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Roland Jahn: "Man kann nicht sagen, dieser Teil der Geschichte interessiert nicht"

Roland Jahn im Interview mit der Rhein-Neckar-Zeitung, erschienen am 30. April 2015

Heidelberg. Seit 2011 leitet der in Jena geborene Bürgerrechtler Roland Jahn (61) die Stasi-Unterlagen-Behörde. Diese Woche sprach er an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und in Wiesloch.

Herr Jahn, 25 Jahre nach der Wiedervereinigung kann die Linkspartei in Baden-Württemberg laut letzten Umfragen 2016 erstmals auf den Parlamentseinzug hoffen. Muss sich eigentlich auch ein westdeutscher Verband mit der DDR-Vergangenheit befassen?

Jahn: Die Aufarbeitung der SED-Diktatur ist eine gesamtdeutsche Angelegenheit. Wenn die Linkspartei im Westen sich vereinigt mit der Nachfolgepartei der SED, steht sie auch in Verantwortung für die Vergangenheit. Man kann in Baden-Württemberg nicht sagen, dieser Teil der Geschichte interessiert nicht. Es stellt sich auch die Frage, in welchem Verhältnis man damals zur DDR stand. Hat man sie durch die rosarote Brille gesehen? Hat man mit seinen alten Sichtweisen die Diktatur stabilisiert? Diese Fragen muss sich mancher aus dem alten Westen auch heute gefallen lassen.

Haben es westdeutsche Linkenpolitiker - wie auch Thüringens neuer Ministerpräsident Bodo Ramelow - da nicht besonders schwer? Es ist ja eben nicht die eigene Geschichte.

Jahn: Ich würde das nicht so trennen, das eigene Erleben ist nicht Voraussetzung für Aufarbeitung. Bodo Ramelow ist Mitglied der Linkspartei, er haftet damit für die Mitglieder seiner Partei. Es ist eine Chance. Er kann viele Initiativen starten, um Ex-SED-Funktionäre herauszufordern, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Es gilt, Diktatur aufzuklären, um Demokratie besser gestalten zu können. Es muss aber glaubhaft geschehen, nicht nur als Lippenbekenntnis wie im Koalitionsvertrag, wo man die DDR zwar als Unrechtsstaat benennt, aber gegenteilige Interviews gibt.

Grün-rot-rote Koalitionen werden von der CDU geradezu verteufelt. Ist eine Linkspartei in Regierungsverantwortung eigentlich ein Unding?

Jahn: Zu Freiheit und Demokratie gehört dazu, dass politische Mehrheiten akzeptiert werden. Die friedliche Revolution hat dafür gesorgt, dass es ein einziges Mal wirkliche freie Wahlen auch in Ostdeutschland gab. Die Revolutionäre ‘89 haben auch ihre Peiniger befreit. Aber eine Linkspartei, die in der Regierungsverantwortung ist, ist besonders gefordert. Je mehr die Bereitschaft da ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, umso glaubwürdiger ist die Demokratie insgesamt. Keiner soll auf ewig für seine Haltung von damals ausgegrenzt werden. Aber bitte mit einer klaren Benennung dessen, was da an Unrecht geschehen ist und wer die Verantwortung dafür trägt.

Sehen Sie die Linkspartei auf diesem Weg?

Jahn: In der Praxis sehe ich die Linkspartei leider überhaupt noch nicht auf dem Weg, der notwendig ist. Sie muss klar benennen, dass Menschenrechte unter ihrer Verantwortung verletzt wurden. Dazu sind Teile der Partei nicht in der Lage.

Die Südwest-Integrationsministerin Bilkay Öney hatte die Pegida-Demonstrationen als Zeichen gedeutet, dass es Demokratisierungsdefizite im Osten gebe. Hat sie Recht?

Jahn: Man kann auch sagen: Die Demonstrationen zeigen, dass die demokratischen Möglichkeiten genutzt werden. Insofern ist es ein Ausdruck von Demokratie. Meine Beobachtung ist aber durchaus, dass die mangelnde Weltoffenheit der DDR über Generationen hinweg immer noch Nachwirkungen hat. Die Bereitschaft, sich auf andere Kulturen einzulassen, ist oft nicht vorhanden. Dabei sollte man gerade aus der DDR-Vergangenheit heraus die Menschenrechte hoch halten - dazu gehören auch das Recht auf Asyl und auf Religionsfreiheit.

Schmerzt es Sie persönlich, wenn Sie den Slogan "Wir sind das Volk" bei diesen Demonstrationen hören?

Jahn: Ich finde es anmaßend zu sagen, "wir sind das Volk". Andererseits gehören sie zum Volk, können das für sich in Anspruch nehmen und deshalb das Demonstrationsrecht für sich in Anspruch nehmen.

Wie sieht es in Ihrer eigenen Behörde aus: Ebbt da das Interesse an Ihren Akten nicht allmählich ab?

Jahn: Wir haben derzeit monatlich über 7000 Anträge zur persönlichen Akteneinsicht. Die Menschen wollen also auch heute noch wissen, wie die Stasi in ihr persönliches Leben eingegriffen hat. Das sind oft Leute, die oft von ihren Kindern und Enkelkindern herausgefordert werden, zu erzählen. Gerade im Angesicht der aktuellen Diskussion um Datenmissbrauch, um Vorratsspeicherung und NSA-Skandal wollen junge Leute schon wissen: Was ist der Unterschied zwischen NSA und Stasi. Wie hat so eine Geheimpolizei damals funktioniert und wie kann ich meine Sinne schärfen für die Gegenwart?

Das Interview führte Sören S. Sgries