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Eine Reihe von Pfarrern im Talar läuft zur Beerdigung von Oskar Brüsewitz.

Oskar Brüsewitz

Am 18. August 1976 zündete sich der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz vor der Michaeliskirche in Zeitz an. Mit einem Transparent hatte er zuvor gegen die Bildungs- und Kirchenpolitik der SED protestiert. Vier Tage später erlag er seinen schweren Verletzungen.

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Wie kam es zur Selbstverbrennung?

Oskar Brüsewitz wurde 1970 in Wernigerode feierlich in das Pfarramt eingeführt und anschließend evangelisch-lutherischer Pfarrer in Rippicha im Kreis Zeitz. Mit teils unkonventionellen Aktivitäten versuchte er, die Menschen von der Kirche und seinem Glauben zu überzeugen. So ließ er zur Adventszeit ein beleuchtetes, weithin sichtbares Kreuz am Turm seiner Kirche anbringen. Den in der DDR üblichen propagandistischen Losungen im öffentlichen Raum setzte er eigene, christlich geprägte Transparente entgegen.

Darüber hinaus setzte sich Brüsewitz für den Bau eines kirchlichen Kinderspielplatzes ein und belebte die Jugendarbeit. Mit seiner zupackenden Art und seinem handwerklichen Geschick fand Brüsewitz in seiner Gemeinde zunächst Zuspruch. Nach einiger Zeit verlor der unkonventionell und kompromisslos auftretende Pfarrer jedoch an Rückhalt.

In ihrem Bericht über die Selbstverbrennung listete die Staatssicherheit auch Aussagen "offizieller und inoffizieller Quellen" auf, die den Pfarrer für "geistesgestört" und "unzurechnungsfähig" erklärten. Als vermeintliche Belege für diese Behauptung hieß es, Brüsewitz habe Schafe und Tauben während der Predigt in der Kirche laufen lassen, nachts die Kirchenglocken geläutet oder mit einem Trabant und einem daran befestigten Pflug die Felder bearbeitet.

Insbesondere in diesem Fall sind die MfS-Dokumente mit quellenkritischer Distanz zu lesen. Denn die Charakterisierung des Pfarrers als psychisch krank diente einem bestimmten Zweck: So sollte einer politischen, gegen die SED gerichteten Lesart seiner Tat entgegengewirkt werden. Noch am Tag der Selbstverbrennung war in Abstimmung mit der SED-Bezirksleitung Halle und dem Apparat des ZK der SED ein entsprechender "Maßnahmeplan" entwickelt worden.

Während das MfS in Brüwsewitz' Suizid-Versuch eine "staatsfeindliche Zielstellung" erkannte, sahen andere in ihm einen Widerstandskämpfer, der sich nicht scheute, in der Öffentlichkeit seine kritische Meinung zu kirchlichen und politischen Themen zu äußern. (siehe: Bericht zur Selbstverbrennung von Pfarrer Oskar Brüsewitz in Zeitz / BStU, MfS, BV Halle, AP, Nr. 2950/76, Bd. 3, Bl.47).

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Die Leitung der evangelischen Kirche stand Brüsewitz'  kompromissloser und konfrontativer Haltung distanziert gegenüber. Hinzu kam: Oskar Brüsewitz stammte aus einfachen Verhältnissen; er war kein intellektueller Theologe, was ihn wohl mancher Amtskollege spüren ließ. Im Jahr vor seinem Suizid war ihm eine Untersuchung seiner Amtsführung angekündigt und ein Wechsel der Gemeinde nahegelegt worden.

In seiner späteren Grabrede erklärte Propst Friedrich-Wilhelm Bäumer, der Stellvertreter des Magdeburger Bischofs, Brüsewitz habe sich "in dunkle Netze, in eigene einsame Gedanken verstrickt" und sich mit seinen Problemen gegenüber der Kirche verschlossen (siehe: DDR im Blick: Beisetzung von Pfarrer Oskar Brüsewitz in Rippicha (Zeitz), 27. August 1976).

Das Leben von Oskar Brüsewitz

Oskar Brüsewitz wurde am 30. Mai 1929 in Willkischken im Memelland (heute Litauen) geboren und wuchs dort in einer Bauern- und Handwerkerfamilie auf. Nach dem Krieg begann er eine Schuhmacher-Lehre in der Nähe von Chemnitz. Später ging Brüsewitz nach West-Deutschland und legte dort seine Meisterprüfung ab.

1951 heiratete er seine erste Frau; ein Jahr später wurde seine Tochter Renate geboren. Die Ehe scheiterte 1954 und der Schuhmacher zog in die DDR. In Leipzig lerne er seine zweite Frau Christa kennen, die er Ende 1955 heiratete. Zusammen hatten sie drei Kinder, einen Sohn und zwei Töchter.

Von 1964 bis 1969 besuchte Brüsewitz die Predigerschule in Erfurt. 1969 kam er mit seiner Familie als Hilfsprediger nach Droßdorf-Rippicha. Als Pfarrer war er ab 1970 für neun Gemeinden verantwortlich.

Am 18. August 1976 übergoss sich Brüsewitz vor der Michaeliskirche in Zeitz mit Benzin und zündete sich an. Vier Tage später erlag er im Bezirkskrankenhaus Halle seinen Verbrennungen.

