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Es war auch eine Befreiung derer, die das System getragen haben

Die SED schob ihn ab, im Westen unterstützte er die DDR-Opposition. Jetzt ist Roland Jahn Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Ein Gespräch über die Wahrheit in Akten, den Umgang mit Biografien und Versöhnung.

Herr Jahn, wenn Sie auf das Jahr 1989 zurückblicken - wann haben Sie das erste Mal gedacht: Das ist das Ende der DDR?

Jahn: Mir schien es schon 1987 so, dass es bald möglich sein würde, sich wieder mit Freunden auf dem Alexanderplatz in Berlin zu treffen.

Was haben Sie gefühlt in dem Augenblick, als es dann tatsächlich soweit war?

Jahn: 1989 habe ich für das Fernsehmagazin »Kontraste« beim damaligen SFB gearbeitet. Freunde von mir haben in der DDR mit Videokameras die Demonstrationen gefilmt, vor allem die in Leipzig am 9. Oktober. Die Aufnahmen wurden über die Grenze geschmuggelt und als ich dann diese Bilder für die Sendung bearbeitet habe, da flossen die Tränen. Das war der Moment, an dem ich wusste: Das ist das Ende der DDR.

Deshalb flossen bei Ihnen die Tränen?

Jahn: (lacht) Nein. Mir sind Tränen geflossen, weil ich beeindruckt war, dass Menschen ihre Angst verloren und sich ein Stück Freiheit genommen haben.

Hatten Sie Sorge, dass diese Revolution, von der wir jetzt als friedliche reden, nicht friedlich bleibt?

Jahn: Natürlich, schließlich hatten wir das Beispiel China vor Augen, wo auf dem Platz des Himmlischen Friedens mit Panzern Menschen niedergewalzt wurden. Die damalige DDR-Staatsführung hatte sich zu dem Vorgehen in Peking bekannt - und das hat uns nicht nur erschrocken, sondern Angst gemacht, es könnte auch in der DDR so etwas geschehen. Gerade im Oktober 1989 waren diese Sorgen bei mir sehr groß.

Es blieb in der DDR dann vergleichsweise friedlich. Sind Sie der SED dafür dankbar?

Jahn: Man muss allen Menschen dankbar sein, die verantwortungsvoll gehandelt haben. Als erstes den Demonstranten, ihre Losung "Keine Gewalt" war prägend für die Zeit. Aber man muss auch denen dankbar sein, die Waffen in der Hand hatten und sie nicht benutzt haben.

Sie wurden in der DDR eingesperrt. Sie sind unter erschreckenden Bedingungen in die Bundesrepublik abgeschoben worden. Denken Sie trotzdem manchmal: Da war auch Gutes?

Jahn: Na klar, die Menschen, mit denen wir dort gelebt haben. Ich hatte viele Freunde in der DDR, mit denen wir es uns schön gemacht haben. Ich hatte viel Spaß, gerade in Jena - wir zogen mit Hunderten von Jugendlichen über die Berge; wir lebten ein schönes Leben. Selbst in extremen Situationen im Gefängnis in Cottbus habe ich dieses Gefühl nicht verloren: Dort gab es viele gute Menschen, mit Werten, Häftlinge, die die Menschenrechte hochhielten, die sich einsetzten für andere, das war gut zu erfahren.

Wer sich eine positive Sicht auf die DDR erhält - damit aber auch die SED, die politischen Verhältnisse, den Realsozialismus meint - dem wird vorgehalten, die Vergangenheit zu verklären.

Jahn: Ich verstehe Menschen, die die DDR nicht nur auf Repressionen und Staatssicherheit reduzieren wollen, sondern die sagen: Wir haben einen Alltag gehabt, der sah anders aus. Aber man darf auch nicht vergessen, dass es eine Geheimpolizei gab, die nicht nur Informationen sammelte, sondern auch Leute ins Gefängnis sperrte, nur weil sie ihre Menschenrechte wahrgenommen haben, die zum Beispiel friedlich Kritik übten. Meine eigene Mutter hat immer gesagt: Mensch, irgendwas wird schon gewesen sein, wenn Leute ins Gefängnis kommen. Und erst, als ihr eigener Sohn eingesperrt wurde, hat sie begriffen, was eigentlich abläuft. Der Blick auf die DDR in der Geschichtsbetrachtung sollte vielfältig sein. Jeder hat seine eigenen Erfahrungen gehabt und jeder hat das Recht, auch diese Erfahrungen zu schildern und seine Sicht auf die Dinge zu erzählen.

