Im Bezirk Erfurt dauerten die Unruhen noch Tage nach dem 17. Juni an. Wichtigste Zentren der Volksbewegung waren die Städte Sömmerda, Weimar, Erfurt, Nordhausen sowie die katholische Bevölkerung des Eichsfeldes. In Eckolstedt bei Apolda spielte ein evangelischer Pfarrer eine zentrale Rolle.

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Der Marktplatz der thrüngischen Stadt Sömmerda am 17. Juni 1953. Auf dem Platz hat sich eine große Menge Menschen eingefunden. Inmitten der Menge ist ein Mast mit Lautsprechern zu sehen, daneben ein Kleinbus mit Lautsprecheraufbauten. Es handelt sich um Lautsprecherausrüstung des nahen VEB Mechanik Büromaschinenwerk Rheinmetall. Viele der Menschen sind wahrscheinlich Arbeiter des Werks, das am 17. Juni bestreikt wurde.  Auf der Rückseite des Fotos ist handschriftlich vermerkt: "Sömmerda am 17.6.53 – Marktplatz mit Lautsprecherwagen des VEB Rheinmetall vorm Rathaus. Kundgebung der Arbeiter der Rheinmetall."

Begrenzter Aufstand in Erfurt

In Erfurt legten am 17. Juni mehrere hundert Bauarbeiter verschiedener Baustellen die Arbeit nieder. Sie bildeten einen Demonstrationszug und forderten den Rücktritt der Regierung. Im Hof des VEB Funkwerkes Erfurt versammelten sich bis zu 300 Betriebsangehörige, die uneingeschränktes Streikrecht, Herabsetzung der Normen, HO-Preissenkungen um vierzig Prozent und die Bestrafung der Regierungsmitglieder forderten.

Einen Tag später traten auch die Arbeiter des SAG-Betriebes Pels in Erfurt-Nord in den Streik und demonstrierten ebenfalls. Hier marschierten umgehend sowjetische Soldaten vor dem Betrieb auf. Auch am 19. Juni kam es noch zu kleineren Unruhen in Erfurt. Am Morgen streikten etwa 100 Straßenbahnfahrer für zwei Stunden und legten damit den öffentlichen Nahverkehr teilweise lahm. Sie wollten mit dem Streik verhaftete Kollegen freibekommen. Stattdessen kam es zu weiteren Verhaftungen. An den Verhaftungen war das MfS maßgeblich beteiligt, das schon am 17. Juni erste Personen festgenommen hatte. Insgesamt kamen in Erfurt 80 Personen in Haft, von denen die meisten allerdings ohne Urteil nach einigen Tagen oder Wochen wieder freikamen.

Demonstration in Sömmerda

Die zunehmende Unzufriedenheit mit der Politik der SED-Machthaber löste auch in den umliegenden Betrieben des Bezirkes Erfurt Unruhen aus. Der Aufstand entzündete sich am Unmut über die Normerhöhungen. Die Arbeiter wehrten sich gegen diese einschneidende Kürzung ihrer bescheidenen Löhne. Der größte Industriebetrieb Thüringens, der VEB Rheinmetall, lag damals in Sömmerda. Hier demonstrierten die Arbeiter besonders vehement für die Durchsetzung ihrer Forderungen.

Wie fast überall versammelten sich auch die Beschäftigten des Rheinmetall-Werkes zuerst auf dem Betriebsgelände. Dann gingen sie auf die Straßen und zogen vor das Rathaus. Die Demonstranten besetzten auch den Stadtrundfunk und riefen die Beschäftigten der anderen Sömmerdaer Betriebe sowie die Stadtbevölkerung zur Teilnahme an einer Kundgebung auf dem Marktplatz auf. Bereits am frühen Vormittag waren hier über 7.000 Demonstranten versammelt. Neben wirtschaftlichen Forderungen wie Senkung der Arbeitsnormen und Verbesserung der Versorgungslage standen politische Forderungen wie freie gesamtdeutsche Wahlen und Sturz der verhassten SED-Regierung.

