Direkt zum Seiteninhalt springen

Tödliche Flugzeugentführung

Am 10. März 1970 nahm der verzweifelte Versuch des Ehepaars Christel (23) und Eckhard Wehage (21), über eine Flugzeugentführung in den Westen zu fliehen, ein tragisches Ende. Weil die Entführung einer Passagiermaschine der DDR-Fluglinie "Interflug" misslang, richteten die beiden ihre Waffen gegen sich selbst und setzten ihrem Leben ein Ende. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) übernahm die Ermittlungen.

Zum Inhalt springen

Die junge Physiotherapeutin Christel Zinke aus Wolmirstedt und der in Berßel geborene Eckhard Wehage lernten sich Ende der 60er Jahre kennen und heirateten bald darauf. Da Wehage als Angehöriger der DDR-Volksmarine an seinen Einsatzort in Peenemünde gebunden war, wollte seine Frau zu ihm an die Ostsee ziehen. Doch die staatlich gelenkte Wohnungspolitik in der DDR versagte ihnen auch nach mehreren Anläufen eine gemeinsame Wohnung. Christel Wehage begründete dies später in ihrem Abschiedsbrief mit ihrer Kinderlosigkeit. Die fehlende Freiheit in der Arbeitsplatz- und Wohnortwahl führte schließlich zu dem Entschluss des Paares, in den Westen zu fliehen.

Für Eckhard Wehage war es nicht der erste Fluchtplan. Bereits 1963 hatte er als Jugendlicher zweimal erfolglos versucht, die DDR zu verlassen – das erste Mal mit einem Boot über die Ostsee, ein anderes Mal mit dem Zug über die Tschechoslowakei. Nach dem zweiten Versuch verurteilte ihn die Jugendstrafkammer des Kreisgerichts Halberstadt wegen "Republikflucht" zu einer achtmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung. Die Stasi wurde so auf Eckhard Wehage aufmerksam und hielt ihn spätestens seit seinem Eintritt in die Volksmarine Ende der 60er Jahre unter "operativer Kontrolle". Denn aufgrund seiner Vorbestrafung und seiner Kontakte zu weiteren "verdächtigen" Personen in seiner Volksmarine-Einheit befürchtete die Geheimpolizei, er könnte Fahnenflucht begehen.

Gescheiterte Flucht

Am 9. März 1970 startete Eckhard Wehage dann gemeinsam mit seiner Frau seinen dritten Fluchtversuch. Der Plan war dramatisch: Sie wollten ein Passagierflugzeug in den Westen entführen. Am Tag zuvor war es Wehage gelungen, zwei Pistolen aus der Waffenkammer seiner Einheit zu entwenden. Doch der Flug von Berlin-Schönefeld nach Dresden wurde kurzfristig abgesagt. So nahm das Paar am Tag darauf, dem 10. März 1970, einen Flug nach Leipzig. Aufgrund der im Jahr 1970 noch vergleichsweise lockeren Sicherheitskontrollen bei Inlandsflügen konnten Eckhard und Christel Wehage die handlichen Makarow-Pistolen ohne Probleme in das Flugzeug schmuggeln. Als sich die Maschine in der Luft befand, forderten sie das Bordpersonal mit gezückten Waffen auf, den Piloten in den Passagierraum zu rufen. Die Wehages wollten ihn zu einer Kursänderung in Richtung Hannover zwingen.

Doch die List einer Stewardess vereitelte das Vorhaben: Mithilfe eines geheimen Notfallcodes warnte sie den Piloten über die Bordsprechanlage, ohne dass die Entführerin und der Entführer das Täuschungsmanöver durchschauten. Als der Pilot dann nicht reagierte, versuchte Eckhard Wehage, mit Gewalt in das verschlossene Cockpit einzudringen. Zwar konnte er das Schloss an der Tür zu einem Zwischenraum mit seiner Waffe öffnen, die Tür zum Cockpit aber hielt stand. Während die Stewardess die Entführerin und den Entführer wegen angeblichen Treibstoffmangels zu einer Landung auf dem West-Berliner Flughafen Tempelhof überredete, steuerte der Pilot tatsächlich wieder Ost-Berlin an. Als die "Interflug"-Maschine in Schönefeld gelandet war und sich das junge Paar seiner aussichtslosen Situation bewusst wurde, richtete es die Waffen gegen sich selbst.