Das offizielle, verbreitete Bild von der DDR ist aber doch genau darauf oft reduziert: alles Stasi.

Jahn: Ich bin gegen offizielle Bilder. Es gibt keine staatliche Geschichtspolitik, Mir geht es darum, Geschichte aufzuarbeiten, indem sich jeder ein eigenes Bild machen kann. Und das kann viele Facetten haben. Weil es sehr verschiedene Blickwinkel gibt.

Hat sich Ihr eigener Blick auf die DDR in den letzten 25 Jahren verändert?

Jahn: Natürlich. Es wäre ja schlimm, wenn es nicht so wäre. Ich habe neue Erkenntnisse, neue Erfahrungen. Die haben meinen Blick beeinflusst.

Sind Sie eher milder geworden was die DDR angeht - oder wütender?

Jahn: Mein Motto war schon immer: "Lass dich nicht verbittern, in dieser bitteren Zeit". Ich habe dieses Lied dann auch in der Zelle in Cottbus gesungen. Das hat mir die Kraft gegeben, das Lachen nicht zu verlernen. Und das habe ich mir bis heute bewahrt. Ich bin differenzierter geworden. Und ich finde auch, wir sollten alle mehr differenzieren, wir sollten genauer hinschauen. Zum Beispiel, warum jemand inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit geworden ist. Da darf man es sich nicht zu einfach machen. Mein Anspruch war schon immer, schon als Journalist, Menschen zuzuhören, zu versuchen, sie zu verstehen. Was nicht heißt, unbedingt ihr Verhalten zu akzeptieren. Mir geht es nicht um Abrechnung, sondern um Aufklärung.

Auch um Versöhnung?

Jahn: Ich würde mir wünschen, dass wir als Gesellschaft einen Weg finden, um mit den Konflikten der Vergangenheit umzugehen. Man kann Versöhnung nicht verordnen, aber sie ist eine Chance. Wichtig ist: Unrecht muss als Unrecht benannt werden. Den Opfern gebührt Respekt. Erst dann können diese auch ihren Peinigern vergeben.

Die haben oft ein anderes Bild von sich.

Jahn: Ich weiß, es gibt immer Streit darum, dass diejenigen, die damals in Verantwortung waren, sagen: Wir haben doch nur nach den Gesetzen gehandelt. Wir haben doch eigentlich in bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Aber ist es denn so schwer, zu sagen: Ja, hier ist ein Menschenrecht verletzt worden und ich habe dafür Mitverantwortung? Wenn Menschen deswegen im Gefängnis gesessen haben, weil sie für Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Versammlungsfreiheit eintraten, dann würde ich mir wünschen, dass auch einer, der vielleicht im guten Glauben Gesetze angewandt hat, zu der Erkenntnis kommt, dass das, was er jetzt selber an Grundrechten wahrnimmt in der DDR damals durch ihn verletzt worden ist. Die Friedliche Revolution war nicht nur eine Befreiung der Menschen, die darunter gelitten haben, es war auch eine Befreiung derer, die dieses System getragen haben.

Ihr Anspruch, Versöhnung zu ermöglichen, wird nicht von allen geteilt, die Bürgerrechtler waren.

Jahn: Ja, es gibt unterschiedliche Erfahrungen mit Unrecht und somit darüber unterschiedliche Auffassungen. Das ist auch gut so. Ich sehe das als einen Gewinn. Widerspruch ist eine Triebkraft und die Diskussionen können uns immer nur beflügeln, einen Weg zu finden, um Gesellschaft so gut wie möglich zu gestalten.

Sie haben in Ihrer Antrittsrede als Bundesbeauftragter 2011 schon diesen Anspruch formuliert, eine differenzierte Sicht auf die Biografien zu ermöglichen. Die Behörde, die Sie leiten, hat aber doch gerade nicht zu einer differenzierten Sicht auf Biografien beigetragen.