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Der Hauch von Freiheit verwehte jedoch schnell. Am Nachmittag verhängte der sowjetische Militärkommandant Rjasankin in Sömmerda den Ausnahmezustand. In den Folgetagen begann eine große Verhaftungswelle. Redner und vermeintliche Führer des Aufstandes wurden zu meist vieljährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Andere flüchteten in den Westen und verloren ihre Heimat.

Unruhe im Kreisgericht Apolda

In Apolda, einer Stadt mit 30.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, kam es zunächst nur zu kleineren Zwischenfällen. Bei einer offiziellen Kundgebung am Nachmittag, auf der sowjetische Offiziere feierlich einen Traktor übergaben, kam es zu vereinzelten Zwischenrufen, die den Abzug der Besatzungstruppen forderten. Die Kundgebung ging danach jedoch ohne weitere Störungen zu Ende. Als jedoch am frühen Abend die Arbeiter aus Jena nach Apolda zurückkehrten und von den Unruhen dort berichteten, verbreiteten sich die Geschichten schnell in der Stadt. Gegen 17:00 Uhr fanden sich hunderte Demonstranten vor dem Kreisgericht ein und forderten die Freilassung aller politischen Häftlinge. In das Gerichtsgebäude selbst kamen die Demonstranten nicht hinein – es wurde bereits von sowjetischem Militär bewacht. Deshalb zog die Menge weiter vor die SED-Kreisleitung, wo ein junger Mann die Fahne vom Dach des Gebäudes holte.

Im Kreisgericht selbst herrschte jedoch bereits Unruhe seit den Mittagsstunden. Drei Angestellte – ein Notar, ein Gerichtsvollzieher und eine Richterin – hatten Verständnis für die Aufstände in Ost-Berlin, Jena und anderen Städten gezeigt und wollten eine Belegschaftsversammlung im Gericht einberufen. Der Gerichtsvollzieher, ein LDPD-Mitglied, fasste den Zweck einer solchen Versammlung zusammen: "Heute verfassen wir eine Resolution und sämtliche SED-Genossen haben das Kreisgericht zu verlassen." Die Versammlung kam jedoch nicht zustande. Stattdessen verhaftete das MfS die drei Angestellten. Sie kamen nach mehreren Wochen ohne Anklage wieder frei, die Richterin und der Gerichtsvollzieher flohen in den Westen.

Pfarrer organisiert den Widerstand in Eckolstädt

In Eckolstädt, sechs Kilometer südlich von Camburg und zehn Kilometer östlich von Apolda gelegen, wohnten 1953 nicht einmal 500 Menschen. Hier stürmten aufgebrachte Bürger am 17. Juni ein FDJ-Gebäude und verbrannten Propagandamaterialien. Die Protestbewegung war maßgeblich von Dorfpfarrer Edgar Mitzenheim organisiert worden. Er war hier seit 1922 im Dienst der Evangelischen Kirche tätig. Sein Bruder, Moritz Mitzenheim, fungierte seit 1947 als Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen. Auch der zweite Bruder amtierte als Pfarrer in Thüringen.

Edgar Mitzenheim war ein offener Gegner des Kommunismus. Den Nationalsozialismus hatte er nicht so schroff abgelehnt. Er war bereits in den zwanziger Jahren in rechtsextremen Organisationen engagiert gewesen. Nach 1933 bemühte er sich jedoch vergeblich, Mitglied der NSDAP zu werden. 1944 verurteilte ihn sogar ein Militärgericht zu einer viermonatigen Haftstrafe, weil von ihm vorgetragene Gedichte nach Ansicht der Richter geeignet seien, das Vertrauen der Bevölkerung in die NSDAP und den NS-Staat zu untergraben. Die gesellschaftliche Entwicklung nach 1945 begleitete Mitzenheim kritisch. Trotz seines offenbar etwas unberechenbaren und aufbrausenden Charakters galt er im Dorf als höchste Autorität. Er konnte die Dorfbevölkerung relativ schnell und leicht mobilisieren.