Der Tag der Selbstverbrennung

Die Staatssicherheit befragte Zeugen, fertigte Skizzen und Fotos vom Schauplatz der Tat an und rekonstruierte so, was am 18. August 1976 geschehen war: Gegen 10:20 Uhr fuhr Oskar Brüsewitz mit seinem Wartburg vor die Michaeliskirche in der Stadtmitte von Zeitz. Dort stellte er  gekleidet im schwarzen Talar  ein Transparent auf dem Dach seines Autos auf. Darauf stand auf der einen Seite:

"Funkspruch an alle … Funkspruch an alle … Wir klagen den Kommunismus an wegen: Unterdrückung der Kirchen in Schulen an Kindern und Jugendlichen!".

Und auf der anderen, fast gleichlautend:

"Funkspruch an alle … Funkspruch an alle … Die Kirche in der D.D.R. klagt den Kommunismus an! wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen".

Danach nahm er eine große Milchkanne aus dem Heckraum, übergoss sich mit Benzin und zündete seine Kleidung an. Ein Zeuge löschte nach wenigen Minuten die Flamme mit einer Decke. Der schwer verletzte Pfarrer wurde zunächst ins Krankenhaus nach Zeitz, später nach Halle gebracht.

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Für die Rekonstruktion des Falles fertigte die Stasi auch eine Lageskizze vom Ort der Verbrennung an. Diese finden Sie in der Stasi-Mediathek

Oskar Brüsewitz hatte niemanden in seine Suizid-Pläne eingeweiht, er hatte nur allgemein eine radikale Aktion angekündigt. Den Morgen des 18. August 1976 verbrachte er noch mit seiner Familie. Bevor er nach Zeitz fuhr, übergab er einer Nachbarin zwei Briefe. Einer davon war für den Pfarrkonvent Zeitz bestimmt.

Handschriftlicher Brief des Pfarrers Oskar Brüsewitz zu seinem Suizid.

Darin schrieb er unter anderem: "Nach meinem Leben habe ich es nicht verdient, zu den Auserwählten zu gehören. Meine Vergangenheit ist des Ruhmes nicht wert." Außerdem sprach er von einem "mächtige[n] Krieg", der zwischen "Licht u. Finsternis" bzw. zwischen "Wahrheit u. Lüge" tobe. Explizit politische Äußerungen enthält der Brief nicht.

Den ganzen Brief finden Sie in der Stasi-Mediathek.

Abschied auf dem Friedhof in Rippicha

Die Nachricht von Brüsewitz‘ Selbstverbrennung verbreitete sich schnell in der DDR. Bundesdeutsche Fernseh- und Rundfunkstationen, die vielerorts zu empfangen waren, hatten ab dem 20. August 1976 wiederholt darüber berichtet. Daraufhin hatte die DDR-Nachrichtenagentur ADN eine Meldung herausgegeben, in der Brüsewitz als psychisch krank dargestellt wurde. Diese Meldung wurde im "Neuen Deutschland" vom 21./22. August 1976 abgedruckt.

Etwa 400 Menschen kamen am 26. August 1976 zur Beerdigung nach Rippicha, darunter ca. 70 Pfarrer im Talar. Das MfS unternahm große Anstrengungen, um die Trauergäste unter Kontrolle zu halten. Anreisende wurden bereits auf den Zufahrtswegen kontrolliert. Am Friedhof postierte Stasi-Mitarbeiter fotografierten insbesondere die Journalisten und Pfarrer. Im Anschluss an die Beerdigung verfasste die Stasi einen ausführlichen Bericht.

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Die Auswirkungen

Am 31. August 1976 erschien im "Neuen Deutschland" ein weiterer Text, in dem Brüsewitz wiederum eine psychische Krankheit und darüber hinaus pädophile Neigungen und Verbindungen zum BND unterstellt wurden. Zahlreiche Menschen protestierten daraufhin in Leserbriefen, Eingaben und im Einzelfall mit einer Strafanzeige gegen die Verleumdung des in den Freitod gegangenen Pfarrers. Die Kirchenleitung der evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen setzte eine Gegendarstellung auf, die sie an die ost- und westdeutsche Presse sowie an den Rat des Bezirkes Magdeburg schickte. Ihr Wortlaut wurde in den Berichten der ZAIG weitergegeben.

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Während der Tagung der Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR am 10./11. September 1976 stand der "Fall Brüsewitz" ebenfalls im Mittelpunkt. Die Teilnehmenden verabschiedeten einen "Brief an die Gemeinden", in dem Brüsewitz' Kritik an der kirchenfeindlichen Bildungspolitik aufgegriffen und Konflikte innerhalb der Gesellschaft angesprochen wurden.

Die Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz verstärkte – ebenso wie die Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 – die Bereitschaft zu Kritik und Protest. Mehr und mehr Menschen beriefen sich auf die Menschenrechte und Grundfreiheiten, die die DDR im Jahr zuvor bei der KSZE-Konferenz in Helsinki anerkannt hatte. Die Berichte dazu finden sich auch in der Edition "Die DDR im Blick der Stasi - Die geheimen Berichte an die SED-Führung 1976"

Eine Sammlung aller Dokumente im Zusammenhang mit der Selbstverbrennung von Oskar Brüsewitz finden Sie in der Stasi-Mediathek. 

Cover des ZAIG-Bandes 1976. Neben dem Titel ist ein Bild von Wolf Biermann zu sehen.

Weiterführende Literatur