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"Es gibt keine absolute Wahrheit"

Roland Jahn spricht über Stasi-Filme, die Widersprüchlichkeit des Lebens in der DDR und wie eine neue Generation mit dem Thema umgeht

Es ist nicht leicht, eine Behörde zu übernehmen, die umgangssprachlich längst nach den Amtsvorgängern Joachim Gauck und Marianne Birthler benannt wird. Doch Roland Jahn, der selbst monatelang im Stasi-Gefängnis saß, wird als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen ohne Zweifel eigene Akzente setzen. Im Interview mit n-tv.de plädiert er für eine differenzierte Betrachtung der DDR, die explizit auch die Perspektive der Täter einschließt. Allerdings fordert er von diesen auch, "offen mit ihrer Biografie umzugehen" und sich bei den Opfern zu entschuldigen. Außerdem spricht er über Stasi-Filme, die Widersprüchlichkeit des Lebens in der DDR und wie eine neue Generation mit dem Thema umgeht.

Kürzlich hat ein schwedischer Fernsehbeitrag enthüllt, dass Ikea Möbel auch von politischen Gefangenen in der DDR produzieren ließ. Hinweise darauf stammen aus den Stasi-Archiven. Die Arbeit Ihrer Behörde scheint also - entgegen anderslautender Meinungen - noch nicht am Ende zu sein?

Jahn: Journalisten und Wissenschaftler, die in die Stasi-Unterlagenbehörde kommen, stoßen immer wieder auf neue Erkenntnisse. In den letzten Jahren gab es dabei auch Recherchen zur Behandlung von Strafgefangenen und politischen Häftlingen in der DDR. Deren Arbeit wurde für Betriebe in der DDR, aber auch im Ausland ausgenutzt.

Halten Sie die Darstellung des schwedischen Fernsehbeitrags für glaubhaft?

Jahn: Ikea hat bei uns einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt. Ich hoffe, dass die Vorgänge so aufgeklärt werden. Gerade Unternehmen im westlichen Ausland, vor allem aber in der Bundesrepublik, die Beziehungen zur DDR hatten und ihre Produkte hier fertigen ließen, sollten prüfen, ob ihre Produkte zum Beispiel von politischen Häftlingen unter Zwang gefertigt wurden.

Gab es noch andere Fälle, in denen Gefangene Produkte für den Export herstellten?

Jahn: Ja, zum Beispiel das Frauengefängnis Hoheneck in Sachsen, wo politische Gefangene einsaßen oder die Haftanstalt Naumburg oder das Gefängnis Cottbus.

Hoheneck stand im vergangenen Jahr auch im Mittelpunkt des Fernsehfilms "Es ist nicht vorbei", in dem Folter und medizinische Versuche an Gefangenen thematisiert wurden. Es ist ein fiktionaler, verdichteter Stoff. Halten Sie diese Herangehensweise an die Geschichte von DDR und Stasi für gerechtfertigt?

Jahn: Ja, Kunst und Kultur sollten sich des Themas annehmen, weil wir damit viele Menschen erreichen können. Das gilt vor allem wenn man spannende Formate wie Krimis oder Thriller daraus entwickelt. "Es ist nicht vorbei" zum Beispiel hatte bei seiner Ausstrahlung sechs Millionen Zuschauer, die erfahren haben, wie Dinge in der DDR geschehen konnten. Das Entscheidende ist, dass der Film auf Fakten beruht. Dass es politische Gefangene gab, dass Psychopharmaka in der Haft eingesetzt wurden und Ärzte im Dienste der Stasi arbeiteten steht auch in den Stasi-Akten. In diesem Sinne können Spielfilme die Erkenntnisse aus Stasi-Akten in die Öffentlichkeit tragen.

War die Stasi-Unterlagenbehörde bei den Dreharbeiten eingebunden?

Jahn: Wir stehen zur Beratung gern zur Verfügung und haben auch bei vielen Filmen die Recherche begleitet. Indem Produzenten, Regisseure, aber auch Schauspieler in Stasi-Akten lesen und mit unserem Mitarbeitern sprechen, können sie sich besser auf den Film vorbereiten. Jörg Hartmann, der einen Stasi-Offizier in der Serie "Weißensee" spielt, hat sich zum Beispiel durch das Aktenstudium vorbereitet und letztlich den Deutschen Fernsehpreis als bester Schauspieler bekommen

Derzeit läuft im Kino das DDR-Drama "Barbara". Es geht um eine junge Ärztin, die einen Ausreiseantrag stellt und daraufhin in die Provinz versetzt wird. Dort wird sie von der Stasi beobachtet und schikaniert, ihre Wohnung wird durchsucht und sie muss Leibesvisitationen über sich ergehen lassen. Ist die Darstellung der Arbeit der Stasi authentisch?

