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Deutsch-deutsche Grenze bei Vacha, Schlagbaum auf der B 62, Hinweisschild "Nach Vacha 2 km"

Aktion "Ungeziefer"

Die innerdeutsche Grenze war in den 1950er Jahren während des Kalten Krieges die Nahtstelle der verfeindeten Systeme und gleichzeitig Kontaktpunkt der Menschen in Ost und West. In den Augen der DDR-Führung stellte diese eine Gefahr dar, der mit einem Ausbau der Grenzanlagen begegnet werden sollte. Im Mai 1952 wurde ein rund 5 km breiter Streifen an der innerdeutschen Grenze abgeriegelt und zur Sicherheitszone deklariert. Mit der Aktion "Ungeziefer" startete das Ministerium für Staatssicherheit die Zwangsaussiedlung tausender Bewohnerinnen und Bewohner des Grenzgebietes.  Das MfS leitete die Aktion und war zusammen mit der Volkspolizei maßgeblich an deren Durchführung beteiligt.

Schon kurz nach ihrer Gründung musste die DDR eine zunehmende Abwanderung ihrer Bürgerinnen und Bürger in die Bundesrepublik verzeichnen. Die Zwangsenteignung vieler Bauern, der im Vergleich zum Westen bereits geringere Lebensstandard, Ablehnung des politischen Systems und andere Faktoren bewegten immer mehr Menschen dazu, das Land zu verlassen.

Die SED-Führung reagierte darauf mit einer Verschärfung des Grenzregimes. Am 26. Mai 1952 erließ die DDR-Regierung auf Geheiß der Sowjetunion die "Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands" und beschloss damit verstärkte Sicherungsmaßnahmen an der Grenze. Als Begründung führte sie den Schutz vor "Grenzprovokationen" durch die Bundesrepublik und die Westmächte an. Deren Ziel sei es, mit ihrer "Spaltungspolitik" die "Erfolge des friedlichen wirtschaftlichen und kulturellen Aufbaus" der DDR zu verhindern.

Deutsch-deutsche Grenze bei Vacha, Schlagbaum auf der B 62, Hinweisschild "Nach Vacha 2 km"

Errichtung einer Sperrzone

Den Auftrag zur Sicherung der innerdeutschen Grenze und zur Einrichtung einer "besonderen Sperrzone" mit einer "besonderen Ordnung" erhielt das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). In unmittelbarer Nähe der Demarkationslinie sollte die Sperrzone einen 10 m breiten Kontrollstreifen aufweisen, gefolgt von einem 500 m breiten Schutzstreifen und einem rund 5 km breiten Sperrgebiet. Insgesamt nahm das Gebiet entlang der rund 1400 km langen Grenze eine Fläche von 3000 km² ein.

Wilhelm Zaisser, erster Minister für Staatssicherheit, war seit kurzem auch für die Grenzpolizei zuständig. Er erließ eine Polizeiverordnung, die für die gesamte Sperrzone Sonderregelungen festlegte. Mit ihrem Inkrafttreten am 27. Mai unterlagen Anwohnerinnen und Anwohner des Gebietes strengen Meldeauflagen und staatlich vorgegebenen Verhaltensregeln. Besucherinnen und Berufspendler erhielten "Passierscheine", sie mussten sich bei "Einreise" anmelden und beim "Verlassen" des Gebietes abmelden. Die Sperrzone wurde zu einer Sonderzone innerhalb der DDR mit detaillierten Regeln.

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Generalstabsmäßig aus den Häusern vertrieben

Zur weiteren Sicherung des Gebietes wies das Ministerium des Innern die Volkspolizei an, alle in der Sperrzone lebenden Bürgerinnen und Bürger zu überprüfen und in ihrer Grundhaltung zur DDR einzuschätzen. Personen, die als politisch unzuverlässig galten, sollten ausgewiesen werden. Mit dem Einsatz der Zwangsumsiedlung als abschreckende Maßnahme waren Willkür, Denunzierung und Diskriminierung Tür und Tor geöffnet.

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Alle ausgewiesenen Personen mussten nach Bekanntgabe oft innerhalb weniger Stunden die Sperrzone verlassen, ohne zu wissen, wo sie künftig wohnen würden. Eine ursprünglich vorgesehene Frist von zwei Tagen wurde bei der praktischen Durchführung der Ausweisungen kaum eingehalten und die Betroffenen wurden häufig überrumpelt. Für die Ausweisung waren Sonderkommissionen bestehend u. a. aus Vertretern der Volkspolizei, der Staatssicherheit und des jeweiligen Kreisamts zuständig. Allein die politische Führung entschied darüber, wohin die Menschen umgesiedelt wurden, welchen Arbeitsplatz sie bekamen und in welcher Weise sie eine Entschädigung erhielten. Nur wenn Verwandte Wohnraum und Arbeitsmöglichkeiten beschaffen konnten, wurden in Ausnahmefällen die Wünsche der Ausgewiesenen berücksichtigt.  

Die Durchführung der Zwangsaussiedlungen war generalstabsmäßig geplant. Mit den Listen der Auszuweisenden durchkämmte die Volkspolizei Dörfer und Städte. Eine erste Aussiedlungswelle begann am 29. Mai in Sachsen-Anhalt, die meisten Deportationen fanden ab dem 5. Juni statt. Die Betroffenen mussten in aller Eile ihre Häuser verlassen und wurden mit ihrem Hab und Gut in Lastwagen und Zügen zu ihren neuen Wohnorten im Landesinneren verbracht.

In einem Bericht der MfS-Kreisverwaltung Bad Salzungen an die MfS-Landesverwaltung Thüringen vom 9. Juni 1952 z. B. werden 307 Familien bzw. 989 Personen genannt, die ausgesiedelt werden sollten. Darunter befanden sich Landwirte, Geschäftsleute, Hausfrauen, Handwerker, Angestellte, Arbeiterinnen und Rentner. Die meisten waren im Alter zwischen 40 und 60 Jahren und wurden überwiegend als kriminell oder "reaktionär-antidemokratisch" abgestempelt.   

Nicht immer jedoch lief die Zwangsaussiedlung ohne Komplikationen ab. Proteste, Demonstrationen, Widerstände gegen die Ausweisung und Fluchten über die Grenze verzögerten und störten den Ablauf der Aktion zum Teil erheblich.

Mit der Aktion "Ungeziefer" wurden Tausende DDR-Bürgerinnen und Bürger als "unsichere" bzw. "kriminelle Elemente" stigmatisiert und innerhalb weniger Wochen aus der Sperrzone abtransportiert. Knapp zehn Jahre später - kurz nach dem Bau der Mauer im August 1961 - ordnete die DDR-Führung an der innerdeutschen Grenze weitere Zwangsaussiedlungen an. Erneut verloren tausende Menschen ihre Heimat.