1953 war Berlin zwar schon seit fünf Jahren politisch geteilt. Gefühlsmäßig unterschieden die Berliner jedoch noch nicht zwischen Ost und West, die Teilung in zwei Einflussbereiche erschien ihnen vorübergehend. So kam es, dass sich auch einige West-Berliner an den Ereignissen des 17. Juni beteiligten.

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Ein sowjetischer T-54 Panzer, welcher am U-Bahnhof Stadtmitte in Berlin-Friedrichshain am 17.06.1953 abgestellt worden ist. Im Hintergrund dieses Fotos kann man eine größere Ansammlung von Zivilisten erkennen.

Jeder kannte Menschen im anderen Teil, die S-Bahnen beförderten ihre Passagiere von Ost nach West mit wenigen und nur stichprobenartigen Kontrollen an den Sektorengrenzen. Mindestens 80.000 Ost-Berliner arbeiteten in West-Berlin für Westgeld. Auch in die umgekehrte Richtung pendelten täglich etwa 40.000 West-Berliner in den Osten zur Arbeit. So kam es, dass sich auch einige West-Berliner an den Ereignissen des 17. Juni beteiligten. Auch der West-Berliner Rundfunk RIAS spielte eine wichtige Rolle.

Normerhöhungen führen zu Unruhe

Unter den Bauarbeitern auf der Stalinallee und auf den angrenzenden Baustellen rumorte es bereits vor dem 17. Juni heftig. Sie gehörten zwar zu den priviligierten Lohnempfängern, manche verdienten das Zwei- bis Dreifache des damaligen Durchschnittseinkommens. Die geplanten Normerhöhungen bedeuteten für die Bauarbeiter jedoch erhebliche Lohneinbußen. Die Politbürobeschlüsse der SED vom 9. Juni 1953 hatten zu weiteren Diskussionen geführt. Sie hatten die Normenfrage einfach ausgeklammert.

Am Freitag, den 12. Juni, fand auf einer Baustelle der Stalinallee eine kurze Belegschaftsversammlung statt. Darin stellte der Bauleiter eine Resolution im Namen der Bauarbeiter vor, in der sie sich "freiwillig" zu einer zehnprozentigen Erhöhung der Normen verpflichteten. Das wollten die Bauarbeiter so nicht hinnehmen und protestierten heftig. Sie verlangten, mit Regierungsvertretern zu sprechen. Tatsächlich erschienen einige SED-Funktionäre und debattierten mit den Arbeitern, konnten sie jedoch nicht überzeugen. Die Belegschaft nahm zwar die Arbeit wieder auf, kündigte jedoch vorsichtig einen Streik an für den kommenden Montag, den 15. Juni.

Am Samstag, den 13. Juni, unternahm die Gewerkschaftsleitung einen seit längerem geplanten Betriebsausflug mit den Bauarbeitern, die auf der Baustelle des Krankenhauses Friedrichshain beschäftigt waren. Sie fuhren auf den Fahrgastschiffen "Seid bereit" und "Triumph" über den Müggelsee zum Ausflugslokal "Rübezahl". Die Baustelle gehörte zwar nicht zum Großprojekt Stalinallee, war jedoch nur durch einen Friedhof davon getrennt. Die meisten Ausflügler wussten also von den Ereignissen des Vortages. Auch die Streikabsichten ihrer Kollegen waren ihnen bekannt.

Beginn der Demonstrationen auf den Baustellen

Am 15. Juni 1953 verschärfte sich die Unruhe auf den Baustellen rund um die Stalinallee weiter. Die Löhne waren ausgezahlt worden, ihre Höhe richtete sich bereits nach den neuen Normen. Die Arbeiter der Baustelle Krankenhaus Friedrichshain blieben daraufhin in ihren Baubuden sitzen. Sie wollten erst wieder an die Arbeit gehen, wenn die Normerhöhungen zurück genommen seien. Sie verfassten eine Resolution und schickten eine Delegation zum DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. Darin forderten die Arbeiter eine Stellungnahme bis zum Mittag des folgenden Tages.

