Direkt zum Seiteninhalt springen

"Aufklärung, nicht Abrechnung"

Roland Jahn im Interview mit dem Kurier vom 4. November 2014

Roland Jahn gibt das Interview in einem Café im Ostberliner Trendviertel Prenzlauer Berg. Hier wohnten schon vor dem Mauerfall viele Künstler und Intellektuelle. Die das aber nur konnten, so sie sich der DDR anpassten. Der Spagat zwischen Überleben und Gegenwehr im "Realen Sozialismus", zwischen Erniedrigung und Freiheit, ist Jahns Lebensthema.

Widerstand und Auflehnung gegen ein Regime ist selten spontan, sondern meist ein Prozess. Wo war der Punkt, als Sie wussten, so geht es nicht weiter, ich rebelliere?

Roland Jahn: Das Leben in der Diktatur ist eine ständige Zerreißprobe. Es gibt da keine einfachen Antworten, das ist individuell. Man muss sich genau überlegen, was man tut, alles kann Folgen haben. Niemand war nur Rebell oder Angepasster, es war oft beides. Man hat sich sogar im Widerspruch noch angepasst in der Sprache: Eine Suche nach vertretbaren Kompromissen, um sich und andere nicht zu gefährden.

Wann ging es nicht mehr?

Jahn: Der Punkt kam, als mein Vater pensioniert war und ich ihn nicht mehr im Beruf gefährden konnte. Besonders bewegt hat mich der Tod eines guten Freundes in Stasi-Haft, eines arglosen, fröhlichen Mannes von 23 Jahren. Da wusste ich: Die Auseinandersetzung mit diesem Staat ist eine auf Leben und Tod.

Haben Westler oft zu wenig Verständnis für dieses "Überleben"- Wollen und -Müssen der Ostler, sind wir zu hart?

Jahn: Es gibt keinen Maßstab für Verhalten in der Diktatur. Es gibt ein Recht auf Anpassung, keiner hat die Pflicht, ins Gefängnis zu gehen, sich der Gefahr auszusetzen, an der Mauer erschossen zu werden. Man konnte das ja sehr schwer einschätzen: Hätte sich eine junge Frau mit zwei Kindern gefährden sollen? Hätte ein zu den Grenztruppen mit Schießbefehl eingezogener Soldat verweigern müssen? Mir blieb diese Wahl glücklicherweise erspart.

Ist Ihnen deshalb auch verständlich, dass jeder 16. DDR Bürger Zuträger der Stasi war und damit Mitbürger verriet?

Jahn: Mit derlei Zahlen bin ich äußerst vorsichtig. Sicher ist: Es gab zu viele Denunzianten. Aber es gab auch viele, die sich dem Ansinnen verweigert haben. Gerade deshalb muss man das differenziert betrachten und genau hinsehen. Es geht um Verantwortung
für das Handeln.

Zeigt Ihnen Ihr Amt nun, wie Bürger aber auch Denunziationen bei der Stasi verweigerten?

Jahn: Ja, ich bin darin als Bundesbeauftragter für die Stasi- Unterlagen in vielem bestätigt worden. Im Stasi-Archiv finden sich Dokumente, die Zeugnisse der Unterdrückung durch die Staatsmacht, aber auch des Freiheitswillens sind. Den brechen: Das wollte die Stasi.

Altkanzler Kohl hat laut unautorisierter Biografie gesagt, die DDR sei nur kollabiert, weil Gorbatschow das Geld ausgegangen ist, nicht wegen des Einsatzes der Bürgerrechtler. Richtig?

Jahn: Es ist wichtig, die vielen Faktoren zu sehen, die das Ende der DDR möglich gemacht haben. Richtig ist, dass durch die Zurückhaltung der Sowjets die Proteste nicht wie derAufstand1953blutig niedergeschlagen worden sind. Ganz entscheidend war der Mut derjenigen, die ihre Angst überwunden und ihrem Protest auf die Straße getragen haben. Es gehören eben viele Dinge zusammen, auch die wichtige Arbeit der vielen Oppositionellen vor der "Friedlichen Revolution".

Waren Sie enttäuscht von der westdeutschen Linken und ihren Medien wie dem "Spiegel" mit ihrer schroffen Ablehnung der Liberalisierung im Ostblock?

Jahn: Solidarnosc in Polen und andere waren wichtig, auch für uns, und ich hätte mir mehr politische Unterstützung gewünscht. Die Haltung von westdeutschen Linken war für mich schon sehr verwunderlich angesichts der Unrechtssysteme im Osten.

SPD und Grüne sehen heute die DDR zwar etwas kritischer, verhelfen ihren Erben von der "Linken" aber trotzdem zum ersten Landeschef in Thüringen. Leugnen die Kommunisten den "Unrechtsstaat DDR" zu Recht?

Jahn: Sie war das schon von der Verfassung her. Die gab der Einheitspartei SED die alleinige Macht, die machte sich den Staat untertan durch systematische Unterdrückung von Menschenrechten: Biografien kritischer Bürger wurden zerstört, Menschen für ihre Überzeugungen ins Gefängnis gesperrt, Flüchtende an der Mauer erschossen. Wer den Begriff "Unrechtsstaat" ablehnt, verhöhnt heute noch die Opfer, die sich auf keinen Rechtsstaat berufen konnten. SED Funktionäre von damals, die heute nur von "ostdeutschen Biografien" reden wollen, nehmen alle in Haftung, die sich nicht anpassten. Zwischen deren Biografien und denen der SED-ler gab es aber gewaltige Unterschiede.

"Die Linke" hat mit dem letzten SED-Chef Gregor Gysi eine Galionsfigur im Bundestag, und bis zu 28 Prozent wählen im Osten seine Partei. Tut das weh?

Jahn: Darüber zu spekulieren, ist schwierig. Meine Aufgabe ist es, die Aufarbeitung der SED-Diktatur mithilfe der Stasi-Akten zu gewährleisten. Es geht mir um Aufklärung, nicht Abrechnung, um individuelle Verantwortung, nicht Schuldzuweisung.

Beides begann mit dem Mauerfall. Wie haben Sie den 9. November 1989 erlebt?

Jahn: Ich saß den ganzen Abend im Fernsehstudio des Senders Freies Berlin und kommentierte die Ereignisse live für die ARD. Nach dem Ende der Sendung fuhr ich los und war gegen zwei Uhr an der Mauer, wo ich gegen den Strom Richtung Westen ankämpfte, um nach Ostberlin zu kommen. Das Glücksgefühl zwischen den Menschen war unbeschreiblich. Am nächsten Tag fuhr ich zur Familie in Jena, von wo man mich sechs Jahre zuvor gewaltsam in den Westen abgeschoben hatte. Das war schon sehr bewegend!

Auch mit etwas Triumphgefühl?

Jahn: Ja. Sagen wir es so: Es ist ein gutes Gefühl, Teil davon zu sein, das gibt Selbstbewusstsein. Aber ich sah das schon früh politisch: Wenn sich die Menschen zusammentun, dann können sie Mauern einreißen. Das gibt Mut, auch mit den heutigen Problemen fertig zu werden.

Brauchen Sie den jetzt wieder?

Jahn: Das Stasi-Unterlagenarchiv ist etwas ganz Besonderes: Es hilft, viele gestohlene Leben zurückzubekommen. In den vielen Gesprächen mit Betroffenen erfahre ich immer wieder, wie wichtig das ist. Auch für die nächste Generation gilt: Je besser wir die Diktatur begreifen, umso besser können wir die Demokratie gestalten.

Das Gespräch führte Reinhard Frauscher