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Seit dreißig Jahren gibt es die Stasi-Unterlagen-Behörde. Nun gehen die Akten ins Bundesarchiv über. Wie gut ist die Aufarbeitung der DDR bisher gelungen?

Berliner Zeitung: Seit dreißig Jahren gibt es die Stasi-Unterlagen-Behörde. Nun gehen die Akten ins Bundesarchiv über. Wie gut ist die Aufarbeitung der DDR bisher gelungen?

Roland Jahn: Wir haben in Deutschland einige Zeichen gesetzt, wie wichtig Aufarbeitung ist, auch für die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft. Den Opfern wurde Anerkennung verschafft, wir sind weitergekommen, was die Aufklärung über geschehenes Unrecht gesellschaftlichen Frieden angeht, aber aus meiner Sicht sind wir andererseits auch immer noch am Anfang. Mein besonderes Thema ist der Druck zur Anpassung, dem Menschen in einer Diktatur ausgesetzt sind. Dazu wäre es wichtig, den Dialog zwischen den Generationen zu befördern.

Berliner Zeitung: Gab es in den letzten dreißig Jahren nicht eine allzu große Fixierung auf die Stasi? Andere Teile des DDR-Machtapparats wurden nicht so genau unter die Lupe genommen. Es ging immer um Stasi, Stasi, Stasi.

Jahn: Das ist Ihre Wahrnehmung. Es ist richtig, dass es speziell in den neunziger Jahren eine starke Fixierung auf das Thema Stasi gab. Natürlich sollte erst mal das Geheime aufgedeckt werden. Die Menschen wollten konkret wissen, wer wie im Verborgenen agiert, wer sie persönlich verraten hat. Aber ich habe immer wieder angemahnt, auch jetzt in meiner Tätigkeit, dass es wichtig ist, das Gesamtsystem zu betrachten. Die SED-Diktatur als SED-Diktatur klar zu definieren, nicht als Stasi-Diktatur. Und die DDR-Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Wir brauchen kein staatlich verordnetes Geschichtsbild, wir brauchen einen gesellschaftlichen Diskurs. Dabei spielt die Bereitstellung der Stasiakten eine wichtige Rolle, aber da darf man nicht stehen bleiben. Wir müssen insgesamt die Dokumente dieser Zeit nutzen, und vor allem den Menschen zuhören, mit ihren Erfahrungen, ihren Beschreibungen, wie sie diese Zeit erlebt haben, damit wir keine Schwarz-Weiß-Zeichnung haben, sondern die vielen Grautöne dieser Gesellschaft wahrnehmen können.

Berliner Zeitung: Da würden wir Ihnen zustimmen. Aber steht das Schwarz-Weiß-Bild von der DDR nach dreißig Jahren nicht fest?

Jahn: Ich sehe es nicht als Schwarz-Weiß-Bild. Aber mein Ansatz ist schon immer ein differenziert anderer gewesen. Zum Beispiel, im letzten Sommer haben wir in unserem Campus-Kino in der ehemaligen Stasi-Zentrale Filme wie „Gundermann“ und „Barbara“ gezeigt. Wir wollen die Geschichte von Menschen, die in den Stasi-Akten stehen, auf eine Art und Weise vermitteln, mit der man Empathie entwickeln kann für ihre Situation damals. Es gibt keinen allgemein gültigen Maßstab, wie man sich verhalten soll in der Diktatur. Die Menschen waren jeden Tag herausgefordert, ihren eigenen Weg zu finden. Der Alltag in der DDR war ja ein sehr vielfältiger.

Berliner Zeitung: Sie haben den Film „Gundermann“ aus dem Jahr 2018 erwähnt, in dem es auch um die IM-Tätigkeit des Sängers ging, tatsächlich sehr differenziert. Uns erscheint der Film wie eine Ausnahme in dreißig Jahren, in dem noch die kleinste IM-Tätigkeit von Ostdeutschen zum Skandal wurde, ohne viel Differenzierung. Es ging nur um die Frage, wie groß ihre Schuld war.

