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"Verantwortung birgt die Chance auf Vergebung"

Immer noch lässt viele Menschen die dunkle Seite der DDR-Vergangenheit nicht in Ruhe. Zugleich werden Rufe nach einem Ende der Stasi-Unterlagen-Behörde laut. Mit ihrem Chef Roland Jahn sprachen die Volksstimme-Redakteure Jens Schmidt und Steffen Honig

Herr Jahn, auch 22 Jahre nach dem Ende der Stasi gehen in Ihrer Behörde jeden Monat mehr als 7000 Anträge auf Akteneinsicht ein. Wie erklären Sie sich das ungebremste Interesse?

Roland Jahn: Dafür gibt es mehrere Gründe: Viele melden sich erst jetzt, da sie sich nun als Rentner mehr Zeit nehmen, ihr Schicksal zu ordnen. Nicht wenige hatten lange Angst davor, auf Verrat im Kollegen- und Freundeskreis zu stoßen und nicht zu wissen, wie sie damit umgehen sollen. Außerdem stellen wir ein zunehmendes Interesse der jungen Generation an den Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern in der SEDDiktatur fest. Rund ein Viertel der Anträge, die im Rahmen der persönlichen Akteneinsicht eingegangen sind, sind Wiederholungsanträge. Etliche Dokumente waren anfänglich nicht greifbar. Es gab kilometerweise ungeordnete Aktenbündel, die jetzt aber zu rund 88 Prozent erschlossen sind. Und die Stasi hat Millionen Seiten zerrissen, von denen wir inzwischen über eine Million Blatt rekonstruieren konnten. Allein in der Außenstelle Magdeburg lagern 9300 Säcke mit Schnipseln. Hinzu kommen Anträge von Menschen, die nach Beweisen für ihre politische Verfolgung suchen. Das ist wichtig für ihre Rehabilitierung, das heißt auch für ihre Rente.

Ist es ratsam, Vergangenes ans Licht zu holen?

Jahn: Ja, ich denke, es ist wichtig, sich Klarheit zu verschaffen darüber, was gewesen ist. Das ist die Grundlage dafür, mit falschen Freunden oder Kollegen ins Reine zu kommen. Erst wenn Verantwortung übernommen wird, besteht eine Chance auf Vergebung.

Die Außenstelle Magdeburg stand schon mal auf der Streichliste. Wie ist der Stand?

Jahn: Bei diesen Überlegungen war das Land nicht genügend einbezogen. Das ist nicht gut. Daher sind wir dabei, uns zusammen mit dem Land über ein Konzept zur geschichtlichen Aufarbeitung abzustimmen. Die regionale Aufarbeitung ist sehr hilfreich, da sie nah dran ist an den Menschen. Dabei sind die Außenstellen in Magdeburg und Halle sehr wichtig. Das sind keine einfachen Aktensammelstellen. Vielmehr zeigen wir anhand der Archivierung, wie die Stasi gearbeitet hat. Allerdings müssen wir auch ökonomisch denken. Alles gehört auf den Prüfstand. Also: Das Schicksal der Magdeburger Außenstelle ist nicht besiegelt.

Wie lange wird es die Bundesbehörde noch geben? Erste Politiker fordern ihre Auflösung 2019, wenn die Überprüfungspflicht für Mitarbeiter im öffentlichen Dienst endet.

Jahn: Die Behörde wird es solange geben, wie sie gebraucht wird. Es ist in der Vergangenheit schon viel über das nachlassende Interesse spekuliert worden, doch alle Prognosen lagen daneben. In diesem Jahr sind bis Ende Oktober fast 80 000 Anträge im Rahmen der persönlichen Akteneinsicht eingegangen. In Sachsen-Anhalt waren es rund 9000, allein in der Außenstelle Magdeburg fast 5000. Der Bedarf ist da. Wann und ob er zurückgeht, kann niemand genau sagen.

Einige Politiker meinen, diese Arbeit könnte das Bundesarchiv genauso gut erledigen.