Gang in einem Flugzeug mit Sitzreihen auf beiden Seiten. Am Ende des Gangs befindet sich eine Tür.

Ermittlungen der Staatssicherheit

Nach dem Vorfall übernahm die Staatssicherheit umgehend die Ermittlungen. Dafür arbeitete die Hauptabteilung (HA) IX (Untersuchungsorgan) eng mit anderen MfS-Diensteinheiten, wie der HA I (NVA und Grenztruppen) und der HA XIX (Verkehr, Post, Nachrichtenwesen), zusammen, denn die Themen dieser Diensteinheiten trafen in der Flugzeugentführung aufeinander. Auf Bezirksebene wurden die Bezirksverwaltung Magdeburg und die Kreisdienststellen Wolmirstedt (Geburtsort von Christel Wehage) und Halberstadt (Wohnort von Eckhard Wehage) einbezogen. Außerdem koordinierte die Stasi ihr Vorgehen mit der Volksmarine und den Strafverfolgungsbehörden. Die Federführung bei diesen verschiedenen Untersuchungen übernahm die HA IX.

Am Tatort sicherte das MfS die Spuren und überprüfte das Gepäck der Wehages auf Sprengstoff. Ein anfänglicher Bombenverdacht stellte sich jedoch als falsch heraus. Die Staatssicherheit fertigte einen Bildbericht an, in dem sie detailliert die Spuren festhielt, die Christel und Eckhard Wehage bei ihrem Entführungsversuch hinterlassen hatten. Sie fotografierte die Einschusslöcher im Passagierraum und Cockpit, die Tatwaffen und den Ort, an dem das junge Paar Selbstmord beging. Im Bericht ist zu sehen, dass die Kugeln aus Eckhard Wehages Waffe sogar die Tür zum Cockpit und die Frontscheibe des Flugzeuges durchschlagen haben. Im Original-Bericht befinden sich auch Fotos der toten Wehages, deren öffentliche Zurschaustellung für das Verständnis des Ereignisses aber nicht notwendig ist.

Kompletter Bildbericht zur Tatortdokumentation

Die Stasi informierte die SED-Führung umgehend über den Vorfall. Im entsprechenden Dokument schilderte sie den Hergang der Tat, nannte die Entführerin und den Entführer und lobte die "disziplinierte, den Sicherheitsinstruktionen entsprechende Verhaltensweise der Besatzung". Dabei wies die Stasi auch darauf hin, dass die Sicherheitsmaßnahmen in Zukunft weiter ausgebaut werden müssten. Wie aus der Parteiinformation und den Vernehmungsprotokollen hervorgeht, arbeiteten mindestens zwei der Besatzungsmitglieder des Flugzeugs für das MfS.

Dokument in der Stasi-Mediathek ansehen

Da die als "bewaffnete Banditen" und "Terroristen" bezeichneten Wehages bei Beginn der Ermittlungen bereits tot waren, leitete die Stasi ein Verfahren gegen "Unbekannt" ein, um mögliche Komplizinnen und Komplizen zu ermitteln. In einem Dokument vom 16. März 1970 listete die Geheimpolizei die geplanten "operativen Maßnahmen" auf. Sofort gerieten die Familien, Kolleginnen und Kollegen von Christel und Eckhard Wehage ins Visier der Staatssicherheit. Sie durchsuchte Wohnungen und Arbeitsstellen, platzierte Abhörtechnik und kontrollierte die Post, um mehr über die Hintergründe der Tat herauszufinden und mögliche Komplizinnen und Komplizen zu ermitteln. Außerdem kamen Inoffizielle Mitarbeiter (IM) zum Einsatz, die sich im privaten und beruflichen Umfeld der Toten umhörten. So erhielt z.B. ein ehemaliger Kollege von Eckhard Wehage den Auftrag, sich in der Volksmarine-Einheit wegen der verschwundenen Waffen zu erkundigen. Das MfSwurde auch im Westen aktiv: Nachdem es in Christel Wehages Handtasche ein Adressbuch mit Anschriften in der Bundesrepublik gefunden hatte, fertigte es einen Bildbericht über Wohnhäuser in Hamburg und Pforzheim an und überprüfte die Kontakte des Ehepaars nach West-Deutschland.