Jahn: Ich habe es an vielen Stellen anders wahrgenommen und als Journalist anders praktiziert, schon in den neunziger Jahren. Ich denke, es ist besser bei den Leuten selbst einen Erkenntnisprozess als sie ins Verhör zu nehmen. Mir ist es wichtig, dass die Gespräche stattfinden in einer Form, in der man zuhört, in der man nicht von vorn herein verurteilt, sondern versucht zu verstehen. Allerdings ohne jemanden aus der Verantwortung zu entlassen. Wir werden doch keine Erkenntnisse gewinnen, wenn wir Leute von vornherein abstempeln. Mein Anliegen ist es, einen Dialog zwischen den Generationen zu führen, der Kindern und Enkeln ermöglicht nachzuvollziehen, wie ihre Vorfahren gelebt haben. Das wollen wir mit unserer Arbeit befördern, indem wir Akten bereitstellen. Mehr als zwanzig Prozent der Erstanträge kommen nun schon von Angehörigen von Verstorbenen. Es gibt sogar eine Selbsthilfegruppe von „Stasikindern“, die Forschungsanträge stellen, um zu erkennen, wie der Lebensweg ihrer Eltern war.

Berliner Zeitung: In der Öffentlichkeit spielen weniger die Anträge von Enkeln eine Rolle. Sondern eher die von Journalisten, die enthüllen wollen, wer aus dem Osten alles mal IM bei der Stasi war. Der ehemalige Spiegel-Journalist Steffen Uhlmann hat es in einem Text in dieser Zeitung sogar „Jagd“ genannt. War der Zugang zu den Akten so gedacht, sollte jeder Ostdeutsche überprüfbar für die Öffentlichkeit sein?

Jahn: Unsere Aufgaben sind klar und deutlich im Stasiunterlagengesetz festgelegt. Das ist schon 1991 verabschiedet worden und hat sich bewährt als Rechtsgrundlage, um Transparenz des staatlichen Handelns herzustellen, insbesondere des Wirkens des Ministeriums für Staatssicherheit. Und um den Datenschutz sicherzustellen, wenn es um die Persönlichkeitsrechte von Menschen geht, über die von der Staatsicherheit Informationen gesammelt wurden. Das ist unsere gesetzliche Aufgabe: politische, historische und juristische Aufarbeitung zu gewährleisten und zu fördern. Dazu gibt es klare Regeln, Zugangsregeln, zur persönlichen Akteneinsicht, zur Nutzung durch öffentliche Stellen, aber auch durch Forschung und Medien. Die Motivation derer, die diese Anträge stellen, ist deren Angelegenheit. Auf alle Fälle bekommen sie nur Akten, wenn die Herausgabe dem Zweck des Gesetzes dient, also der politischen und historischen Aufarbeitung.

Berliner Zeitung: Also eigentlich nicht zu dem Zweck, Auskünfte über einzelne Personen zu erlangen?

Jahn: Auch Recherchen zu Personen können beantragt werden, auch das ist historische Forschung. Das wissen Sie doch als Journalistinnen genau, Geschichte erzählt man auch über Personen. Die Staatssicherheit war kein abstrakter Apparat. Das waren konkret handelnde Menschen.

Berliner Zeitung: Wurden die Akten missbraucht, um Eliten im Osten auszutauschen?

Jahn: Ich finde solche Art von Pauschalisierung nicht hilfreich. Wenn wir uns die vielen Millionen Anträge angucken, die hier bearbeitet worden sind, dann mag es Fälle geben, wo versucht wurde, etwas zu instrumentalisieren. Aber für uns zählt doch: Haben wir rechtmäßig Akten bereitgestellt? Da kann ich nur sagen, da war und ist das Stasiunterlagengesetz eine verlässliche Grundlage, und wenn es Fragezeichen gibt, dann hat jeder die Möglichkeit des Rechtsweges.

Berliner Zeitung: Da spricht der Behördenleiter. Wie blicken Sie als jemand, der an Aufarbeitung, offenem Dialog über die Vergangenheit und Grautönen interessiert ist, auf die Enthüllungen über einzelne kleine IMs? Bringt das die Aufarbeitung voran?

Jahn: Ich kann nur sagen, je länger das her ist, desto unwichtiger wird die Frage des damals und desto wichtiger die Frage, wie jemand seither damit umgegangen ist Und nochmal: Unsere Aufgabe ist es, die Akten bereitzustellen. Die Gesellschaft muss die politische Diskussion führen.