Am Morgen des 16. Juni 1953 ruhte die Arbeit weiter, man wartete auf die Antwort des Ministerpräsidenten. Führende Gewerkschaftsfunktionäre versuchten die Arbeiter davon zu überzeugen, dass eine Rücknahme der Normen nicht möglich sei. Es kam zu heftigen Diskussionen zwischen den Arbeitern und den Funktionären. An der Versammlung nahmen auch zwei Arbeiter von Block 40 der Stalinallee teil. Sie wollten die Kollegen dazu bewegen, zu einer Versammlung auf ihrer Baustelle zu kommen. Gewerkschaftsfunktionäre verhinderten das.

Auf dem Rückweg standen die beiden Abgesandten vor verschlossenen Toren. Der Direktor des Krankenhauses hatte aus unbekannten Gründen die Zufahrtstore zum Krankenhausareal schließen lassen. Die beiden Bauarbeiter mussten über den Zaun springen, gingen zu ihren Kollegen am Block 40 zurück und berichteten, dass man die Bauarbeiter am Krankenhaus eingesperrt habe.

Auch am Block 40 war seit den frühen Morgenstunden heftig diskutiert worden. Gegen 8:30 Uhr zogen die ersten 80 Bauarbeiter durch die Stalinallee. Sie liefen die einzelnen Bauabschnitte ab und forderten die dortigen Arbeiter zum Mitkommen auf: "Heraus zur Demonstration, übt Solidarität". Um 9:30 Uhr war der Zug bereits auf 2.000 Personen angewachsen. Etwa 500 Bauarbeiter zogen zum Krankenhaus Friedrichshain, brachen die Tore auf und riefen ihre Kollegen auf, am Marsch teilzunehmen. Anstatt weiter auf eine Antwort von Grotewohl zu warten, wollten die Demonstranten zum Haus der Ministerien ziehen, um dort direkt mit den Repräsentanten des Staats zu verhandeln.

Protestzug zum Haus der Ministerien

Die Nachrichten von den Ereignissen in der Stalinallee verbreiteten sich in Berlin in Windeseile. Mehrere Bauarbeiter fuhren mit Fahrrädern und Motorrädern zu weiter entfernt liegenden Baustellen und erzählten, was bisher geschehen war. In der Folge schlossen sich die Belegschaften von immer mehr Baustellen der Streikbewegung an. Am frühen Nachmittag gesellten sich erste Industriebetriebe hinzu.

Der Hauptzug der Bauarbeiter marschierte geschlossen und diszipliniert von der Stalinallee über den Strausberger Platz, den Alexanderplatz, den Marx-Engels-Platz, über die Straße Unter den Linden und die Friedrichstraße zum Haus der Ministerien in der Leipziger Straße. Die Spitze des Demonstrationszuges erreichte gegen 13:30 Uhr das Haus der Ministerien, das direkt an der Sektorengrenze lag. Bald standen über 10.000 Arbeiter und Passanten vor dem Gebäude.

Die Demonstranten wollten mit SED-Chef Ulbricht oder mit Ministerpräsident Otto Grotewohl sprechen. Beide waren jedoch nicht im Haus. Gegen 14:00 Uhr erschien dann der Minister für Bergbau und Hüttenwesen, Fritz Selbmann, vor dem Gebäude. Er stellte sich auf einen Tisch und rief den Arbeitern zu, die Normen seien zurückgenommen. Die Demonstranten unterbrachen seine Rede jedoch ständig. Auf Selbmanns Ruf "Ich bin doch selbst ein Arbeiter!" antwortete man ihm: "Das hast Du aber längst vergessen." Auf die Anrede "Liebe Kollegen" schrie die Menge wütend zurück: "Du bist nicht unser Kollege – du bist ein Lump und Verräter".

Volkspolizisten beobachten einen Demonstrationszug vor dem Haus der Ministerien in der Leipziger Straße, 17. Juni 1953.

Dass das SED-Politbüro die Normenerhöhung tatsächlich bereits zurückgenommen hatte und die DDR-Rundfunksender diese Nachrichten verbreiteten, interessierte zu diesem Zeitpunkt vor dem Haus der Ministerien kaum noch jemanden. Die Proteste hatten längst andere Ziele. Ein Arbeiter zog Selbmann schließlich vom Tisch, stieg selbst hinauf und erklärte unter donnerndem Beifall der Versammelten: "Was Du uns erklärt hast, interessiert uns überhaupt nicht."