Jahn: Das wurde so von Zeitzeugen berichtet. Vor allem aber nähert sich "Barbara" durch seine ruhige Art sehr menschlich den Verhältnissen in der DDR an. Die Hauptfigur erlebt eine Zerrissenheit zwischen Bleiben und Gehen. Einerseits ist da der Traum von der Freiheit, andererseits aber auch die Verantwortung gegenüber den Mitmenschen, die man in der Unfreiheit zurücklässt. Wegen dieser Widersprüchlichkeit, die in der DDR präsent war, halte ich "Barbara" für einen sehr guten Film.

Durch die ruhige Art und die unglamouröse Hauptfigur wirkt "Barbara" wie ein Gegenentwurf zu "Das Leben der Anderen", der in der Künstler- und Dissidentenszene des Prenzlauer Bergs spielt.

Beides widerspricht sich nicht. Wir brauchen Filme mit ganz verschiedenen Erzähl- und Sichtweisen, denn es gibt keine absolute Wahrheit über die DDR. Jeder hat seine eigenen Erfahrungen gemacht und jeder soll sich in der Darstellung der DDR wiedererkennen. Gleichzeitig müssen wir aber die Dinge zeigen, die damals von vielen nicht wahrgenommen wurden: Was hat sich hinter den Kulissen abgespielt, was haben andere Menschen erlebt, etwa jene, die sich gegen den Staat gewandt haben. Diese Vielfalt darzustellen, ist eine Herausforderung.

Immer wieder fordern Sie eine differenzierte Darstellung der DDR, die auch die Zwänge der Menschen zeigt. Könnte das auch zu einer Stigmatisierung aller Ostdeutschen führen, weil viele Westdeutsche die Widersprüchlichkeit, die das Leben in der DDR bestimmte, gar nicht nachvollziehen können?

Sensible Aufarbeitung ist keine Stigmatisierung. Ohnehin gibt es nicht die Ostdeutschen, sie waren sehr verschieden. Die Mehrzahl der Menschen in der DDR hat versucht, aufrecht durchs Leben zu gehen. Deshalb kann man nicht von einer Stigmatisierung aller Ostdeutschen sprechen.

Aber die Akten betreffen nun mal vor allem Ostdeutsche. Die Stasi-Unterlagen stellen ja nur die Sichtweise der Staatssicherheit dar. Akten sind nur ein Aspekt, Zeitzeugen und ihre ganz individuellen Erlebnisse sind der andere. Es ist wichtig, beides zusammenzubringen.

Wurde die Sicht der Opfer bisher vernachlässigt?

Jahn: Es ist nie gut, etwas einseitig zu betrachten. Der Begriff Opfer wird ja bereits schubladenartig angewandt. Opfern sollte aber die Möglichkeit gegeben werden, sich aus dieser Rolle zu befreien. Sie sollten befähigt werden, auf eigenen Füßen durchs Leben zu gehen. Dazu muss die Gesellschaft symbolische Zeichen setzen und etwa diejenigen, die damals unter schwierigen Bedingungen für Menschenrechte eingetreten sind, würdigen. Täter wiederum sollte man benennen und sie auffordern, offen mit ihrer Biografie umzugehen. Man sollte aber auch fragen, unter welchen Umständen sie zu Täter wurden, warum sie es wurden und wohin das geführt hat. Wenn man nur Vorwürfe macht, ziehen sie sich in Rechtfertigungen zurück.

In Ihrer Antrittsrede haben Sie gefordert, dass die Karten auf den Tisch müssten. Wäre eine strafrechtliche Verfolgung der Verharmlosung von Stasi-Verbrechen möglich und sinnvoll?

Jahn: Die Frage des Strafrechts steht heute nicht mehr zur Debatte. Alle Taten, außer Mord, sind verjährt. Heute geht es um die politische und moralische Aufarbeitung. Das darf aber nicht heißen, dass Täter einfach zur Tagesordnung übergehen. Sie sollten sich ihrer Verantwortung stellen und ihr Unrecht eingestehen. Das würde den Menschen helfen, die immer noch unter den Folgen der Diktatur leiden. Erst dann besteht eine Chance zur Vergebung. Verordnen kann man Versöhnung nicht.

In einer Rede haben Sie gesagt, dass Sie die "Bitte um Entschuldigung" vieler Täter vermissen. Besteht nicht die Gefahr, dass diese sich längst Rechtfertigungen und Erklärungen zurechtgelegt haben und bei Opfern gleichzeitig alte Wunden aufbrechen?