Als Mitzenheim am Vormittag des 10. Juni 1953 von den Beschlüssen des SED-Politbüros zur Erhöhung der Arbeitsnormen hörte, ging er zum Vorsitzenden der örtlichen "Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe" (VdgB). Er fragte, ob sie nichts unternähmen, denn "es sei jetzt an der Zeit, dass wir etwas sagen könnten". Zwei Tage darauf erschien Mitzenheim erneut und schlug vor, eine Dorfversammlung einzuberufen.

Dorfhonoratioren verfassen Resolution an die Regierung

Am nächsten Tag erhielten alle Einwohnerinnen und Einwohner eine Einladung zur Mitgliederversammlung der VdgB in die Dorfschänke. Der Tagesordnung konnten die Eingeladenen entnehmen, dass Probleme der Düngemittelbeschaffung, der Bindegarnverteilung, der Herbsternte und des "Ernteeinbringungsplans" debattiert werden sollten. Unter dem fünften Punkt hieß es etwas unverständlich: "Beschließfassung der Entschließung". Noch am Abend des 12. Juni versammelten sich neun Dorfhonoratioren im Haus von Mitzenheim. Sie besprachen einen vom Pfarrer vorgelegten Resolutionsentwurf, der auf der Einwohnerversammlung zur Abstimmung vorgelegt werden sollte.

Doch ehe es so weit war, erhielten die Dorfbewohner am 13. Juni eine freudige Nachricht. Sie erfuhren, dass vier Bauern ihrer Gemeinde aus der Untersuchungshaftanstalt Apolda freigelassen worden waren und nach Hause zurückkehrten. Mitzenheim organisierte, dass ein Großteil der Bürger die vier Bauern am Ortseingang begrüßte. An der Einwohnerversammlung am Abend nahmen 250 bis 300 Personen teil. Das war mehr als die Hälfte aller Einwohner. Nachdem die ersten vier Punkte der Tagesordnung zügig abgearbeitet worden waren, übergab der VdgB-Vorsitzende das Wort an Edgar Mitzenheim.

Der Pfarrer trug nun die Resolution vor. In ihr stand detailliert und präzise, was die Dorfbevölkerung seit langem belastete, was sie kritisierte und wogegen sie sich kaum zu wehren vermochte. Das Verlesen dieser Resolution begleitete das Publikum mit Beifall und Bravorufen. Wenn es um Genossen der SED und um die Regierung ging, wurden Schmährufe laut. Zur Diskussion wollte danach niemand sprechen. Das Abstimmungsergebnis zeigte warum: Bis auf wenige Stimmenthaltungen nahmen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Dokument einhellig an.

Zwei Tage später, am 15. Juni, fuhren Pfarrer Mitzenheim und zwei weitere Vertreter des Dorfes nach Berlin. Beauftragt hatte sie dazu die Einwohnerversammlung. Zunächst gingen sie ins DDR-Landwirtschaftsministerium, um dem Minister ihre Resolution zu übergeben. Danach fuhren sie weiter nach West-Berlin ins Flüchtlingslager. Sie durften zwar nicht in das Flüchtlingslager hinein, aber man schickte zwei Familien aus Eckolstädt zu ihnen. Mitzenheim unterrichte diese von der Resolution und von der Entwicklung in der DDR. Er forderte sie auf, recht bald nach Eckolstädt zurückzukehren. Die West-Berliner Polizei vermutete, dass Mitzenheim und seine Gefährten SED-Propaganda betrieben. Deshalb nahm sie die drei Abgesandten für zwei Stunden fest. Das Missverständnis war aber schnell aufgeklärt. Am frühen Morgen des 17. Juni trafen die drei Männer wieder in Eckolstädt ein.

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Unruhen entzünden sich an Nachrichten aus Jena

Tagsüber blieb es dann zunächst ruhig. Abends kehrten jedoch Pendler aus Jena zurück und berichteten von den dortigen Vorgängen. Einige Dorfbewohner fassten daraufhin Mut und zerstörten zuerst das Straßenschild "Karl-Marx-Straße". Dann gingen sie in das Büro des örtlichen SED-Funktionärs und warfen Papiere und Unterlagen aus dem Fenster auf die Straße. Mitzenheim versuchte, die Einwohner zu beruhigen. Dies half ihm und dem VdgB-Vorsitzenden aber nichts. Am frühen Morgen des 18. Juni, als das Dorf noch schlief, verhafteten MfS-Mitarbeiter die beiden Männer.

