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MfS-Lexikon

Vergangenheitspolitik, Rolle des MfS

Synonym: Rolle des MfS in der Vergangenheitspolitik

Der Antifaschismus war ein Kernelement der Legitimationsideologie des SED-Staates. Politische Gegner wurden als "faschistisch" diffamiert und kriminalisiert und vergangenheitspolitische Themen spielten im Systemkonflikt mit der Bundesrepublik eine große propagandistische Rolle. Zum offiziellen Selbstbild der DDR gehörte die These, auf ihrem Territorium seien - im Unterschied zum Westen - NS-Verbrechen und deren Täter systematisch verfolgt worden. Ungeahndete NS-Verbrechen seien ein Problem des Westens.

Angesichts der politischen Bedeutung und Brisanz des Themas bekam die Staatssicherheit auf dem Feld der Vergangenheitspolitik eine zentrale Rolle zugewiesen, denn nur dieser militärisch und hoch konspirativ organisierte Apparat schien in der Lage, die betreffenden heiklen Angelegenheiten sicher im Sinne der SED-Herrschaftsinteressen handhaben zu können. Das MfS brachte im Laufe der 50er und 60er Jahre große Teile der einschlägigen NS-Akten und -Informationen unter seine Kontrolle und ergänzte später seine bald zu einem NS-Sonderarchiv angewachsene Sammlung mit Originaldokumenten und Kopien aus Polen, der ČSSR und der Sowjetunion.

Informationen über NS-Belastungen wurden unter der Ägide der Geheimpolizei auf drei grundsätzlich unterschiedliche Weisen genutzt: Sie dienten erstens als Druckmittel für die Werbung von inoffiziellen Mitarbeitern sowohl in der DDR als auch im Westen. Zweitens wurden sie - sofern sie Funktionsträger der Bundesrepublik betrafen - ausgiebig in der propagandistischen Auseinandersetzung mit dem Westen verwendet (Globke, Oberländer, "Blutrichter"-Kampagne). Drittens bildeten sie in einzelnen Fällen die Grundlage für Strafverfolgungsmaßnahmen gegen DDR-Bürger.

Das MfS hatte ein grundsätzlich instrumentelles Verhältnis zur Verwendung von Informationen über NS-Belastungen. Entsprechend seiner Funktionslogik ging es dabei stets um die Erreichung des größtmöglichen politischen und sicherheitspolitischen Nutzens. In Abhängigkeit von Zeitumständen, der Beschaffenheit des Einzelfalles, propagandistischen Erwägungen und geheimpolizeilichen Eigeninteressen ergab sich in der Praxis ein großes Spektrum von Handlungsvarianten, das von der zielgerichteten und harten Strafverfolgung bis hin zur ebenso zielgerichteten Strafvereitelung reichte.

Die Aktivitäten zur Aufarbeitung und Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen richteten sich strikt an den aktuellen Interessenlagen der DDR aus. In den durch Justizwillkür geprägten Waldheimer Prozessen von 1950 wurden Personen, die von der sowjetischen Besatzungsmacht an DDR-Stellen übergeben worden waren, meistens lediglich wegen ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten NS-Organisationen oder -Institutionen verurteilt. Dabei ging es in erster Linie darum, bei der NS-Strafverfolgung einen demonstrativen harten Endpunkt zu setzen.

Das Kapitel Strafverfolgung galt damit in den 50er Jahren als weitgehend abgeschlossen, die Staatssicherheit konzentrierte sich auf die Überwachung von ehemaligen NS-Funktionsträgern, vermutete sie doch in diesen Kreisen ein besonders hohes Gefährdungspotenzial für den SED-Staat. Nicht zuletzt deshalb wurden NS-Belastete auch bevorzugt als inoffizielle Mitarbeiter geworben. Sie waren leicht unter Druck zu setzen, und einige von ihnen konnten auf nützliche einschlägige Berufserfahrungen in Polizeiapparaten und Nachrichtendiensten der NS-Zeit zurückgreifen.

Zumeist waren sie jedoch nicht in der Lage, nachrichtendienstlich brisante Informationen zu beschaffen, sondern berichteten lediglich aus ihrem Lebensalltag in der DDR. Anders verhielt es sich bei einigen inoffiziellen Mitarbeitern, die für das MfS im Westen, etwa im Umfeld von Nachrichtendiensten, arbeiteten. Hier nutzte die Staatssicherheit ohne erkennbare Skrupel teilweise auch Schwerstbelastete und schirmte sie nach Kräften gegenüber Ermittlungen ab - teilweise sogar, wenn diese von sozialistischen Bruderstaaten ausgingen.