Jahn: Das ist eine Frage des Türschilds. Darüber muss letztlich die Politik entscheiden. Wir unterstützen dabei gern. Man darf allerdings nicht vergessen, dass wir auch über das Wirken der Stasi unterrichten. Ein aktuelles Vorhaben beschäftigt sich mit der Region Halberstadt. Daran soll exemplarisch die Zusammenarbeit zwischen Stasi, Rat des Kreises und SED gezeigt werden. Die Diktatur im Alltag rückt mehr in den Mittelpunkt unserer Untersuchungen. Warum haben Leute mitgemacht, die eigentlich dagegen waren? Wie hat die Stasi in den Betrieben agiert?

Warum Halberstadt?

Jahn: Die Region ist sozioökonomisch durchaus repräsentativ für die DDR, und es ist ein Kreis mit Westgrenze. Außerdem haben wir dort eine gute Aktenlage.

Sie haben vorgeschlagen, in der einstigen Stasi-Zentrale in Berlin einen Campus der Demokratie aufzubauen. Ein Rettungsanker für die Behörde? "Pussy Riot hätte den Lutherpreis verdient, egal wie man zu ihrer Art des Protestes steht."

Jahn: Darum geht es mir nicht. Wie gesagt: Auf der Tür zum Stasi-Archiv kann eines Tages auch "Bundesarchiv" stehen. Aber es geht um mehr. Wir wollen junge Menschen befähigen, Demokratie zu gestalten. Das gelingt umso besser, je mehr sie begreifen, wie Diktatur funktioniert. Das kann man dort, wo einst Stasichef Mielke gewirkt hat, sehr gut zeigen. Es ist ein Ort der Repression, aber auch ein Ort der friedlichen Revolution - bekanntlich haben Bürger 1990 die gefürchtete Machtzentrale besetzt. Heute haben wir dort bereits ein Museum und dort ist auch das zentrale Stasi-Archiv. Darüber hinaus wäre es möglich, ein modernes Informationszen-trum aufzubauen. Andere Vereine und Institutionen wie die Havemann-Gesellschaft mit ihrem Archiv der DDR-Opposition können dort ihren Sitz haben. Das Fraunhofer-Institut könnte dort mit seiner "Puzzlemaschine" arbeiten und zeigen, wie mit modernster Computertechnik die zerrissenen Stasi-Dokumente wieder zusammengesetzt werden. Mir geht es darum, dass wir uns auf die jungen Generationen einstellen: Es geht um Aufklärung, nicht um Abrechnung.

Oft geht es ja auch um Anpassung oder Widerstand. Inwiefern ist das heute für junge Leute von Belang?

Jahn: Man kann aus der Vergangenheit lernen. Passe ich mich an oder wann leiste ich Widerspruch? - vor dieser Frage steht jeder auch heute, wenn auch unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen. Mit dem Wissen über eine unfreie Gesellschaft kann man Freiheit besser schätzen und schützen.

Ein Blick in die jüngste Vergangenheit: Hier wurde leidenschaftlich darüber diskutiert, ob die putinkritische russische Punkband Pussy Riot den Lutherpreis verdient hätte. Ausgerechnet einige ehemalige Bürgerrechtler waren auf Distanz gegangen. Wie sehen Sie das?

Jahn: Die jungen Frauen hätten den Preis verdient, um ein Zeichen zu setzen, egal, wie man nun zu ihrer Art des Protestes steht. Das Straflager-Urteil ist menschenrechtswidrig. Mich persönlich hat es sehr erinnert an die Zeit, als meine Partnerin und ich in der DDR im Gefängnis saßen und unser Kind gerade einmal drei Jahre alt war. Das ganze Familienumfeld wird dabei mitbestraft. Ich habe mich schon gewundert, dass Kritiker wie Friedrich Schorlemmer offenbar vergessen haben, wie wichtig die Solidarität für jene Menschen ist, die unter Repressalien zu leiden haben.