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"Ich bin kein Menschenjäger"

Im Gespräch mit der BILD-Zeitung widerspricht Roland Jahn Vorwürfen aus Brandenburg, er sei ein 'billiger Abrechner'. Und er nimmt Bezug auf die Gegenwart - zum Beispiel Menschenrechtsverletzungen in China: "Man muss die Dinge beim Namen nennen. Man muss nicht immer erst warten, bis Menschen auf der Straße erschossen werden, um eine Diktatur auch als solche zu bezeichnen. Dafür machen wir schließlich unsere Arbeit, dass wir begreifen, wie Diktatur funktioniert.“

BILD: Herr Jahn, 20 Jahre nach der Wiedervereinigung wirkt das Gift der Stasi noch immer. Es gibt heftigen Streit darüber, ob wir die Stasi-Vergangenheit wirklich schon ausreichend aufgearbeitet haben. Wie groß ist die Aufgabe, vor der Sie als neuer Bundesbeauftragter für die Stasi-Akten stehen?

Roland Jahn: „Das Gift wirkt nicht, wenn wir Aufklärung dagegen setzen. Das hat mich fast 30 Jahre lang schon als Journalisten umgetrieben. Aufklären will ich weiter – jetzt in einer neuen Funktion. Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen zu sein ist eine besondere Herausforderung. Und die macht mir jeden Tag mehr Spaß.“

In Brandenburg hat erstmals ein deutscher Ministerpräsident die Forderung nach schärferer Aufarbeitung der Stasi-Geschichte zurückgewiesen. Aufarbeitung dürfe nicht in „billige Abrechnung“ abgleiten, hat Matthias Platzeck gesagt. Sind Sie ein „billiger Abrechner“?

Roland Jahn: „Ich bin kein ‚billiger Abrechner‘! Rachegefühle, Zorn sind mir fremd. Obwohl ich ja selbst ein politischer Gefangener war in der DDR. Nein, mir geht es um etwas anderes: Ich will wissen, wie es war. Wie und warum haben sich Menschen so verhalten? Wie stehen sie heute zu ihrer Verantwortung? Es ist fragwürdig, wenn ein Stasi-Vernehmer, der politische Häftlinge drangsalierte, heute einfach so Leiter einer Polizeiwache in Brandenburg ist. Das zeigt doch, wie nötig gründliche Aufarbeitung ist.“

Sie selbst gehen konsequent gegen ehemalige Stasi-Mitarbeiter vor und wollen 47 frühere Stasi-Angehörige aus Ihrer Behörde entfernen. In der SPD spricht man von „Menschenjagd“ …

Roland Jahn: „Ich bin kein Menschenjäger! Aber ich nehme die Empfindungen der Stasi-Opfer ernst, dass ehemalige Stasi-Angehörige in einer so sensiblen Behörde, die dazu beiträgt, Stasi-Unrecht aufzuarbeiten, nichts verloren haben. Hier ist der Ort, wo Opfer ihre Akten einsehen, wo viele von ihnen mit einer oft noch immer traumatisierenden Vergangenheit konfrontiert werden. Ausgerechnet hier sollten die Opfer nicht unbedingt frühere Mitarbeiter des Unterdrückungsapparates vorfinden. Im Übrigen: Niemand wird gefeuert, sondern für alle 47 Mitarbeiter sollen sozial verträgliche Lösungen gefunden werden, zum Beispiel durch Versetzungen in andere Behörden.“

Sie selbst wurden jahrelang von der Stasi drangsaliert, bis zu Ihrer Ausbürgerung 1983. Als erster DDR-Bürger wurden Sie in Knebelketten aus der Heimat geworfen. Wie schaffen Sie es, menschlich völlig normale und verständliche Gefühle wie den Wunsch nach Vergeltung zu verdrängen?

Roland Jahn: „Noch einmal: Rache ist nicht mein Anliegen, nicht mal in einer stillen Stunde. Das verträgt sich nicht mit meinem Demokratieverständnis. Mir geht es um Aufklärung und darum, dass sich die Täter zu ihrem Handeln, zu ihrer Verantwortung bekennen. Mir geht es um Versöhnung, doch die setzt voraus, dass sich die Täter ehrlich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen und glaubhaft bereuen. So können die Wunden der Opfer geheilt werden und Versöhnung hat eine Chance.“

Können Sie einem Schergen von damals heute die Hand geben?

Roland Jahn: „Aber ja doch. Ich habe kein Problem damit, einem früheren Stasi-Mitarbeiter als Mensch respektvoll gegenüberzutreten. Das gilt sogar für meine früheren Vernehmer. Das ist das Schöne an der Demokratie: Ich weiß, die können mir nichts mehr tun, die können mich nicht mehr einsperren, weil ich anderer Meinung bin.“

Was war für Sie persönlich das einschneidendste Erlebnis mit der Staatssicherheit?

Roland Jahn: „Ganz sicher der Tod meines Freundes Matthias Domaschk, der 1981 im Alter von 23 Jahren in Gera in einer Stasi-Zelle starb. Bis heute ist nicht klar, ob er sich wirklich selber erhängt hat, wie die Stasi hinterher behauptete. Für mich persönlich war der Tod von Matthias eine Zäsur: Mir wurde klar, dass die Forderung nach Freiheit und demokratischen Lebensverhältnissen in der DDR tödliche Folgen haben konnte, dass Opposition in der DDR auch eine Frage von Leben und Tod sein konnte!“

Wie lange muss es Ihre Behörde noch geben?

Roland Jahn: „Für die Aufarbeitung der Diktatur gibt es kein Verfallsdatum. Es wird noch Jahre dauern, bis die vielen von der Stasi geschredderten Akten zusammengesetzt sind, auch wenn wir bald mit hochmoderner Technologie schneller vorankommen. Ob wir auch in 10 Jahren noch eine eigene Bundesbehörde brauchen – darüber muss zur gegebenen Zeit die Politik entscheiden.“

Ihr ganzes Leben stand im Zeichen des Kampfes für Freiheit, gegen Unterdrückung. Welche Gefühle haben Sie, wenn Sie sehen, wie Staatsgäste in Berlin empfangen werden aus Ländern, in denen die Meinungsfreiheit noch immer brutal unterdrückt wird. Wie zum Beispiel dieser Tage der chinesische Regierungschef Wen Jiabao?

Roland Jahn: „Ich habe nichts dagegen, miteinander zu reden. Aber man muss die Dinge beim Namen nennen. Man muss nicht immer erst warten, bis Menschen auf der Straße erschossen werden, um eine Diktatur auch als solche zu bezeichnen. Dafür machen wir schließlich unsere Arbeit, dass wir begreifen, wie Diktatur funktioniert.“

Die Fragen stellten Einar Koch und Jörg Quoos