Die Demonstration richte sich nicht nur gegen die Normen. Dies sei eine Volkserhebung für freie und geheime Wahlen. Der Minister versuchte zu antworten, wurde aber immer wieder niedergeschrien. "Wir wollen frei sein", rief es immer wieder aus der Menge. Ein anderer Arbeiter kam schließlich zu Wort: "Kollegen, unsere Forderungen werden ja doch nicht erfüllt. Unser Streik geht weiter. Für morgen rufen wir den Generalstreik aus!" Dieser Aufruf verbreitete sich in kürzester Zeit in ganz Ost-Berlin.

Ab 14:30 Uhr begannen die Demonstranten, den Platz vor dem Haus der Ministerien zu verlassen. Eilig schickte die SED Lautsprecherwagen durch die Stadt, die die Rücknahme der Normenerhöhungen bekanntgaben. Das war den Demonstranten jedoch mittlerweile egal. Sie bemächtigten sich einiger solcher Wagen und fuhren selbst damit durch die Straßen. Über die Lautsprecher verkündeten sie, dass am 17. Juni Generalstreik sei und alle Berliner sich um 7:00 Uhr am Strausberger Platz einfinden sollten. Die vom Haus der Ministerien zurückkehrenden Menschen bildeten an mehreren Stellen im Zentrum Ost-Berlins neue Demonstrationszüge und "Diskussionsgruppen". Immer mehr Menschen kamen hinzu, so dass am Abend an mehreren Orten in der Stadt insgesamt etwa 20.000 Menschen demonstrierten.

Auf einer Parteiversammlung am Abend des 16. Juni zeigte sich die SED-Führung zunächst unbeeindruckt von den Ereignissen. Zwar sprachen Grotewohl und Ulbricht vage von "Fehlern" und "Mängeln", die zu beheben seien. Auch verkündeten sie noch einmal, dass die Erhöhung der Arbeitsnormen aufgehoben werde. Eine konkrete Stellungnahme zu den Massendemonstrationen blieb die Staatsführung jedoch schuldig. Die Demonstrierenden auf der Straße konnten die Reden jedenfalls nicht beruhigen. In Ost-Berlin kam es noch am Abend zu mehreren handgreiflichen Auseinandersetzungen. An mehreren Sektorengrenzen rissen Demonstranten die Grenzschilder und Grenzbefestigungen nieder. An vielen Stellen der Stadt rissen Protestierende Plakate und Losungen der SED ab.

Rede Otto Grotewohl, Ministerpräsident der DDR

17. Juni 1953: Volksaufstand in Berlin

Bereits am Morgen des 17. Juni beschlossen die Belegschaften vieler Berliner Betriebe nach kurzen Versammlungen, ins Stadtzentrum zu marschieren. Allein in Ost-Berlin waren an diesem Tag 100.000 Menschen auf der Straße. Sogar aus Betrieben nördlich von Berlin zogen Belegschaften durch den Westteil ins östliche Zentrum. Die Arbeiter forderten nun nicht mehr nur die Rücknahme die Normerhöhung, sondern ebenso den Rücktritt der Regierung und freie Wahlen.

Am Strausberger Platz standen bereits vor 7:00 Uhr über 10.000 Menschen, darunter tausende Bauarbeiter von der Stalinallee. Immer mehr Personen strömten hinzu. Erlebte Ost-Berlin am 16. Juni noch eine Arbeitererhebung, so begannen die Ereignisse am 17. Juni sofort als Volksaufstand. Dabei gingen die Menschen nicht nur zum Strausberger Platz, sondern versammelten sich überall in der Innenstadt.

