdienststelle des MfS besetzt und so vor einer Erstürmung geschützt. Die Unruhen dauerten noch bis zum 23. Juni, verloren jedoch schnell ihre Heftigkeit. Die weiteren Auseinandersetzungen spielten sich zudem vorrangig in den Betrieben und vor allem auf der Werft ab.

Arbeiter auf der Volkswerft Stralsund

"Nieder mit dem Iwan" - Protestaktion in Binz

Von Stralsund sprang der Funke auf die Insel Rügen über. Hier reichten die Ereignisse von ganz persönlichen Widerstandshandlungen bis hin zu großen Arbeitsniederlegungen. Am 17. Juni 1953 hörten vier Angestellte der DDR-Handelsorganisation (HO) des Kreises Bergen heimlich im Kulturraum der HO die Nachrichten des Senders RIAS. So erfuhren sie von den Streiks und Demonstrationen in Berlin. Sie beschlossen, ebenfalls etwas gegen die DDR-Regierung und die Rote Armee zu unternehmen. Sie wollten in den Nachtstunden Sprüche an Häuserwänden in Binz anzubringen. Inzwischen war durch das sowjetische Militär der Ausnahmezustand verhängt worden. Deshalb beteiligte sich einer der Angestellten nicht mehr am nächtlichen Treffen. Die anderen drei wurden von einem Volkspolizisten gesehen und aufgefordert, nach Haus zu gehen. Auf dem Heimweg malten sie trotzdem an drei Stellen die Sprüche "Russki go hom", "Nieder mit dem Iwan" und "Nieder mit Grotewohl".

Das Schwarz-Weiß-Bild zeigt die Passfotos von vier Männern.

Eine Volkspolizeistreife entdeckte einen der Beteiligten und nahm ihn fest. Kurz darauf wurden auch die anderen drei verhaftet. Polizei und Stasi fotografierten die beschriebenen Flächen und ließen dann die Sprüche sofort entfernen. Auf diese Weise konnte die Aktion keine große öffentliche Wirkung erzielen. Bereits am 22. Juni fand am Bezirksgericht Rostock der Prozess statt. Er endete mit drakonischen Strafen. Acht Jahre Zuchthaus erhielt der Dekorateur, der die Sprüche angemalt hatte. Vier Jahre Zuchthaus gab es für die beiden Kollegen, die aufgepasst hatten, drei Jahre Zuchthaus für denjenigen, der nur bei den Absprachen dabei gewesen war.

Einer der Verurteilten focht das Urteil an. Auch der Staatsanwalt sah nach wenigen Tagen ein, dass das Strafmaß im Verhältnis zu ähnlich gelagerten Fällen in anderen Bezirken zu hart ausgefallen war. Er legte Protest zugunsten der Verurteilten ein. Im Juli 1953 wurde das Urteil vom Obersten Gericht der DDR geändert: Der Hauptbeschuldigte erhielt eine Zuchthausstrafe von vier Jahren, die beiden anderen Beteiligten jeweils zwei Jahre. Das Verfahren gegen den Vierten wurde eingestellt. Der hauptangeklagte Dekorateur musste über drei Jahre seiner Haftstrafe verbüßen, die anderen beiden jeweils 18 Monate.

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Aufstand der Zwangsarbeiter und Bauarbeiter auf Rügen

Bei Glowe auf Rügen arbeiteten seit 1951 etwa 10.000 Arbeiter unter schwierigen Bedingungen. Unter den Arbeitern befanden sich auch 5.000 Häftlinge, die hier Zwangsarbeit leisten mussten. Sie sollten dort einen neuen Hafen für die sowjetische Marine errichten, wofür sie unter anderem einen Durchstich der Landenge zwischen Ostsee und Großem Jasmunder Bodden ausheben mussten.

Der Durchstich sollte einer von zwei Zugängen zu dem gewaltigen Marinehafen werden. Am Morgen des 18. Juni ruhte jedoch die Arbeit. Die Bauarbeiter traten in den Streik und wählten eine Streikleitung, die Häftlinge blieben derweil untätig in ihren Baracken.

Die Bauleitung forderte sofort Einheiten der Kasernierten Volkspolizei aus der nahe gelegenen Garnison Prora an. Gemeinsam mit sowjetischen Trupps schlugen sie den Erhebung nieder. Das MfS verhaftete die Streikführer. Das Hafenprojekt fand nach den Ereignissen jedoch ein jähes Ende. Wenige Tage nach der Niederschlagung des Aufstands wurden alle Bauarbeiter entlassen und die Häftlinge auf verschiedene Zuchthäuser in der DDR verteilt.

Das bild zeigt eine Karte mit einem Ausstsich auf Rügen mit einer rot markierten Stelle und die dazugehörige Aufschrift: "geplanter Durchstich"

Literatur

Publikation

Die DDR im Blick der Stasi 1953

Die geheimen Berichte an die SED-Führung

1953: Im Juni löste der Volksaufstand in der Stasi eine intensive Stimmungs- und Lageberichterstattung aus, die innerhalb von wenigen Wochen in ein geregeltes Informationswesen mit festen Strukturen und einem vorgegebenen Berichtskanon mündete.

Publikation

17. Juni 1953: Volksaufstand in der DDR

Ursachen – Abläufe – Folgen

Im Buch wird anschaulich auf der Grundlage umfangreicher Quellenüberlieferungen die gesamte Breite des Volksaufstandes vom 17. Juni geschildert. In Fallstudien rekonstruiert der Autor die Geschehnisse in sämtlichen Regionen der DDR.

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