Jahn: Das würde ich so vereinfacht nicht akzeptieren. Richtig ist, dass es insgesamt bei der Aufarbeitung der DDR-Geschichte eine Fixierung auf die Staatssicherheit gab. Da hat man es sich oft zu einfach gemacht, es sind Menschen in die Ecke gestellt worden. Eine differenzierte Sicht auf Biografien verlangt eine gesellschaftliche Debatte, wir müssen die Zeitzeugen hören - auch die bei der Stasi waren. Das ist noch ein mühsamer Weg. Ich sehe da viel zu wenig Offenheit, gerade bei denen, die damals in der Staatssicherheit in Verantwortung waren. Aber dafür kann man diese Behörde nicht verantwortlich machen.

Mal umgekehrt gedacht: Wer sich öffentlich dazu bekennt, für das MfS tätig gewesen zu sein, der wird kaum auf differenzierte Reaktionen stoßen.

Jahn: Eine differenzierte Bewertung von Biografien kann nur funktionieren, wenn wir dafür sorgen, dass die Menschen nicht verdammt werden, sondern dass respektiert und anerkannt wird, wenn sie offen sprechen. Ich habe selbst Beispiele erlebt, etwa auf einer Veranstaltung, bei der viele Menschen waren, die in der DDR im Gefängnis saßen und Repressionen ertragen mussten. Und dann sprach ein früherer Stasi-Offizier kritisch darüber, wie er sein Verhalten von damals sieht und setzte sich vor diesem Publikum mit seiner Vergangenheit auseinander. Er bekam Applaus.

Ihrer Behörde ist immer wieder der Vorwurf gemacht worden, über mediale Bande zu spielen - etwa, wenn kurz vor Wahlen Enthüllungen über Kontakte von Politikern zur Staatssicherheit bekannt wurden. Hat die Behörde da die Grenze zum Politikmachen überschritten.

Jahn: Das Stasi-Unterlagenarchiv stellt Akten zur Verfügung. Wann Journalisten die Anträge auf Herausgabe stellen, liegt ebenso wenig in unserem Ermessen wie der Zeitpunkt der Veröffentlichung in den Medien. Jeder hat einen Rechtsanspruch, diese Akten zu bekommen. Politik würden wir machen, wenn wir dem nicht entsprechen würden oder einen eigenen Zeitpunkt für die Herausgabe festlegen würden.

Ist das nicht ein Widerspruch: Das MfS gilt als Hort des Unrechts, zugleich werden die von diesem Ministerium produzierten Akten sozusagen als Wahrheit genommen.

Jahn: Man kann das, was in den Akten steht, natürlich nicht eins zu eins nehmen. Jedes historische Dokument muss hinterfragt, interpretiert, eingeordnet werden. Die Akten des MfS sind historische Dokumente. Was darin steht, ist die Sicht der Staatssicherheit, es sind sozusagen die Arbeitsinstrumente dieses Ministeriums. Deshalb haben sie eine Bedeutung und hohe Glaubwürdigkeit.

Die Überprüfung auf eine Mitarbeit bei der Staatssicherheit für Beschäftigte im Öffentlichen Dienst ist vor einiger Zeit bis 2019 verlängert, der Personenkreis sogar erweitert worden. Ist das richtig gewesen?

Jahn: Das war eine Entscheidung des Bundestags. Ich finde, Aufklärung und Transparenz ist gut für die Demokratie. Die Frage ist dann natürlich, wie man mit den Erkenntnissen umgeht, die diese Überprüfungen im Einzelfall erbringen.

Gibt es für frühere Mitarbeiter des MfS keine Verjährung?

Jahn: Mit diesem Vergleich begeben Sie sich aufs Glatteis, es geht hier nämlich nicht um Strafrecht, sondern um Transparenz und Ehrlichkeit. Natürlich kann man jemandem, der vor über 25 Jahren für die Stasi gearbeitet hat, dies nicht ewig zum Vorwurf machen. Es muss die Chance auf Neuanfang geben. Bei den Überprüfungen geht es aber auch weniger um die MfS-Mitarbeit, sondern um die Frage, ob jemand den Öffentlichen Dienst belogen hat, indem er diese Tätigkeit bisher verschwieg.

Die Betreffenden hatten wahrscheinlich Angst vor persönlichen, beruflichen Konsequenzen.

Jahn: Das hatten die, die in der DDR überwacht und ausspioniert wurden, übrigens auch und sie waren dennoch aufrecht. Ihnen drohten oft viel schlimmere Konsequenzen. Und es gab auch frühere MfS-Mitarbeiter, die nach 1989 reinen Tisch gemacht haben. Sie haben mit ihrer Offenheit Akzeptanz und auch Respekt erfahren.