RIAS Interview mit einer Arbeiterin

Aus Hennigsdorf bewegte sich ein mächtiger Demonstrationsstrom durch West-Berlin auf Ost-Berlin zu. Aus dem Industrierevier Oberschönweide bei Köpenick zogen Zehntausende am Morgen in Richtung Innenstadt los. Die Polizei begann, allmählich die Übersicht zu verlieren. Kleinere Züge mit fünfhundert oder tausend Protestierenden konnte sie bald gar nicht mehr registrieren. Ihre Absperrketten wurden zumeist mühelos oder nach kleineren Auseinandersetzungen von den Massen überrannt. Selbst Schlagstockeinsätze beeindruckten die Protestierenden nicht.

Die Demonstranten zogen in Berlin unter Losungen durch die Innenstadt, die ganz klar machten, dass es sich längst um einen Protest gegen die politischen Verhältnisse in der DDR handelte:

  • "Freie Wahlen"
  • "Abzug der Russen"
  • "Nieder mit Walter Ulbricht"
  • "Wir fordern den Generalstreik"
  • "Nieder mit der deutsch-sowjetischen Freundschaft"
  • "Wir brauchen keine SED"
  • "Wir brauchen keine Volksarmee"
  •  "Nieder mit der Regierung Grotewohl"

Massendemonstrationen in ganz Berlin

Vor dem Brandenburger Tor, vor dem Haus der Ministerien in der Leipziger Straße, auf dem Marx-Engels-Platz, an der Oberbaumbrücke, auf dem Alexanderplatz und in der Friedrichstraße demonstrierten zwischen 8:00 und 9:00 Uhr jeweils Zehntausende. Auf der Straße Unter den Linden standen um 9.00 Uhr 30.000 Menschen. Gegen 11:00 Uhr demonstrierte eine kaum noch übersehbare Masse von 150.000 Menschen. Am späten Vormittag fand auf dem Marx-Engels-Platz eine Kundgebung mit etwa 50.000 bis 60.000 Teilnehmern statt.

Nun kam es auch zu Brandstiftungen. Ein Aufklärungslokal der Nationalen Front am Potsdamer Platz ging in Flammen auf. Viele weitere Kioske folgten. Die Nationale Front war die Vereinigung aller Parteien und Massenorganisationen der DDR. In ihren Lokalen verbreitete sie die Propaganda der Staatsführung. Tausende belagerten das Columbus-Haus auf dem Potsdamer Platz. Das im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte Warenhaus beherbergte eine HO-Verkaufsstelle und eine Polizeidienststelle.

Zwischen 10:00 und 11:00 Uhr mussten sich die darin befindlichen Volkspolizisten ergeben. Ihre Uniformteile flogen unter dem Gejohle Tausender aus dem Fenster. Einige Polizisten flohen in die Obhut der West-Berliner Polizei. Aus Unterlagen West-Berliner Behörden geht hervor, dass im Zuge dieser und ähnlicher Ereignisse insgesamt mehrere hundert Volkspolizisten desertierten und im Westen blieben.

Die Demonstranten versuchten, noch in viele weitere Gebäude einzudringen, auch in die SED-Kreisleitung Mitte in der Friedrichstraße. Vor diesem Gebäude standen etwa 20.000 Menschen, einige Hundert stürmten das Haus und drangen bis in den zweiten Stock vor. Sie verwüsteten Teile der Inneneinrichtung und warfen Propagandaschriften und Formulare aus den Fenstern. Die Besetzer konnten erst mit Waffengewalt wieder vertrieben werden.

Vom Brandenburger Tor holten Jugendliche die Rote Fahne herunter und verbrannten sie. Drei Stunden später versuchte eine weitere Gruppe Jugendlicher, die schwarz-rot-goldene Fahne zu hissen. Ordnungskräfte vertrieben sie jedoch.

RIAS Bericht vom Brandenburger Tor und vom Potsdamer Platz

Schwere Zusammenstöße mit der Volkspolizei

Auch in das Haus der Ministerien, vor dem etwa 30.000 bis 40.000 Menschen demonstrierten, drangen mehrere hundert Protestierende ein. Sie zerstörten einige Räume und legten Feuer. Die wenigen Wachkräfte waren völlig überfordert. Erst ab 13:00 Uhr konnten sowjetische Einheiten das Gebäude räumen. Polizei und MfS verhafteten dabei 173 Personen und übergaben sie dem sowjetischen Militär.

