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"Jenaer Gespräch: Roland Jahn zum 40. Todestag von Matthias Domaschk"

Thüringische Landeszeitung: Herr Jahn, wie erinnern Sie sich an Matthias Domaschk?

Roland Jahn: Matthias Domaschk war ein lebenslustiger Mensch, ein Träumer, der immer auf der Suche nach Gerechtigkeit war. Er war freundlich und hilfsbereit, hat mit angepackt, wenn man seine Hilfe brauchte, beispielsweise als meine hochschwangere damalige Freundin Petra Falkenberg 1979 in eine neue Wohnung zog, da renovierte er mit mir. Wir sangen zusammen "Wir sind geboren, um frei zu sein", ein Lied der West-Berliner Band Ton Steine Scherben. Wir haben versucht, ein Leben mit Spaß und Freude zu führen, ein schönes Leben nicht wegen des Staates, sondern trotz des Staates. Wir haben uns ein Stück Freiheit genommen.

TLZ: Für das Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung, mussten Sie letztlich aber einen hohen Preis zahlen.

Jahn: Wir wurden zu Staatsfeinden gemacht. Was mich bis heute daran beschäftigt ist, wie die Dinge ineinandergreifen, wie viele Menschen an einem System beteiligt sind. Das beginnt beim Spitzelbericht, den  ein IM „Steiner“ über Matthias abgab, geht über den Führungsoffizier Oberleutnant Roland Mähler von der damaligen Stasi-Kreisdienststelle in Jena, der den Bericht weiterreichte, über die Transportpolizisten, die Matthias im Zug nach Berlin festgenommen haben, und endet bei Major Würbach, der zuständig war für die Überwachung der Opposition in Jena und für Matthias Verhör in Gera sowie bei Stasi- Hauptmann Horst Köhler, der am Verhör beteiligt war. Hätte nur ein Glied in der Kette nicht mitgemacht, könnte Matthias heute vielleicht noch leben. Bis heute bekennt sich keiner dieser Menschen zu seiner Verantwortung.

TLZ: Die Details werden also vermutlich immer unklar bleiben?

Jahn: Die Aufklärung der Details kommt für mich erst an zweiter Stelle. Klar ist, dass Matthias in dieser Haftanstalt ums Leben kam. Dafür tragen alle Beteiligten eine individuelle Verantwortung. Jeder von ihnen hat dazu beigetragen, dass die Diktatur funktioniert und Matthias Domaschk kostete das am Ende das Leben.

TLZ: Was bedeutet für Sie der Begriff der Rache?

Jahn: Ich möchte keine Rache. Ich möchte Aufklärung und verstehen, weshalb Menschen so gehandelt haben, wie sie es getan haben. Ich wünsche mir, dass die Menschen sich zu ihren Taten bekennen.

TLZ: Sie selbst wurden 1983 gewaltsam aus der DDR ausgebürgert. Was fühlten Sie damals?

Jahn: Das ist ein Gefühl, das bis heute nachwirkt. Man hat mir die Selbstbestimmung genommen. Viele wollten die DDR verlassen und haben dabei sogar ihr Leben verloren. Ich wollte bleiben. Es war absurd, aber genau darum ging es: den Menschen wurde die Selbstbestimmung genommen. Im Westen  zu sein hätte sich frei anfühlen können, aber solange die Mauer stand, war es eben nur die halbe Freiheit. Sie brachten mich vor die Mauer und doch war ich wieder hinter ihr, getrennt von der Heimat. Ich bin gereist damals. Ich stand in Athen auf der Akropolis und dachte dort an Jena und seine Berge. Noch mehr litten die Zurückgelassenen. Meine Mutter, die sagte, man habe ihr den Sohn genommen und mein Vater, den man aus dem Fußballclub Carl Zeiss ausschloss.

TLZ:Wie betrachten Sie die Menschen, die angepasst in der DDR lebten?

Jahn: Es gibt keinen moralischen Maßstab für das Verhalten in einer Diktatur. Wieso sollte man Menschen verdammen, die sich anpassten?  Jeder hatte seine persönlichen Gründe. Mein Vater hat für seine Arbeit bei Zeiss Staatsorden erhalten. Die Menschen dürfen stolz sein auf das, was sie persönlich geschaffen haben, auf ihre Arbeit. Dafür sollte man ihnen Respekt zollen. Und trotzdem kann sich jeder fragen, wo und wie er hätte anders handeln können.

TLZ: Was sagen Sie den Menschen, die heute auf die Straße gehen und schreien, sie würden in einer Diktatur leben, weil man sie beispielsweise zwinge, eine Maske zu tragen?

Jahn: Ich kann nur sagen, der Blick in die Vergangenheit kann die Sinne schärfen. Die Beschäftigung mit der Diktatur in der DDR macht dies deutlich.  –.  Damals wurde Matthias Domaschk ins Gefängnis gebracht und verlor sein Leben, weil er zum Staatsfeind erklärt wurde. Heute versuchen wir alle, im demokratischen Diskurs den besten Weg für den Umgang mit der Pandemie zu finden, inklusive erlaubter Demos gegen das Maske tragen.  Wer die zugegeben schwierige Zeit heute gleichsetzt mit einer Diktatur, verharmlost das geschehene Unrecht in der DDR.