Wie der "Maßnahmeplan" vom 16. März zeigt, richtete die Stasi ihren Blick zudem in die Zukunft. Der zweite Teil des Dokuments dreht sich um Fragen der "vorbeugenden Erhöhung der Luftsicherung". Dazu gehörte die Schaffung "inoffizieller Signal- und Informationskanäle" an Flughäfen, um geplante Entführungen oder Anschläge zukünftig bereits am Boden zu erkennen und zu verhindern, strengere Sicherheitskontrollen bei Inlandsflügen unter Verwendung entsprechender Technik und den Einsatz von Sicherheitsoffizieren in den Maschinen. Dafür berücksichtigte sie auch die "Maßnahmen kapitalistischer Fluggesellschaften gegen die Luftpiraterie". Denn vor allem Ende der 60er Jahre hatte die Anzahl an Flugzeugentführungen weltweit rasant zugenommen. Einige der im "Maßnahmeplan" genannten Aspekte setzte die Stasi in den folgenden Jahren tatsächlich um. So kamen auf ausgewählten Flügen bewaffnete Flugbegleiter des MfS zum Einsatz, die der Arbeitsgruppe des Ministers/Sonderfragen (AGM/S) angehörten. Die AGM/S war für den Einsatz von Spezialkräften bei Sondereinsätzen verantwortlich.

Todesursache: "Tragischer Verkehrsunfall"

Kurz nach der gescheiterten Flugzeugentführung und dem Selbstmord von Christel und Eckhard Wehage berichteten westliche Medien über den Vorfall, ohne die Personen zu benennen. Im "Neuen Deutschland" erschien am 11. März ein Artikel zu dem Ereignis. Auch darin fanden die Namen der Entführerin und des Entführers keine Erwähnung, ebenso wie das Motiv der "Republikflucht". Stattdessen wurde die Tat schlichtweg als "Anschlag" zweier "Banditen" bezeichnet.

Um zu verhindern, dass der Tod des Ehepaars Wehage in der Öffentlichkeit mit der versuchten "Republikflucht" in Verbindung gebracht wurde, erfand die Stasi eine "operative Legende". Demnach sei das Paar bei einem Verkehrsunfall wegen überhöhter Geschwindigkeit tödlich verunglückt. Doch die Eltern von Christel und Eckhard Wehage wussten, wer hinter der gescheiterten Flugzeugentführung steckte. In ihren Abschiedsbriefen hatte das junge Paar den Suizid im Falle eines Scheiterns angekündigt. Daher bezog die Stasi die Ehepaare Zinke und Wehage in die Aufrechterhaltung der Legende ein. Doch letztlich konnte das MfS trotz seiner Bemühungen nicht verhindern, dass sich in der Öffentlichkeit Gerüchte über die wahren Hintergründe von Eckhard und Christel Wehages Tod verbreiteten. Die vom MfS konstruierte Legende begann zu bröckeln.

Die Eltern der Toten wurden zunehmend mit diesen "Gerüchten" konfrontiert und hatten Schwierigkeiten, die Legende aufrechtzuerhalten. Daher kam es Ende März 1970 zu einer Aussprache zwischen den Ehepaaren Zinke und Wehage, dem Militärstaatsanwalt und einem MfS-Major. Wie ein Bericht über dieses Treffen zeigt, übte die Stasi Druck auf die Eltern der Toten aus. Wohl nicht ganz freiwillig "einigten" sich die Anwesenden, den Vorfall weiterhin zu verschleiern und bei Nachfragen einen Autounfall als Todesursache anzugeben. In der Todesanzeige, die am 3. April 1970 in der Magdeburger Tageszeitung "Volksstimme" erschien, war schließlich von einem "tragischen Verkehrsunfall" die Rede. Doch die "Gerüchte" beschäftigten das MfS auch noch fünf Wochen nach dem Ereignis, wie der Bericht eines Inoffiziellen Mitarbeiters vom 15. April 1970 zeigt.

Letztendlich konnte die Staatssicherheit keine Komplizinnen und Komplizen ermitteln. Deshalb bat sie die Militärstaatsanwaltschaft am 14. Mai 1970, das Verfahren einzustellen. Die Besatzungsmitglieder der "Interflug"-Maschine wurden von Erich Mielke persönlich für ihr Verhalten während des Vorfalls ausgezeichnet. Christel und Eckhard Wehage fanden ihre letzte Ruhe in anonymen Gräbern auf dem Westfriedhof in Magdeburg.