Zu schweren Zusammenstößen mit der Volkspolizei kam es auch auf dem Alexanderplatz. Das unweit gelegene Polizeipräsidium in der Keibelstraße sollte gestürmt werden, die Aufständischen vermuteten darin politische Häftlinge. Stundenlang tobten die Auseinandersetzungen. Es gelang den Demonstranten nicht, in das Polizeipräsidium einzudringen. Dafür gingen vier LKW der Polizei in Flammen auf und viele Fensterscheiben des Gebäudes zerbrachen im Steinhagel. Gegen 14:00 Uhr erstürmten Demonstranten das HO-Kaufhaus auf dem Alexanderplatz und verwüsteten es.

Die SED-Führung hatte unterdessen gegen 10:00 Uhr ihre Politbürositzung unterbrochen. Sie verließ die Innenstadt in einer geschlossenen Wagenkolonne. Auf Anordnung des sowjetischen Hochkommissars Semjonow fuhren die SED-Oberen ins sowjetische Hauptquartier nach Karlshorst. Nur Karl Schirdewan blieb als ranghöchster SED-Vertreter im Gebäude des SED-Zentralkomitees. Dort musste er hilflos mit ansehen, wie die Demonstranten die Fensterscheiben einwarfen und ihn nur sowjetische Panzer schützten.

SED-Politbürokandidat Rudolf Herrnstadt erinnerte sich später, dass die SED-Führung in Karlhorst weitgehend untätig herumstand. Das sowjetische Oberkommando hatte längst die Führung übernommen und beschloss erste Maßnahmen, um den Aufstand niederzuschlagen.

Einmarsch sowjetischer Armee-Einheiten

Bereits kurz nach 8:00 Uhr waren die ersten sowjetischen Mannschaftswagen in Berlin aufgetaucht. Gegen 9:00 Uhr folgten die ersten Panzerspähwagen und ab 11:30 Uhr schwere sowjetische Panzer. Insgesamt brachte die sowjetische Militärmacht in Ost-Berlin drei Divisionen mit 600 Panzern zum Einsatz. Das Kommando übernahm ein sowjetischer Marschall, der dafür extra aus Moskau angereist war. Diese riesige Armee beunruhigte die Berliner. Der Krach der Panzerketten auf den Straßen erinnerte viele an den erst acht Jahre zurückliegenden Krieg.

Ab 12:00 Uhr fielen die ersten Schüsse aus sowjetischen Maschinenpistolen. Die Soldaten schossen zumeist über die Köpfe der Aufständischen hinweg. Wenn sie sich aber bedroht fühlten, schossen sie auch in die Menge. Mindestens sieben Personen wurden am 17. Juni erschossen, viele weitere schwer verletzt. Die Schüsse und der massive Aufmarsch gepanzerter Einheiten schüchterten die Protestierenden ein. Angriffe der Bevölkerung auf sowjetische Panzer und Soldaten waren selten. Die weltweit bekannt gewordenen Bilder junger Männer, die Panzer mit Steinen und Flaschen attackierten, zeigten die Ausnahme, nicht die Regel.

Der Einsatz der sowjetischen Armee bewirkte zunächst, dass sich Tausende von den Straßen zurückzogen. Zugleich aber nahmen die Auseinandersetzungen an Aggressivität zu. Die Wut entlud sich dabei in Zerstörungen. Ganze Ladenzeilen wurden leergeräumt und brannten aus, von dutzenden Kraftfahrzeugen der Polizei und des Staates blieben nur ausgebrannte Reste.

Demonstranten werfen Steine auf sowjetische Panzer.

Angriffe auf Offiziere der Staatssicherheit

Dabei bekamen auch Offiziere der Stasi den Zorn des Volkes zu spüren. Ein besonders prominentes Beispiel ist Oberstleutnant Rudolf Gutsche, damals Leiter der für Beobachtung und Ermittlungen zuständigen MfS-Abteilung VIII. Am späten Vormittag des 17. Juni war Gutsche mit einem anderen MfS-Offizier in seinem weinroten BMW am Alexanderplatz unterwegs, einem der Zentren des Aufstandes. Dort gab es zu diesem Zeitpunkt große Ansammlungen aufgebrachter Demonstranten. Unmittelbar nach der Einmündung zur Rathausstraße rammte ein LKW den MfS-Dienstwagen und brachte ihn so zum Stehen. Der Fahrer des LKW hatte den BMW am Nummernschild als Regierungsfahrzeug erkannt und absichtlich aufs Korn genommen.

