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"Eine Schule der Demokratie"

Der neue Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Roland Jahn, 57, über den Umgang mit früheren Stasi-Mitarbeitern in seiner Behörde, den schwierigen Weg zur Versöhnung und die Frage, was Ägypten von der Aufarbeitung der SED-Diktatur lernen kann. Der volle Wortlaut eines SPIEGEL-Gesprächs, veröffentlicht am 28. März 2011.

SPIEGEL: Herr Jahn, der Staatssicherheitsdienst hat Sie über Jahre drangsaliert. Nun sind Sie Chef der Behörde, die das Erbe der Geheimpolizei bewältigen soll. Fühlen Sie sich als Sieger der Geschichte?

Jahn: Nein. Das passt nicht zu mir. Mein Lebensmotto ist Freiheit. „Freiheit muss man sich nehmen“, das hat schon die Band meiner Jugend, „Ton Steine Scherben“, gesungen.

Aber ein bisschen Genugtuung empfinden Sie schon?

Jahn: Ich freue mich wirklich täglich über meine Freiheit. Jahrelang wurde ich verfolgt, und nun sitze ich hier, im SPIEGEL-Büro, mit Blick auf das Brandenburger Tor. An der Stelle, an der man früher sein Leben riskierte, schlendern heute junge Menschen. Das genieße ich. Besonders wenn ich an meinen Vernehmer im Stasi-Gefängnis zurückdenke. Selbst im Knast habe ich mein Lachen bewahrt und bin nicht verbittert. Mein Vernehmer hat dann immer gesagt: Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Da hat er recht behalten.

Ihr erster Auftritt als neuer Behördenleiter wirkte allerdings nicht so entspannt. Sie haben angekündigt, Mitarbeiter aus Ihrem Haus zu entfernen, die einst der Stasi dienten.

Jahn: Das habe ich nicht getan. Ich sagte in meiner Antrittsrede: Jeder ehemalige Stasi-Mitarbeiter, der in der Behörde angestellt ist, ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer. Das Wort Entlassung kam bei mir nicht vor.

Ihre Vorgänger, Joachim Gauck und Marianne Birthler, müssen Ihren Vorstoß als Affront empfinden. Schließlich hatten sich beide mit den Stasi-Leuten in der Behörde abgefunden. Warum zeigen Sie nun solche Härte?

Jahn: Vor meinem Amtsantritt habe ich mehrere Gespräche mit Opferverbänden geführt. Denn ich sehe mich als Anwalt der Opfer. Alle haben gesagt: Für sie sei es unerträglich, dass sie in der Behörde zur Aufarbeitung der Diktatur ausgerechnet früheren hauptamtlichen Stasi-Leuten begegnen können – womöglich schon am Empfang des Gebäudes. Das sei eine Zumutung. Wir machen diese Aufarbeitung auch, damit Menschen ihre Würde wieder zurückbekommen, die ihnen die Unterdrücker genommen haben. Da sage ich: Die Beschäftigung früherer Stasi-Leute beschädigt die Glaubwürdigkeit der Behörde.

Man könnte auch sagen: Knapp 50 frühere Stasi-Leute sind gut integriert in einer Behörde mit über 1600 Mitarbeitern. Die Leute haben 20 Jahre unbeanstandet gearbeitet. Also lasst sie.

Jahn: Ich bin von meinem Wesen her ja ein Versöhner. Ich werbe auch für eine differenzierte Betrachtung von Lebensläufen. Aber ich kann nicht vermitteln, dass Auskünfte unserer Behörde über die inoffizielle Stasi-Tätigkeit anderswo zu Entlassungen führen und bei uns ehemals hauptamtliche Stasi-Offiziere tätig sind. Erst recht nicht, wenn der Bundestag gerade debattiert, ob die Überprüfungsmöglichkeiten im Öffentlichen Dienst auf Inoffizielle Mitarbeit erhalten oder sogar ausgeweitet werden sollen.

Haben Sie mit den betroffenen Personen gesprochen – immerhin sind es nun Ihre Mitarbeiter, für die Sie eine Fürsorgepflicht haben?

Jahn: Ja, natürlich. Ich gehe auf sie zu und respektiere sie als Personen. Neulich las ich spät am Abend noch etwas in meinem Büro und hörte Geräusche an meiner Tür. Ein Mann stand plötzlich in meinem Büro. Ich erkannte ihn und sagte spontan: Da ist ja die Staatssicherheit. Da musste auch er lachen. Ein absurder Moment. Im Übrigen: Wir wollen die 47 Betroffenen nicht in die Wüste schicken. Ich bin ein vehementer Anhänger des Rechtsstaats. Denjenigen, die ihn uns vorenthalten haben, werden wir ihn gewähren. Sie haben Arbeitsverträge mit der Bundesrepublik, nicht mit dem Bundesbeauftragten. Die Politik ist gefordert, an einer Lösung mitzuarbeiten.

Hinter dieser Debatte steckt eine prinzipielle Frage: Wie lange soll einem früheren Mitarbeiter der Stasi seine Vergangenheit noch vorgehalten werden? Matthias Platzeck, immerhin auch aus der Bürgerbewegung, warb im vergangenen Jahr heftig für Versöhnung.