In den vergangenen Jahren hat die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema Staatssicherheit nachgelassen. Die Zahl der Einsichtnahmen in Akten ist rückläufig. Sind Sie enttäuscht?

Jahn: Wir sind Dienstleister für die Gesellschaft. Den Bedarf an Aufarbeitung bestimme nicht ich. Aber ich setze mich dafür ein, dass es solange die Möglichkeit der Akteneinsicht - auch der Beratung und Hilfe - gibt, solange auch nur ein Einzelner diesen Wunsch hat. Es gibt viele Menschen, die brauchen schon Jahrzehnte, um wieder auf die Füße zu kommen, um zu verarbeiten, was ihnen angetan wurde - und wenn die erst in ein paar Jahren Einsicht in ihre Stasiakte nehmen wollen, sollten wir ihnen dies möglich machen. Und natürlich brauchen wir Forschung und Bildung. Aufklärung zu betreiben, hört nicht auf. Wie funktioniert Diktatur? Wie kann man sich vor Ungerechtigkeiten schützen, die vielleicht auch in der Demokratie passieren? Mein Leitgedanke heißt: Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten.

Derzeit wird - wieder einmal - über die Zukunft ihrer Behörde diskutiert.

Jahn: Debatten sind immer gut, sie können uns den bestmöglichen Weg zeigen. Es ist gut, dass der Bundestag sich jetzt durch eine Expertenkommission beraten lässt. Das entlässt uns aber nicht aus der Aufgabe, auch in der Gesellschaft eine breite Diskussion über die Zukunft und die Strukturen der Aufarbeitung der DDR zu führen.

Die Kommission sollte eigentlich schon von der Vorgängerkoalition eingesetzt werden, Schwarz-Gelb hat das dann aber unterlassen. Warum?

Jahn: Das Parlament muss selbst entscheiden, wann es Beratungsbedarf hat. Die Debatten sind auch unabhängig davon im Gange. Das ist das Wesen der Demokratie.

In der CDU wurde gefordert, die Linkspartei von der Beteiligung an der Kommission auszuschließen. Finden Sie das richtig?

Jahn: Entscheidend ist doch, dass man dort gute Leute hineinsetzt, die wissen, wovon sie reden und die kompetent Vorschläge erarbeiten.

Was jemand aus der Linkspartei ja durchaus auch könnte.

Jahn: Ich fände es gut, wenn die Debatte über die Kommission und die Zukunft der Behörde einen ausreichenden Abstand von parteipolitischen Auseinandersetzungen hat. Wir sind alle in einer Verantwortung, einen Rahmen zu schaffen, damit Aufklärung weitergehen kann.

Was hätten Sie eigentlich anders gemacht, wenn Sie die Behörde nicht erst 2012, sondern schon 1992 übernommen hätten?

Jahn: Ich habe eine hohe Achtung vor dem, was Joachim Gauck und Marianne Birthler und natürlich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörde seit 1992 geleistet haben.

Es gab zur Wendezeit unterschiedliche Auffassungen, wie man mit den Akten umgehen soll. Es waren die Bürgerrechtler der DDR, die gesagt haben: Wir müssen gleich mit der Offenlegung anfangen. War das richtig?

Jahn: Es ist ein Verdienst der Friedlichen Revolution, dass diese Akten nicht nur bewahrt, sondern auch genutzt werden. Damit wurde weltweit erstmalig ein Symbol gesetzt: Die Akten einer Geheimpolizei werden den Menschen, über die sie angelegt worden sind, zugänglich gemacht. Es ist ein ganz wichtiges Symbol, Transparenz über staatliches Handeln und gleichzeitig Datenschutz herzustellen.

Das ist ein sehr aktuelles Thema. Der Autor Roman Maria Koidl hat vor nicht langer Zeit gesagt, die Überwachungsmöglichkeiten des ehemaligen MfS der DDR sind gegenüber den heutigen Möglichkeiten privater Internetkonzerne und staatlicher Geheimdienste ungefähr vergleichbar mit einem Wettrennen zwischen kasachischen Mulis und amerikanischen Atomraketen. Finden Sie solche Vergleiche richtig?