Herbeigeeilte Demonstranten schlugen die Scheiben des Wagens ein, zerrten den Fahrer heraus und verprügelten ihn. Auch der im Wagen verbliebene Beifahrer, wahrscheinlich Gutsche, wurde geschlagen. Die beiden Stasi-Offiziere versuchten, sich mit ihren Dienstwaffen zu verteidigen, einer der beiden gab einen Schuss ab. Das versetzte die Aufständischen erst recht in Wut. Sie überwältigten Gutsche und seinen Begleiter, nahmen ihnen die Waffen ab und prügelten nun noch stärker auf sie ein. Am Ende stürzten einige Demonstranten das Auto um und zündeten es an.

Später gelang es der Stasi, sie zu identifizieren und zu verhaften. Nach Erkenntnissen der Geheimpolizei suchten sie regelmäßig ein West-Berliner Vereinslokal des westdeutschen Bundes Deutscher Jugend (BDJ) auf, in dem sie auch Mitglied gewesen sein sollen. In der Vernehmung durch die Stasi gab später einer der beiden Hilfsarbeiter zu Protokoll, von der Organisation zu seinen Taten angestiftet worden zu sein.

Sie hätten Ende Mai 1953 von einem Vertreter des BDJ den Auftrag erhalten "im Falle von Unruhen und Tumulten aktiv gegen fortschrittliche Menschen und fortschrittliche Einrichtungen" vorzugehen. Man habe ihnen ausdrücklich aufgetragen, Fensterscheiben von HO-Geschäften einzuschlagen, Angehörige der SED und der Volkspolizei zu verprügeln und Autos umzukippen. Es ist möglich, dass die Stasi-Ermittler dem Häftling diese Formulierung in den Mund gelegt haben, um auftragsgemäß "westliche Hintermänner" als Anstifter des Angriffs zu entlarven.

Auch der Staatsanwalt betonte zwar später in seinem Prozessbericht, dass die beiden keine "ausgekochten und rücksichtslosen Gegner unserer Ordnung" seien. Sie seien vielmehr "haltlose und abenteuerlustige Vagabunden, die aus ihrer unfreundlichen Umgebung zu flüchten suchten und für den Gegner ein willfähriges Werkzeug wurden". Das hinderte den Ankläger jedoch nicht daran, für die Jugendlichen hohe Zuchthausstrafen zu fordern.

Dokument in der Stasi-Mediathek ansehen

Die Rolle des West-Berliner Radiosenders RIAS

Die "Rundfunkanstalt im amerikanischen Sektor" (den Meisten nur als "RIAS" bekannt) war ein Sender unter US-amerikanischer Hoheit, der seinen Sitz im West-Berliner Bezirk Schöneberg hatte. Er war als Gegenstück zum sowjetisch dominierten Berliner Rundfunk gegründet worden und bestand als RIAS bis 1993. Seine Programmgestaltung lag fast auschließlich in deutschen Händen.

Gerade in der Anfangszeit des Senders nahmen US-Offiziere Einfluss auf die Berichterstattung, wenn sie wie am 17. Juni 1953 negative Auswirkungen auf das politische Klima befürchteten. Der RIAS war einer der beliebtesten Radiosender in Berlin und auch in weiten Teilen der DDR zu empfangen.

Schon am 16. Juni sendete der RIAS gegen 16:30 Uhr einen längeren Bericht über die Vorgänge in Ost-Berlin. Darin hieß es unter anderem: "In Sprechchören wurde immer wieder die Forderung nach freien Wahlen gestellt, während Einzelne zum Generalstreik aufriefen." Unterdessen erschienen im RIAS-Gebäude zwei Männer und eine Frau von der Stalinallee.