Jahn: Für mich gilt der Grundsatz: Verzeihen ist möglich. Aber den Zeitpunkt können nicht die Täter bestimmen, das können nur die Opfer. Und kein Täter kann einfach nur „Entschuldigung“ sagen. Er kann allerdings darum bitten.

Im Rechtsstaat gibt es Verjährungsfristen und neutrale, unbefangene Richer, die entscheiden. Die Opfer einer Straftat fällen keine Urteile.

Jahn: Das ist ein unzulässiger Vergleich. Wir sind hier nicht im Strafverfahren. Es geht nicht um Strafurteile. Mir geht es immer darum, dass Menschen Verantwortung übernehmen für das, was sie getan haben, und Konsequenzen ziehen. Für die Ex-Stasi-Offiziere in unserer Behörde heißt das: Wer bereut, der würde spüren, dass es nicht angemessen ist, als Wachmann die Opfer von einst zu begrüßen. Grundsätzlich aber gilt: Die Gesellschaft hat selbstverständlich auch den Auftrag, Menschen, die im Unterdrückungsapparat mitgearbeitet haben, zu integrieren.

Gibt es denn frühere Stasi-Leute, die sich aus Ihrer Sicht ausreichend ihrer Geschichte gestellt haben?

Jahn: Die gibt es natürlich. Zu meinem Bekanntenkreis gehören auch Personen, die früher Inoffizielle Mitarbeiter waren. Es gab Menschen, die auf mich zukamen und von ihrer Verstrickung erzählt haben. Es gab 1990 in der frei gewählten Volkskammer auch einen PDS-Abgeordneten, der von sich aus seine Verbindung mit der Geheimpolizei offenlegte und sich nicht in Ämter drängte. Vor solchen Menschen habe ich großen Respekt.

Würde die Bereitschaft bei den Verstrickten zum offenen Gespräch nicht sprunghaft steigen, wenn ihnen keine beruflichen Konsequenzen mehr drohen?

Jahn: Berufliche Nachteile sind nicht zwangsläufig. Es gibt genug Arbeitgeber, auch im Öffentlichen Dienst, die sich an der früheren Stasi- Tätigkeit nicht stören. Und auch ich bin kein Anhänger des Automatismus: IM gleich Entlassung. Ich stehe für die differenzierte Betrachtung von Biografien. Ich weiß, warum Menschen mitmachten. Das kann ich von mir selbst berichten. Ich war Mitglied der FDJ, ich habe meinen Wehrdienst abgeleistet. Also war ich auch ein kleines Rad im Getriebe der Diktatur.

Die Öffnung der Stasi-Akten war durchaus umstritten. Es gab Furcht vor Lynchjustiz. Wie sieht die Bilanz von 20 Jahren Aufarbeitung aus Ihrer Sicht aus?

Jahn: Es ist eine Erfolgsgeschichte. Wir haben Akteneinsicht und Überprüfung möglich gemacht – beides rechtsstaatlich geregelt. Die gefürchteten Racheaktionen sind ausgeblieben. Unser Weg des Umgangs mit der Diktatur sorgt international für Aufsehen. Osteuropäische Staaten haben bei uns Rat eingeholt, nachdem sie anfangs gegen die Öffnung der Akten waren. Und nun kommen Fragen aus dem arabischen Raum. Ein Vertreter unserer Behörde ist jetzt nach Ägypten gefahren, weil man sich dort für unsere Arbeit interessiert.

Was erwarten die Ägypter?

Jahn: Sie wollen Informationen, wie die Öffnung und Sicherung der Akten bei uns erfolgte. Auch in diesen Gesellschaften geht es Menschen um Aufklärung. Aufklärung über Diktaturen hilft allen. Vielleicht lernen dann auch deutsche Politiker, eine Diktatur nicht erst dann Diktatur zu nennen, wenn der Staat Menschen auf der Straße erschießt.

Die Anfragen aus Ägypten können aber über eines nicht hinwegtäuschen: Nach 20 Jahren ist eine wesentliche Aufgabe Ihrer Behörde erledigt – die Zahl der Überprüfungen im Öffentlichen Dienst geht zurück.

Jahn: Das mag sein. Aber es ist vom Gesetzgeber geplant, die Überprüfungen wieder auszuweiten. Die Zahl der Anträge auf persönliche Akteneinsicht ist nach wie vor enorm. Entscheidend aber ist: Das Interesse an Aufklärung zum Thema DDR, an Informationen darüber, wie eine solche Diktatur funktioniert, steigt. Kinder fragen, wie ihre Eltern und Lehrer gelebt haben. Die Angebote der Behörde dazu sind sehr gefragt. Dabei geht es mir nicht nur um den Blick zurück. Wann ist es Zeit für Widerspruch, wann muss man sich auflehnen? Wie funktioniert ein System der Anpassung? Solche Fragen stellen sich nicht nur in der Diktatur. Wir sind eine Schule der Demokratie.

DDR, SED und Stasi sind für Sie zu einem großen Lebensthema geworden. Wird es Ihnen nie zu viel, sich damit zu beschäftigen?