Berliner Zeitung: Solange Sie Behördenleiter sind, antworten Sie nur als Behördenleiter?

Jahn: Mir ist es wichtig, dass diese Institution nicht das Amt für absolute Wahrheit ist. Hier geht nicht der Daumen hoch oder runter dazu, ob jemand IM war oder nicht. Was wir hier verwalten, ist zunächst einmal beschriebenes Papier. Die Frage, ob eine Person IM war oder nicht, haben wir nicht zu klären. Wir haben zu klären, ob eine Unterlage herausgabefähig ist oder nicht. Ich werde auch niemandem vorschreiben, wie Aufarbeitung stattzufinden hat. Der Bundesbeauftragte ist dazu da, den offenen gesellschaftlichen Diskurs zu befördern, nicht zu bestimmen, wie er auszusehen hat.

Berliner Zeitung: Enthüllungen auch über kleine IMs können da durchaus einen Beitrag leisten?

Jahn: Wir brauchen bei der Nutzung der Akten auch die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, dass die Dinge sehr vielschichtig sind. IM ist nicht gleich IM. Da gilt es genauer hinzuschauen. Die Akten ermöglichen dies. Es gibt unterschiedliche Rahmenbedingungen, unter denen sich jemand mit der Stasi eingelassen hat. Forscher und Journalisten sind herausgefordert, die Quellen in ihren Kontext zu stellen, sie auch zu hinterfragen. Es ist eine Herausforderung, sorgsam mit den Akten umzugehen.

Berliner Zeitung: Geht die Gesellschaft denn sorgsam mit den Akten um?

Jahn: Aus meiner Sicht ist die Nutzung der Akten ein Gewinn für diese Gesellschaft. Dort, wo es geht, muss man diskutieren.

Berliner Zeitung: Ist es nicht ein Dilemma, dass die Akten oft vor allem die Sichtweise der ehemaligen hauptamtlichen Stasimitarbeiter wiedergeben? Auch auf die Leistungen ihrer IMs zum Beispiel. Aber das ist es eben, was noch übrig ist. Wie die späte Rache des MfS.

Jahn: Wir stellen die Akten zur Verfügung.

Berliner Zeitung: Aber Sie sind doch nicht nur der oberste Archivar.

Jahn: Doch, dazu habe ich mich ganz bewusst entwickelt. Ich bin jedenfalls nicht der „Oberrichter“. Ich halte ein Plädoyer dafür, dass die, die in den Akten vorkommen, in einen Dialog mit den anderen treten, die die Akten auf ihre Art deuten. Wir haben das immer unterstützt. So zum Beispiel beim Film „Feindberührung“, in dem zwei Menschen aufeinander treffen: Der eine hat an die Stasi berichtet, der andere ist in Folge dessen ins Gefängnis gekommen. Im Film reden sie darüber miteinander. Das ist Aufarbeitung.

Berliner Zeitung: Wir haben zuletzt über den Fall von Bernd Lammel berichtet. Was hat die Gesellschaft daraus gelernt, dass bekannt wurde, dass er dieser Mann sich ein paar Mal mit einem Stasioffizier getroffen hat? Was trägt der Fall zur Aufarbeitung bei?

Jahn: Ich bin nicht dazu da, Einzelfälle zu kommentieren. Wir stellen diese Akten zur Verfügung, weil offensichtlich Dinge existieren, die Leute miteinander besprechen wollen.

Berliner Zeitung: Vielleicht wollte Herr Lammel seine Stasikontakte nicht in aller Öffentlichkeit besprechen. Es hat sich auch niemand an ihn gewendet, der sich als sein Opfer sieht.

Jahn: Das Stasiunterlagengesetz sieht das anders vor. Dort steht, dass wir personenbezogene Akten auf Antrag herausgeben müssen, wenn darin die Bereitschaft zur Lieferung von Informationen an das Ministerium für Staatssicherheit dokumentiert ist. Das haben wir in einer Vielzahl von Fällen getan. An Forscher, Journalisten, Gedenkstätten.

Berliner Zeitung: Als Sie Ihr Amt angetreten sind, sprachen Sie davon, dass Sie ein Klima der Versöhnung schaffen wollen. Wie gut ist Ihnen das gelungen?