Jahn: Diese Gefahr ist immer da. Es geht darum, ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem Täter aus ihrer Haltung der Rechtfertigung herauskommen. Dazu gehört auch glaubhafte Reue. Dazu gehört die Erkenntnis, dass sie mit ihren Handlungen gegen Menschenrechte verstoßen haben. Dazu gehört, dass sie auf die Opfer zugehen und um Entschuldigung bitten. Wie viele inoffizielle Mitarbeiter sind auf die Menschen zugegangen, die sie verraten haben? Wie viele hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter sind auf die Menschen zugegangen, für deren Schicksal sie verantwortlich sind? Es sind ganz wenige. Wir alle sind herausgefordert, für eine offene Debatte darüber zu sorgen.

Treffen Sie immer noch Menschen, die an physischen oder psychischen Spätfolgen von Drangsalierungen leiden? Wie kann ihnen geholfen werden?

Jahn: Es gibt gesellschaftliche Initiativen und Vereine, die ganz konkret und mit staatlicher Förderung Opfer betreuen. In Bürgersprechstunden treffe ich immer wieder Menschen, die noch heute mit Langzeitschäden zu kämpfen haben. Das geht teilweise bis in die nächste Generation.

Diese nächste Generation interessiert sich auch vermehrt für die Aufarbeitung.

Wird die Familie zur ersten Instanz der Aufarbeitung?

Jahn: Ich denke, die Familie ist schon immer wichtig gewesen. Heute wird das nur deutlicher, weil die Jugendlichen, die nach dem Ende der DDR geboren wurden, ihren Eltern und Großeltern mehr Fragen stellen: "Wie war das damals in der DDR? Wie habt ihr euch verhalten? Seid ihr verfolgt worden, habt ihr euch angepasst oder habt ihr auch mitgemacht?" Diese Diskussionen sind wichtig. Das gilt zum Beispiel auch für Menschen, die die DDR verlassen haben und deren Angehörige sich daraufhin von ihnen distanzierten. Auch da gibt es bis heute Spannungen. Man muss sich darüber auszusprechen, warum man sich wie verhalten hat. Die Anpassung an eine Diktatur ist ein Thema, das noch intensiver aufgearbeitet werden muss.

Viele herausragende Funktionäre aus der DDR denken noch immer in den Kategorien des Kalten Krieges. Kann man von ihnen ein Umdenken erwarten?

Jahn: Es ist natürlich erschreckend, wie sich hohe Funktionäre immer wieder rechtfertigen. Aber auch hier gibt es Ausnahmen wie Günter Schabowski, der sich gegenüber den Angehörigen der Mauertoten zu seiner Schuld bekannt hat. Ich glaube, dass viele dieser Funktionäre gerade dadurch, dass sie heute ein schönes Leben in Demokratie und Rechtsstaat leben, die Vorteile der Demokratie praktisch eingestehen. Hier können sie demokratische Grundrechte wahrnehmen und reisen wohin sie wollen. Man darf nicht vergessen, dass wir 1989 und 1990 auch unsere Peiniger befreit haben. Ihnen stehen diese Rechte zu. Allerdings würde ich mir wünschen, dass sie auch öffentlich eingestehen, dass eine Demokratie besser ist als eine Diktatur.

Gegen heftige Kritik haben sie durchgesetzt, dass ehemalige Stasi-Mitarbeiter in ihrer Behörde versetzt werden. Wie weit ist dieser Prozess fortgeschritten?

Jahn: Das ist im Gange, wir führen mit den betroffenen Mitarbeitern konkrete Gespräche. Wir haben Angebote aus verschiedenen Ministerien und brauchen aber weitere, schließlich sollen die Mitarbeiter auf gleichwertige Stellen wechseln können.

Welche sind die wichtigsten Aufgaben in Ihrer Amtszeit?

Jahn: Es gilt, Aufarbeitung und Aufklärung zu gewährleisten. Konflikte von damals müssen so bereinigt werden, dass wir in dieser Gesellschaft friedfertig miteinander leben können. Dazu ist der offene Zugang zu den Akten nötig, für Betroffene und Angehörige, aber auch für Wissenschaftler und Journalisten. Auch über die Mechanismen der Staatssicherheit müssen wir weiter informieren. Dafür werden authentische Orte immer wichtiger, weil nachfolgende Generationen hier sinnlich erfahren, wie die Staatssicherheit in das Leben der Menschen eingegriffen hat. Mein Motto lautet: Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten.

Mit Roland Jahn sprach Markus Lippold