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Hierbei handelt es sich um eine Schwarzweißfotografie des Ausblickes aus dem Inneren der Boofe. Man blickt nach vorne und zur rechten auf einen hüfthohen Zaun, hinter dem Baumwipfel zu erkennen sind, links befindet sich die Felswand. Auf dem Boden ist eine Feuerstelle aufgebaut, neben der Holzscheite und Felsbrocken lagern, während links eine kleine Leiter am Gestein angelehnt steht.

"Unsere kleine Freiheit"

Der Nationalpark Sächsische Schweiz ist in einer Phase des politischen Umbruchs entstanden. Im Januar 1990 legte das neu gegründete Ministerium für Naturschutz, Umweltschutz und Wasserwirtschaft der DDR (MNUW) ein Nationalparkprogramm für die DDR vor, welches im Februar 1990 vom Zentralen Runden Tisch befürwortet und im März vom Ministerrat der DDR angenommen wurde. Darin aufgeführt waren insgesamt fünf Nationalparks, einer davon war die Sächsische Schweiz.

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Erste Bestrebungen einen Nationalpark Sächsische Schweiz zu gründen hatte es bereits im Jahr 1953 gegeben. In das ein Jahr später verabschiedete Nationalparkgesetz fand dieser Vorschlag allerdings keinen Eingang. Bis 1990 gab es in der DDR keine Nationalparks. Stattdessen deklarierte die DDR Landschaftsschutzgebiete. Im Jahr 1956 wurde die Sächsische Schweiz zu einem solchen Landschaftsschutzgebiet erklärt.

In der DDR gehörte die Sächsische Schweiz zu einem der gefragtesten Touristenziele. Laut der Stasi konnten sich an "Schönwettertagen […] zirka 85.000 Menschen in dem 368 Quadratkilometer großen Freizeitbereich [aufhalten] (BStU, MfS, BV Dresden, BdL, Nr. 10243, Bl. 8)". Neben vielen Besuchern aus der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) wurden jährlich auch "zirka 50.000 NSW-Touristen“ empfangen. Bei den "NSW-Touristen" handelte es sich um Personen aus dem sogenannten "Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet", hauptsächlich aus der BRD. Der Kontakt zur DDR-Bevölkerung war nicht erwünscht, weshalb das Urlaubsgebiet unter besonderer Beobachtung der Stasi stand. Besonders kritisch beobachtete die Stasi Bergsteiger. Sie stellte fest, dass "80% der aktiven Bergsteiger" nicht nur dem Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB), der Massenorganisation für Sport in der DDR, angehörten, sondern auch noch in einem Kletterverein organisiert waren. In einem Bericht der Stasi heißt es: "In den Kletterclubs werden, neben Sportartikeln aus dem NSW, Druckerzeugnisse, Bildmaterial und Zahlungsmittel getauscht. Es herrscht ein reger Gedankenaustausch zu sportlichen und natürlich zu politischen Themen (BStU, MfS, BV Dresden, BdL, Nr. 10243, Bl. 16)". An diesem, aus Sicht der Stasi unerwünschten Austausch war auch der Münchener Alpenverein beteiligt (Vgl. BStU, MfS, BV Dresden, BdL, Nr. 10243, Bl. 12).

In den Fokus der Stasi geriet die Sächsische Schweiz aber auch noch aus einem weiteren Grund.

Das Bild ist eine Schwarz-weiß-Fotografie der sogenannten Fernblick-Boofe im Kreis Sebnitz aus einiger Entfernung. Zu sehen ist vor allem eine massive Felswand, die von Spalten durchzogen und teilweise mit Bäumen bewachsen ist. Im unteren Drittel des Bildes ist an den Fels angebaut die Holzverkleidung der Boofe erkennbar.