Selbstständig und ohne Auftrag waren sie direkt nach der Demonstration vor dem Haus der Ministerien in das Funkhaus gegangen. Die drei berichteten von den Vorgängen und baten den RIAS, eine Resolution verlesen zu lassen. Es kam zu Verhandlungen innerhalb des RIAS, in deren Folge RIAS-Mitarbeiter die Resolution mitformulierten und dabei offenbar auch entschärften. Doch das, was der RIAS ab 19:30 Uhr in jeder Nachrichtensendung einen Tag lang verlas, besaß immer noch genügend Sprengkraft. Im Kern forderten die Arbeiter in dieser Resolution:

„Die Arbeiter haben durch ihren Streik und ihre Demonstrationen bewiesen, dass sie in der Lage sind, den Staat zur Bewilligung ihrer berechtigten Forderungen zu veranlassen.“

Resolution, gesendet im RIAS

Weiter heißt es: "Die Arbeiter werden von dieser Möglichkeit wieder Gebrauch machen, wenn die Organe des Staates der SED nicht unverzüglich folgende Maßnahmen einleiten: Auszahlung der Löhne nach den alten Normen, schon bei der Lohnzahlung, sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten, freie und geheime Wahlen, keine Maßregelung der Streikenden und ihrer Sprecher."

Anschließend kommentierte der RIAS-Programmdirektor, Eberhard Schütz. Obwohl er sichtlich bemüht war, die Stimmung nicht weiter aufzuheizen, wirkte auch sein Kommentar mobilisierend für den nächsten Tag. Es hieß bei ihm unter anderem: "Macht Euch die Ungewissheit, die Unsicherheit der Funktionäre zunutze. Verlangt das Mögliche – wer von uns in West-Berlin wäre bereit, heute zu sagen, dass das, was vor acht Tagen noch unmöglich schien, heute nicht möglich schien."

Strikt vermied der RIAS, das Wort "Generalstreik" zu wiederholen. Der zuständige amerikanische Offizier hatte das am Nachmittag verboten. Ab 23:00 Uhr berichtete der RIAS in seinen Nachrichten, dass am nächsten Morgen um 7:00 Uhr alle Ost-Berliner aufgerufen seien, sich am Strausberger Platz zu einer Demonstration zu versammeln. Unterdessen dachte die Redaktion fieberhaft darüber nach, wie der RIAS doch noch politisch reagieren könnte. Die Lösung kam in Person des Westberliner DGB-Vorsitzenden Ernst Scharnowski. In einem Kommentarbeitrag würde er deutlichere Worte finden können als der RIAS in seinen Nachrichtensendungen. Scharnowski formulierte einen Aufruf, der schließlich am 17. Juni kurz nach 5:30 Uhr erstmals ausgestrahlt wurde:

"Als dienstältester demokratischer Gewerkschaftler und Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes östlich der Elbe kann ich Euch in der Ostzone und Ost-Berlin keine Anweisungen erteilen. Ich kann Euch nur aus ehrlichster Verbundenheit Ratschläge geben." Sein dann am Schluss des Kommentars erteilter Ratschlag hat wohl durchaus Wirkung entfaltet: "Tretet darum der Bewegung der Ost-Berliner Bauarbeiter, BVGer und Eisenbahner bei und sucht Eure Strausberger Plätze überall auf. Je größer die Beteiligung ist, desto machtvoller und disziplinierter wird die Bewegung für Euch mit gutem Erfolg verlaufen."

Die Sendungen des RIAS wirkten mobilisierend auf die Berliner, aber vor allem auf die Menschen in den Bezirken der DDR. Denn nur durch den RIAS und durch westdeutsche Rundfunksender erfuhren sie von den Ereignissen in Berlin. Als am Morgen des 17. Juni die Arbeiter an ihre Arbeitsplätze kamen, beherrschten die vom RIAS verbreiteten Nachrichten die Gespräche. Die Ereignisse in Berlin lösten so die Volksbewegung im gesamten Land aus. Überall merkten die Menschen, dass sie nicht allein standen und orientierten sich am Berliner Beispiel.

