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"Stasi-Unterlagen ziehen ins Bundesarchiv um"

NDR: Herr Jahn, im Sommer 2021 endet nach zehn Jahren Ihre Amtszeit. Wie blicken Sie zurück auf diese Zeit?

Roland Jahn: Ich freue mich, dass wir heute die Weichen für die Zukunft gestellt haben und dass das Stasi-Unterlagen-Archiv jetzt als Teil des Gedächtnisses der Nation im Bundesarchiv dauerhaft gesichert ist. Das ist die Botschaft des Tages. Dem Ganzen muss man Rechnung tragen, indem man feststellt, dass die vergangenen Jahre dazu geführt haben, dass das, was sich bewährt hat, nämlich der Zugang zu den Akten nach dem Stasi-Unterlagengesetz, erhalten bleibt. Auch der besondere Charakter und der Symbolwert des Stasi-Unterlagen-Archivs wird dadurch als Errungenschaft der friedlichen Revolution mit internationaler Vorbildwirkung betont. In diesem Sinne ist das ein wichtiger Tag für die Zukunft, weil man den Opfern gerecht wird und gleichzeitig die Brücke in die nächste Generation baut.

Statt Ihres Amtes wird eine neue Position installiert, jene einer Ombudsperson für die Opfer der SED-Diktatur. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?

Jahn: Ja, das ist immer mein Wunsch gewesen, dass der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen weiterentwickelt wird. Ich habe in meiner Amtszeit die Erfahrung gemacht, dass sich viele Opfer an mich gewandt haben, auch mit Anliegen, die die Stasi-Akten gar nicht betroffen haben. In dieser Hinsicht ist es gut, dass aus dem Beauftragten für die Akten ein Beauftragter für die Menschen wird, der nicht nur die Stasi, sondern auch die gesamte SED-Diktatur in den Blick nimmt.

Bedauern Sie es nicht auch, dass die Eigenständigkeit der Behörde aufgelöst wird und das Archiv seine ostdeutsche Heimat verlässt?

Jahn: Nein, im Gegenteil. Es ist wichtig, dass man auch die Stasi-Unterlagen als einen Teil des kulturellen Gedächtnisses der Nation begreift. Es ist ja unsere gesamtdeutsche Geschichte. Es gab die SED-Diktatur, aber es gab auch die deutsche Teilung. Die deutsche Identität hat etwas damit zu tun, dass wir uns als Gesamtdeutsche verstehen und dafür hier die Grundlagen schaffen. Aber es geht auch darum, Kompetenz, Technik und Ressourcen zu bündeln, um Projekte wie das Archivzentrum in Berlin zu entwickeln und umzusetzen, mit allen Akten, die in der DDR-Zeit angelegt worden sind.

Was heißt diese Transformation für die Nutzerinnen und Nutzer des Archivs?

Jahn: Das heißt, dass wir diese Unterlagen weiter in bewährter Form zur Verfügung stellen, dass wir aber auch die Möglichkeiten weiterentwickeln, diese Unterlagen digital einsehen zu können, auch an den Standorten des Bundesarchivs im Westen Deutschland: in Koblenz, Bayreuth, Freiburg oder Ludwigsburg.

Im Parlament gab es breite Zustimmung - aber es gibt auch kritische Stimmen, etwa von einer Reihe ehemaliger Bürgerrechtler und Politiker, die eine gemeinsame Erklärung verfasst haben: Geschichte ließe sich nicht abwickeln, hieß es darin unter anderem. Was entgegnen Sie dem?

Jahn: Dem muss ich nichts entgegnen - Geschichte lässt sich nicht abwickeln. Es gibt kein Verfallsdatum für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Dieser Brief ist schon einige Monate alt, und gerade in den letzten Wochen ist es uns gelungen, die vielen Meinungen, die es zu diesen Fragen gibt, in den Gesetzentwurf einzubeziehen. Es ist ein deutlicher Ausdruck: Vier Parteien des Deutschen Bundestages haben diesen Antrag eingebracht und auch beschlossen. Es ist eine breite Meinungsvielfalt in diesen Gesetzentwurf eingeflossen, und das ist ein guter Rückenwind für die Entwicklung in die Zukunft.

Kritik gibt es auch daran, dass die Behörde als Teil des Bundesarchivs auch eine Forschungsabteilung unterhalten soll. Diese "Behördenforschung" wird unter anderem von dem ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse kritisiert, der bis 2016 Teil einer Expertenkommission zur Zukunft der Behörde war. Was erwidern Sie dem?

Jahn: Man muss sich die Dinge ganz konkret anschauen. Der Gesetzgeber hat beschlossen, dass die Forschung im Stasi-Unterlagen-Archiv zu einer quellenkundlichen Forschung weiterentwickelt wird. Es geht ja darum, diesen besonderen Charakter der Hinterlassenschaft einer Geheimpolizei weiter zu erschließen und diese Bestände lesbarer zu machen. Das ist nicht irgendein Archiv, sondern ein Archiv einer Geheimpolizei, wo es immer wieder neue Dinge zu entdecken gilt. Deswegen werden wir hier Rechercheleitfäden entwickeln, Spezialinventare erstellen und Editionen herausgeben, die dieses Archiv lesbarer und die Akten besser nutzbar machen.

Mehr als 30 Jahre sind vergangen seit dem Ende der DDR. Warum hat es so lange gedauert bis zu dieser deutsch-deutschen Vereinigung?

Jahn: Weil das ein besonderes Archiv ist, das auch eine besondere Geschichte hat: Es waren ja die Bürgerinnen und Bürger in der DDR in der friedlichen Revolution, die die Aktenvernichtung gestoppt haben, die die Akten gesichert haben. Und dann wurde in einem langen Diskussionsprozess ein Stasiunterlagen-Gesetz geschaffen, das den Zugang zu den Akten rechtsstaatlich regelt, Transparenz des staatlichen Handelns herstellt, aber auch Datenschutz für die Bürgerinnen und Bürger. Hier gab es sozusagen eine internationale Vorbildwirkung und in diesem Sinne hat die Behörde sehr gut gearbeitet. Aber es ist wichtig, dass man sich auch verändert. Es ist wichtig, dass man Neues schafft, um den Kern des Alten zu bewahren. Ich denke, gerade im 30. Jahr der Deutschen Einheit der Zeitpunkt nicht besser gegeben sein kann, dass man jetzt die Weichen stellt für die Zukunft, für die nächsten Jahrzehnte, dass auch nächste Generationen diese Stasiunterlagen nutzen können als Teil des Gedächtnisses der Nation.

Das Interview führte Alexandra Friedrich.