Die Angst vor politischer Untergrundtätigkeit - Das Boofen

1985 schrieb ein Stasi-Hauptmann der Kreisdienststelle Sebnitz eine Diplomarbeit über die "Politisch-operative Lageeinschätzung zur vorbeugenden Verhinderung, rechtzeitigen Aufdeckung und Bekämpfung von politischer Untergrundtätigkeit im Verantwortungsbereich 'Freizeitbereich Sächsische Schweiz' der Kreisdienststellen Sebnitz und Pirna (BStU, MfS, BV Dresden, BdL, Nr. 10243, Bl. 4)". Besonderes Augenmerk richtete er auf "das starke Anwachsen von operativ-bedeutsamen jugendlichen Gruppen (z.B. negativ-labile oder religiös gebundene) […]". Diese jugendlichen Gruppen nutzten die geographischen Gegebenheiten der Sächsischen Schweiz um ihre Zeit abseits der staatlichen Überwachung in sogenannten Boofen zu verbringen. Das Boofen, das Übernachten in Höhlen oder Senken (Boofe), hat in der Sächsischen Schweiz  ebenso wie das damit verbundene Bergsteigen eine lange Tradition. Bergsteiger suchten in den Boofen Quartier nach oder vor einer Bergbesteigung. Die Stasi interessierte sich für das Boofen aus "politisch-operativen" Gründen. Sie wollte genau wissen, welche Boofen existierten und wer diese nutzte. 1985 waren sechs Stasi-Mitarbeiter der Kreisdienststellen Sebnitz und Pirna mit der "Sicherung des Freizeitbereiches 'Sächsische Schweiz'" befasst (BStU, MfS, BV Dresden, BdL, Nr. 10243, Bl. 23). Um ihre Kenntnisse zu den Boofen zu erweitern, warb die Stasi Inoffizielle Mitarbeiter (IM) an oder verpflichtete sogenannte Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit (GMS), Bericht über die Orte und Nutzer zu erstatten. 1985 standen ihr insgesamt 12 IM zur Verfügung.  

Die Ermittlungen der Stasi ergaben, dass sich das von staatlicher Seite aus kritisch beäugte Boofen durch "eine gute Vorbereitung […][und] eine gute materiell-technische Sicherung (Übernachtungsmaterial, Verpflegung, Getränke usw.)"  auszeichnete (BStU, MfS, BV Dresden, BdL, Nr. 10243, Bl. 14). Sie schloss daraus, dass sich die Jugendlichen gut organisieren konnten. Es bestand die Gefahr, dass ihre "negativ- oppositionelle Einstellung" in politischen Aktivismus umschlagen könnte (BStU, MfS, BV Dresden, BdL, Nr. 10243, Bl. 39).

Jugendliche suchen ihre Freiheit

Blatt 23 - VVS JHS o001 - 365/85 [Auf Grund des Auftretens von zahlenmäßig großen Gruppen und dem oft aggressiven Verhalten einzelner Gruppenmitglieder bei Kontrollen sind viele der gesellschaftlichen und staatlichen Kräfte der Meinung, daß sie bei derartigen Aktionen nur bewaffnet vorgehen können. Dementsprechend wurde 1984 ein Antrag an den Rat des Kreises Sebnitz mit einer namentlichen Aufstellung von zu bewaffnenden Bürgern gestellt. Die Überprüfung dazu zeigte, daß kein positiver gesellschaftlicher und staatlicher Einfluß in der vorgeschlagenen Schutzgruppe gegeben war.]