Die Nachricht von der Verhaftung sprach sich schnell herum. 50 bis 60 aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger standen bereits gegen 5:00 Uhr morgens auf der Dorfstraße und debattierten. Ein Unbekannter läutete sogar die Kirchenglocke. Als die Menge auf einem Krad einen bekannten SED-Funktionär aus Apolda erblickte, hinderten ihn einige an der Weiterfahrt. Sie zogen den Mann vom Motorrad herunter. Dann gaben sie ihm eindeutig zu verstehen, dass er erst wieder weiterfahren dürfe, wenn Mitzenheim freigekommen sei. Es kam dabei auch zu körperlicher Gewalt gegen den Funktionär. Die Idee, ihn im Dorfteich zu ertränken oder ihn aufzuhängen, ließen die Dorfbewohner jedoch schnell wieder fallen.

Kurz darauf fuhr ein PKW in den Ort. Darin saß ein im Dorf bekannter Polizist in Zivil. Er wollte den Befehl über den Ausnahmezustand aushängen. Dazu kam er aber nicht. Mehrere Dorfbewohner warfen sein Auto um. Seine Begleiterin, die in Eckolstädt allgemein als MfS-Zuträgerin galt, konnte sich gerade noch davor retten, von der aufgebrachten Menge aufgehängt zu werden. Der Polizist zog seine Pistole, aber einer der gerade aus der Haft Entlassenen überredete ihn, sie nicht zu benutzen. Noch bevor die Bauern die Telefonleitungen des Dorfes kappten, gelang es dem Polizisten, seine Dienststelle in Apolda von den Vorgängen zu unterrichten.

Zwischen 9:00 und 10:00 Uhr traf schließlich ein Überfallkommando der Volkspolizei sowie eine Einheit der sowjetischen Armee ein. Sie beendeten den Aufstand in Eckolstädt. Insgesamt wurden danach vier Dorfbewohner verhaftet. Die anderen durften das noch mehrere Wochen von Panzern umstellte Dorf nur mit Sondergenehmigung verlassen. Einige hielten sich wochenlang versteckt.

Geistlicher erhält langjährige Zuchthausstrafe

In einem öffentlichen Prozess in Erfurt verhängte das Gericht am 18. Juli 1953 eine sechsjährige Zuchthausstrafe gegen Edgar Mitzenheim. Die drei Mitangeklagten erhielten Haftstrafen von zwei Jahren, einem Jahr bzw. sechs Monaten. Mehrfach setzten sich Kollegen von Mitzenheim und sein Bruder, der Bischof, für eine Herabsetzung der Strafe ein. Die zuständigen Stellen lehnten jedoch alle Anträge ab. Doch Ende Juni 1956, drei Jahre vor Ablauf der Haftstrafe, kam Pfarrer Edgar Mitzenheim endlich frei. Dazu hatte offenbar beigetragen, dass sich Bischof Mitzenheim öffentlich von seinem Bruder distanziert und die Thüringer Kirchenleitung Edgar Mitzenheim kein neues Pfarramt anvertraut hatte.

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Literatur

Publikation

17. Juni 1953: Volksaufstand in der DDR

Ursachen – Abläufe – Folgen

Im Buch wird anschaulich auf der Grundlage umfangreicher Quellenüberlieferungen die gesamte Breite des Volksaufstandes vom 17. Juni geschildert. In Fallstudien rekonstruiert der Autor die Geschehnisse in sämtlichen Regionen der DDR.

  • Carl, Rolf: Beiträge zur Heimatgeschichte, Sömmerdaer Heimat- und Geschichtsverein e.V., Heft 1 (6/98)
  1. Dresden
  2. Frankfurt