Jahn: Wir haben gute Rahmenbedingungen geschaffen. Versöhnung, Vergebung ist aber ohne Aufklärung nicht möglich. Man braucht die Chance zu wissen, was war. Die Stasiakten ermöglichen eine differenzierte Auseinandersetzung.

Berliner Zeitung: Menschen, denen eine Stasimitarbeit vorgeworfen oder nachgewiesen wurde, empfinden das mitunter anders. Sobald das Label „Stasi“ auf einer Biografie klebt, brechen Gespräche ab, wird nicht mehr groß differenziert.

Jahn: Das ist Teil der Aufarbeitung. Ich kann niemandem Vorschriften machen, wie er sich zu verhalten hat. Ich setze auf den Dialog, die Auseinandersetzung. Auf Aufklärung, nicht auf Abrechnung. Ich selbst habe mich hingesetzt und mit Stasioffizieren und IM diskutiert. Niemand soll auf ewig verdammt sein, die Leute sollen eine Chance bekommen, mit ihrer Vergangenheit umzugehen.

Berliner Zeitung: Kann das wirklich funktionieren, ein offener Umgang mit einer Stasimitarbeit, der nicht zur Verdammung führt?

Jahn: In der Bürgersprechstunde kam ein ehemaliger inoffizieller Mitarbeiter zu mir und sagte, Herr Jahn, ich habe mich im öffentlichen Dienst beworben, ich muss einen Fragebogen ausfüllen. Ich war damals Anfang 20, ich habe mich damit auseinandergesetzt, das alles bereut. Wenn ich jetzt schreibe, ich war bei der Stasi, dann kriege ich den Job nicht. Und wenn ich etwas anderes ankreuze, lebe ich weiter mit der Lüge. Ich habe gesagt, so, wie Sie mit mir jetzt geredet haben, offen, das kann ein Weg für Sie sein. 14 Tage später hat er mich angerufen und gesagt, Herr Jahn, danke, so habe ich es gemacht und ich habe den Job gekriegt.

Berliner Zeitung: In einem Interview aus dem Jahr 2003, vor Ihrer Zeit als Bundesbeauftragter, haben Sie gesagt: Jeder, der in der DDR auch nur zur Wahl gegangen ist, hat das System gestützt, die Diktatur mit am Leben gehalten.

Jahn: Man muss sich bei Interviews den Kontext anschauen. Aber ich betone klar und deutlich: Ich trete ein für eine differenzierte Betrachtung der Biografien. Ich verwende zum Beispiel das Wort Schuld nicht mehr. Weil die Gefahr besteht, dass jemand abgestempelt wird, dass man der Person nicht gerecht wird und vor allem der Dialog so nicht geöffnet wird. Ich spreche von Verantwortung, der man sich stellen sollte.

Berliner Zeitung: Sie ziehen eine sehr positive Bilanz Ihrer Amtszeit. Gibt es etwas, was in dieser Dekade nicht so funktioniert hat, wie Sie es sich gewünscht hätten? Wurden auch Fehler gemacht?

Jahn: Im Großen und Ganzen ist uns ein Weg gelungen, der meinem Anspruch, den Opfern gerecht zu werden und die Brücke zur nächsten Generation zu bauen, entspricht. Das freut mich auch. Manches hätte schneller gehen können, gerade wenn ich mir für Berlin die Entwicklung der ehemaligen Stasizentrale anschaue. Da haben wir viel geleistet, aber da hätte ich mir schon gewünscht, dass Bund, Land und Stadtbezirk noch mal zielstrebiger vorangegangen wären.

Berliner Zeitung: Was machen Sie nach dem 17. Juni?

Jahn: Was macht jemand, der lange in einem Land gelebt hat, wo er nicht frei reisen konnte? Der nutzt die Gelegenheit, grenzenlos zu reisen, so viel es geht. Und ich denke, dass der Dialog der Generationen auch an meiner Familie nicht vorbeigeht. Ich werde ins Campuskino gehen, auf dem Campus für Demokratie, und Filme schauen, die erklären, nicht nur, was Diktatur war, sondern auch, wie sie überwunden worden ist. Wir haben für den August Filme geplant, die sich auch die ältesten meiner fünf Enkel mit 12 und 14 schon anschauen können.