Nach dem Aufstand: Die Stasi jagt Protestierende

Die wahrscheinlich letzte direkte Gerichtsverhandlung gegen Teilnehmer des Volksaufstandes fand am 6. September 1955 vor dem 1. Strafsenat des Stadtgerichts von Ost-Berlin statt. Angeklagt war ein 25-jähriger Arbeiter. Als Angestellter in einem Privatbetrieb hatte er sich am 17. Juni 1953 an den Demonstrationen in Ost-Berlin beteiligt.

Am Potsdamer Platz bat ihn ein westlicher Fotograf, ein zerbrochenes Schild mit der Aufschrift "Der Präsident der Deutschen Demokratischen Republik, Büro für öffentliche Sprechstunden" in die Kamera zu halten. Der junge Mann tat dies. Wenige Tage später sah das Foto in der Illustrierten "Stern". Er befürchtete nun, von den DDR-Sicherheitsorganen erkannt und verhaftet zu werden. Deshalb flüchtete er am 26. Juni 1953 nach West-Berlin. Seine Furcht war begründet.

Bis Mitte 1954 wertete die Staatssicherheit Fotos aus und versuchte, die darauf befindlichen Personen zu identifizieren. Verantwortungsbewusste Zeitungen, Illustrierte und Buchautoren hatten deshalb auf den Fotos die Gesichter unkenntlich gemacht. Nur die Redaktion des "Stern" hielt das offenbar nicht für nötig. Der junge Flüchtling erhielt im Westen den Status eines "politischen Flüchtlings". Im Dezember 1953 gewann er sogar einen Prozess gegen die Zeitschrift wegen "Gefährdung der persönlichen Freiheit". Er erhielt die damals hohe Summe von 2.900 DM als Schadensersatz.

16 Monate später, am 30. April 1955, nahm die Staatssicherheit den jungen Mann fest. Die näheren Umstände, welche zur Verhaftung führten, sind anhand der Akten nicht zu rekonstruieren. Auch ob die Verhaftung auf dem Gebiet der DDR erfolgte, oder ob die Stasi den Mann aus dem Westen entführte, ist nicht bekannt. Bei seiner Festnahme trug der Arbeiter den ihn betreffenden Zeitungsausschnitt aus dem "Stern" bei sich. Das Gericht verurteilte ihn zu einem Jahr und neun Monaten Haft. Die Urteilsbegründung lautet, er habe "die westlichen Imperialisten und Kriegsbrandstifter aktiv unterstützt, die am 17. Juni 1953 durch organisierten Putsch versuchten, die Errungenschaften unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates zu beseitigen, die alten faschistischen Verhältnisse, die Macht der Monopolisten und Junker, wiederherzustellen".

Mit diesem Prozess war die direkte strafrechtliche Ahndung für eine Beteiligung am Volksaufstand beendet. Trotzdem spielte das Verhalten am 17. Juni 1953 oft auch in den politischen Strafprozessen der folgenden Jahre eine Rolle. War jemand bereits am 17. Juni "aufgefallen", konnte dies strafverschärfend zu Buche schlagen.

Literatur

Publikation

Die DDR im Blick der Stasi 1953

Die geheimen Berichte an die SED-Führung

1953: Im Juni löste der Volksaufstand in der Stasi eine intensive Stimmungs- und Lageberichterstattung aus, die innerhalb von wenigen Wochen in ein geregeltes Informationswesen mit festen Strukturen und einem vorgegebenen Berichtskanon mündete.

Publikation

Der "Tag X" und die Staatssicherheit

17. Juni 1953 - Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat

Das Buch schildert die Rolle der Staatssicherheit während des Aufstandes vom 17. Juni 1953 sowie die längerfristigen Konsequenzen für den Machtapparat des SED-Staates.

Publikation

17. Juni 1953: Volksaufstand in der DDR

Ursachen – Abläufe – Folgen

Im Buch wird anschaulich auf der Grundlage umfangreicher Quellenüberlieferungen die gesamte Breite des Volksaufstandes vom 17. Juni geschildert. In Fallstudien rekonstruiert der Autor die Geschehnisse in sämtlichen Regionen der DDR.

  1. II. Aufstand in den Bezirken
  2. Cottbus