Das Boofen war sehr beliebt bei den Jugendlichen aus der Region, aber auch bei "der 'christlichen Jungen Gemeinde', […] Vertretern der 'Jenaer Studentenszene' […][und] Mitgliedern christlicher 'Junger Gemeinden'". In der Urlaubssaison erreichte die Anzahl der Jugendlichen "zirka 4000 bis 7000" (Vgl. BStU, MfS, BV Dresden, BdL, Nr. 10243, Bl. 15). Dabei musste die Stasi feststellen, dass sich bei den "Boofern" aufgrund des "seit Jahren fehlenden staatlichen Einflusses […] eine stark oppositionell negativ Einstellung" ausgebildet hatte (BStU, MfS, BV Dresden, BdL, Nr. 10243, Bl. 39). Aus Berichten geht hervor, dass bei Kontrollen der Boofen durch die Volkspolizei von den Jugendlichen oft etwas provokant behauptet wurde, dass dort "keine staatlichen Machtbefugnisse gelten" würden und sie "nichts zu sagen" hätten. Die Boofer selbst sprachen von der Sächsischen Schweiz als "unsere kleine Freiheit" – die BRD galt als "große Freiheit" (BStU, MfS, BV Dresden, BdL, Nr. 10243, Bl. 39). Da bei den Kontrollen von Boofen neben solchen Aussagen auch teilweise ein aggressives Verhalten von einzelnen Gruppenmitgliedern festgestellt wurde, beantragte die Kreisdienststelle Sebnitz beim Rat des Kreises Sebnitz 1984 künftig bei solchen Kontrollen bewaffnet vorgehen zu dürfen (Vgl. BStU, MfS, BV Dresden, BdL, Nr. 10243, Bl.26).

Überwachung durch die Stasi

Nach Ansicht der Stasi war das Boofen Ausdruck eines  "Machen können – was und mit wem man will" (BStU, MfS, BV Dresden, BdL, Nr. 10243, Bl. 14). Und nicht nur dies, es kam vermehrt auch zu negativen Vorkommnissen, zum Beispiel zu "Alkoholexzessen", Verwüstungen und vereinzelt auch zu Bränden (BStU, MfS, BV Dresden, Abt. XVIII, Nr. 14688, Bl. 4).

Doch weder die Staatliche Forstwirtschaft, der Bergunfalldienst noch die Naturschutzhelfer ahndeten diese Vergehen gegen die Verhaltensordnung, die für das Landschaftsschutzgebiet Sächsische Schweiz 1983 festgelegt worden war – so die Kritik der Stasi (BStU, MfS, BV Dresden, BdL, Nr. 10243, Bl. 25).  Für die Stasi waren die registrierten "Vorkommnisse" aber weitaus mehr als nur Verstöße gegen die geltenden Verhaltensregeln. Für sie waren diese Vorkommnisse Ausdruck der oppositionellen Einstellung der Jugendgruppen und führten unter anderem zu einem verstärkten Interesse der Stasi an den jugendlichen Boofern. So erstellte die Stasi sogenannte "Kontrollkarten" auf denen sie bekannte Boofen katalogisierte und Informationen zu ihnen sammelte. Die Kontrollkarten enthielten Informationen zum Standort der Boofen, zur Erreichbarkeit und zu Nutzern. Aus einem Bericht der Kreisdienststelle Pirna aus dem Jahr 1983 geht hervor, dass der Stasi zu diesem Zeitpunkt 50 Höhlen und 55 Boofen in der Sächsischen Schweiz bekannt waren (BStU, MfS, BV Dresden, KD Pirna, Nr. 71476, Bl. 1). 1985 waren 85 Boofen registriert (BStU, MfS, BV Dresden, BdL, Nr. 10243, Bl. 24).  Darüber hinaus wurden Klettervereine und deren Mitglieder genauer ins Visier genommen.

1989/90 begann für die Sächsische Schweiz ein neues Kapitel. Sie zeichnet sich, nun als anerkannter Nationalpark, durch viele Dinge aus, wie die unverwechselbar schöne Landschaft aus Felsen und Wäldern oder eine beeindruckende Artenvielfalt. Aber auch durch eine abwechslungsreiche Geschichte, die aus den Stasi-Akten hervorgeht. Sie war nicht einfach nur ein sehr erfolgreiches Touristenziel und Traum von Bergsteigern. Der heutige Nationalpark war ein Rückzugsort für alle in der DDR, die gerade einen solchen brauchten. Ein Urlaub fernab der Überwachung und Einzäunung war hier möglich und wurde nur allzu gern von Jugendlichen und Bürgern aus der gesamten DDR genutzt.

Felix Möhwald