Jahn: Mein Thema ist Freiheit, deshalb die Beschäftigung mit der Unfreiheit. Mein anderes Thema ist Aufklärung. Deshalb bin ich Journalist geworden. Nun kann ich beides noch besser zusammenbringen.

Welches Thema, glauben Sie, wird Ihre Amtszeit prägen?

Jahn: Wir sollten uns mehr mit dem Alltag in der Diktatur beschäftigen, mit den Mechanismen der Anpassung, mit dem System der Angst. Die ersten Jahre der Aktenöffnung waren geprägt von Enthüllungen und dem Streit um spektakuläre Stasi-Fälle. Das reicht nicht, um eine Diktatur zu begreifen.

Seither wird die DDRvor allem mit Zwangsadoption, Todesstreifen und Stasi in Verbindung gebracht. Ist das wirklich eine korrekte Abbildung der Geschichte?

Jahn: Ich sage immer: Die Sonne scheint auch in der Diktatur. Jeder hat seine Lebenserinnerungen. Viele denken, so wie sie die DDR erlebt haben, so war sie. Aber das stimmt nicht. Es gab eben beides: Knast in Hohenschönhausen und FKK an der Ostsee. Ich kenne die unterschiedlichen Perspektiven auf die DDR aus meiner eigenen Familie. Auch meine Mutter dachte immer, wenn jemand eingesperrt wurde, dann werde da schon was gewesen sein. Bis ihr Sohn ein gesperrt wurde – vollkommen willkürlich. Über diese Erfahrungen müssen wir reden.

Sie klingen so, als sollte die Behörde ewig existieren. Vor nicht allzu langer Zeit wurde noch ihr rasches Ende vorhergesagt, eine Eingliederung ins Bundesarchiv.

Jahn: Es ist ganz einfach: Die Behörde wird so lange existieren, wie sie gebraucht wird. Alle bisherigen Prognosen haben sich als falsch erwiesen. Der Bedarf an Aufklärung ist ungebrochen. Ein Ende der Behörde ist nicht absehbar. Aber die Gesellschaft verändert sich und wir uns mit ihr.

Sie sehen sich als Anwalt der Opfer. Ein wichtiges Recht der Opfer wurde vor Jahren aus dem Stasi-Unterlagen-Gesetz getilgt – das Recht, seine Akte vernichten zu lassen. Warum wird dieses Recht einem Ausgespähten verwehrt?

Jahn: Das ist eine komplizierte Materie. Ich bin immer vehement für den Opferschutz eingetreten. Ich habe etwa auch Helmut Kohl unterstützt, als dieser sich gegen die Herausgabe seiner Akte wehrte. Er war Opfer von Telefon-Überwachung. Zugleich sind die Akten ein großer Schatz für Wissenschaftler. Die Vernichtung wäre ein Verlust.

In der Sache Kohl gerieten Sie mit Ihrem Vor-Vorgänger Joachim Gauck aneinander.

Jahn: Ja, wir hatten damals über die Herausgabe der Kohl-Akte unterschiedliche Auffassungen. Am Ende haben Gerichte die Rechte der Opfer bei der Herausgabe von Abhörprotokollen gestärkt. Das war genau mein Anliegen.

Gauck hat sich bitter gerächt und Ihre Kandidatur hintertrieben.

Jahn: Gerächt würde ich nicht sagen. Er hatte einen anderen Kandidaten im Kopf, das ist eben Demokratie. Joachim Gauck hat mir seine Unterstützung zugesagt.

Sie haben während Ihrer Bewerbung Angela Merkel einmal als „großes Vorbild“ bezeichnet. Wie war das gemeint?

Jahn: Nun, auch ein bisschen ironisch. Weil mir mangelnde Verwaltungserfahrung vorgehalten wurde, habe ich auf ihre Entwicklung verwiesen. Angela Merkels Weg zeigt, wie jemand, der aus der Unfreiheit kommt, erfolgreich die neue Lebenssituation meistert. Das ist doch eine gewaltige Leistung. Ähnliches leisten viele Menschen aus der DDR. Davor habe ich großen Respekt.

Auch Manfred Stolpe und Gregor Gysi haben die Umstellung hinbekommen.

Jahn: Ich habe doch vorhin gesagt: Auch wer Teil des Unterdrückungssystems war, der kann heute den Rechtsstaat und die Freiheit genießen. Was sollte mich daran stören?

Zu den Eigenheiten der Behörde des Bundesbeauftragten gehörte die Verknüpfung mit dem Namen des jeweiligen Amtsleiters. Sind Sie schon als Chef der Jahn-Behörde angesprochen worden?

Jahn: Die Behördenleiter konnten sich nur schwer dagegen wehren ...

… Gaucks Abwehrverhalten war gering.

Jahn: Das weiß ich nicht. Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, tatsächlich wurde ich schon als Leiter der Jahn-Behörde angesprochen. Das ist schon merkwürdig. Ich hätte nie gedacht, dass mein Name auf diese Weise mit der Geschichte der Geheimpolizei verbunden wird.

Herr Jahn, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten Stefan Berg und Frank Hornig