Jahn: Abhören ist abhören. Eine Methode von Geheimdiensten, die auf der ganzen Welt angewandt wird. Aber entscheidend ist, unter welchen Bedingungen das geschieht, welche Regeln gelten, welche Möglichkeiten die Menschen haben, sich zur Wehr zu setzen, wenn sie ihre Grundrechte verletzt sehen. Das macht den Unterschied aus zwischen dem Abhören in der DDR und dem, was wir über Geheimdienste heute wissen.

Nämlich?

Jahn: In der Demokratie wird geprüft, wie viel Freiheit eingeschränkt werden darf, um Freiheit zu schützen. Das ist natürlich auch eine tägliche Herausforderung für die Politik.

Die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist ziemlich groß. Man denke nur daran, was wir über die NSA inzwischen wissen.

Jahn: Deshalb ist die Gesellschaft immer wieder herausgefordert, der Politik aufzuzeigen, wo der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist.

Liegt der Widerspruch nicht sozusagen im System »Geheimdienst« selbst? Mit Demokratie sind diese Behörden unvereinbar.

Jahn: Das sehe ich anders, ich weiß aber auch um die Gefahren, die Sie meinen. Deshalb müssen wir jetzt darüber diskutieren, wie die Regeln für Geheimdienste verbessert werden können. Und wenn diese sich nicht an die Regeln der Demokratie halten, wenn sie nicht entsprechend kontrolliert werden durch demokratische Instrumente, dann kann man nicht mehr auf sie setzen, um Freiheit und Menschenrechte zu schützen.

Werden wir bald eine NSA-Unterlagenbehörde haben?

Jahn: Es werden sicher auch Zeitpunkte kommen, an denen noch mehr Akten der aktuellen Geheimdienste für die Öffentlichkeit zugänglich werden. Der Bundesnachrichtendienst zum Beispiel lässt jetzt seine Geschichte von einer Historikerkommission aufarbeiten. Entscheidend ist, dass Transparenz von staatlichem Handeln hergestellt wird. Der Staat und seine Institutionen sind für die Bürger - und nicht gegen sie.

Das war auch eine Forderung der Bürgerrechtler in der DDR und von Linken damals im Westen. Der Grüne Hans-Christian Ströbele zum Beispiel forderte seinerzeit als "erste Konsequenz" aus den Umwälzungen in der DDR "Abrüstung und Nulllösung beim Verfassungsschutz" - noch heute höchst aktuell angesichts der Debatte um die Pannen bei der Verfolgung der Mörderbande NSU. Was ist geworden aus diesem linken Erbe der Wende?

Jahn: Ich mag diese Schubladen nicht: links und rechts. Mein Anspruch an Politik und Gesellschaft macht sich an Werten fest: Gleichheit, Menschenrechte, Freiheit. Die Freiheitsrechte sind die Grundlage dafür, dass wir uns soziale Rechte schaffen. Über den Rest, über die Frage, wie eine Gesellschaft die diesen Werten entspricht, organisiert sein soll, können und sollten wir uns streiten. Das ist Demokratie.

Wir führen das Gespräch in einer Zeit, in dem der amtierende Bundespräsident seine Wurzeln auch in der Bürgerrechtsbewegung der DDR sieht, in der die Kanzlerin aus einem kirchlich geprägten Ost-Elternhaus kommt. Sie sind Bundesbeauftragter. Warum merkt man dieser Gesellschaft den Osten trotzdem so wenig an?

Jahn: Das sehe ich nicht so. Man müsste dazu auf eine Weise verallgemeinern, die ich noch nie leiden konnte. Es gibt natürlich Lebenserfahrungen in Ost und West. Aber es gibt so viel Unterschiede ja auch unter den Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind und ebenso in der Bundesrepublik. Meine persönliche Erfahrung ist zudem, Ostler und Westler zugleich gewesen zu sein. Die Vereinigung 1990 war deshalb auch für mich ein Glücksfall, um die Zerrissenheit in mir aufzulösen. Was mich allerdings wirklich ärgert (lacht), wenn wir über den Platz der Ostdeutschen in der Gesellschaft reden: dass mein Heimatverein Jena nicht in der Bundesliga spielt, sondern in der 4. Liga. Und wissen Sie, was Joachim Gauck beim DFB-Pokalfinale in der Halbzeit erzählt hat? Ihn interessiert eigentlich die 3. Liga - weil er aus Rostock ist.

Das Gespräch führten Gabriele Oertel und Tom Strohschneider