Aufgrund von ökonomischen und politischen Defiziten geriet die DDR in der Systemkonkurrenz schon in den 50er Jahren in eine hoffnungslose Defensivposition. Sie reagierte, indem sie ab Ende des Jahrzehnts die NS-Belastung westdeutscher Funktionsträger in immer neuen Propagandakampagnen thematisierte. Den Anfang machte 1957 die "Blutrichter"-Kampagne, die die Bundesrepublik an einem ihrer wundesten Punkte traf, denn die zahlreichen belasteten Juristen im Justizdienst der Bundesrepublik beeinträchtigten das Ansehen des Rechtsstaates. Die Kampagnenpolitik der DDR war insgesamt durchaus erfolgreich, weil die verwendeten Informationen überwiegend zutreffend waren.

Das schloss in bedeutenden Fällen Manipulationen - wie bei den Zeugenaussagen im Schauprozess gegen den Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer oder bei der Fälschung einer Unterschrift durch das MfS in der Kampagne gegen den Bundespräsidenten Heinrich Lübke - nicht aus. Vor diesem Hintergrund wird den zunehmenden Anstrengungen der westdeutschen Justiz zur Ahndung von NS-Verbrechen in der Forschung auch ein kompensatorisches Motiv zugeschrieben.

Die Intensivierung der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen in der Bundesrepublik in den 60er Jahren wirkte bald in die DDR zurück. Es stellte sich heraus, dass auch in der DDR NS-Täter unbehelligt lebten. Fast in jedem großen westdeutschen Ermittlungskomplex tauchten früher oder später Fälle auf, die sich zu einer Gefährdung der antifaschistischen Reputation der DDR auswachsen konnten. Fortan war das MfS mehr und mehr damit beschäftigt, diese unerwünschten Rückwirkungen in den Griff zu bekommen.

Das bedeutete im Regelfall die Abschirmung von verdächtigen DDR-Bürgern, in Einzelfällen initiierte die Staatssicherheit aber auch Strafverfahren gegen besonders stark Belastete, die schnell und hart abgeurteilt wurden, um antifaschistische Rigorosität zu demonstrieren. Ein Musterfall ist der Prozess gegen den Auschwitz-Arzt Horst Fischer, der 1966 mit Todesurteil und Exekution endete.

In der Regel handelte es sich bei den mutmaßlichen NS-Tätern um unauffällige, loyale DDR-Bürger, zum Teil um SED-Mitglieder und kleinere Funktionsträger. Breit angelegte Strafverfolgungsmaßnahmen verboten sich hier aus "politisch-operativen" Gründen. Besonders deutlich wird das in den Fällen, wo Ärzte verdächtigt wurden, in der NS-Zeit an "Euthanasie"-Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Hier vereitelte die Geheimpolizei strafrechtliche Ermittlungen, weil die Verwicklung verdienter und exponierter Angehöriger des DDR Gesundheitswesens in NS-Verbrechen Unruhe gestiftet und dem sorgsam gepflegten Image des staatlichen Antifaschismus widersprochen hätte.

Dass das Potenzial an belasteten DDR-Bürgern erheblich größer war als erwartet, erwies sich in den 70er Jahren, als das MfS systematische Recherchen zu einer Reihe von Verbrechenskomplexen, vor allem aus dem Bereich der SS-Einsatzgruppen und ähnlichen Formationen, anstellte. Diese hochaufwendigen Ermittlungen hielten bis 1989 an und förderten Hunderte Angehörige solcher Einheiten zutage, die seit Jahrzehnten unbehelligt in der DDR lebten.

Allerdings wurden die Anforderungen für die Eröffnung eines förmlichen Ermittlungsverfahrens so hoch geschraubt, dass jährlich nur etwa ein bis zwei Verfahren diese Hürde nahmen, bei denen eine lebenslängliche oder Todesstrafe aufgrund der Tatschwere, der Beweislage, der Prozessfähigkeit des Beschuldigten praktisch garantiert war. In allen anderen Fällen beließ es das MfS bei der üblichen geheimpolizeilichen Überwachung und verhinderte ggf. aktiv, dass die Belastungen bekannt wurden.

Es ist nicht genau quantifizierbar, wie viele NS-Täter auf diese Weise verschont blieben, gleichwohl kann diese Praxis angesichts der in der DDR bestehenden Rechtslage als latente Strafvereitelung angesehen werden.

Denn im Unterschied zur Bundesrepublik, wo nach 1960 nur noch Mord (und Beihilfe) zur Anklage gebracht werden konnte, was eine hohe, oftmals unüberwindliche Hürde für die Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen darstellte, standen in der DDR mit den §§ 91 und 93 StGB ("Verbrechen gegen die Menschlichkeit " bzw. "Kriegsverbrechen") an alliiertes Recht angelehnte Strafrechtsnormen zur Verfügung, die eine breite Verfolgung der am NS-Völkermord beteiligten Täter ermöglicht hätten, ohne einzelne konkrete Tötungsdelikte individuell nachweisen zu müssen.

Literatur

  • Weinke, Annette: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland: Vergangenheitsbewältigungen 1949-1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg. Paderborn 2002.
  • Leide, Henry: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR. Göttingen 2005.

Roger Engelmann, Henry Leide