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"Warum sind Menschen so ideologisch verbohrt?"

Im Interview mit der "Thüringer Allgemeine" vom 11. Februar 2012 plädiert der Bundesbeauftragte für ein Klima der Offenheit und Differenzierung, wenn es um DDR-Aufklärung geht

Herr Jahn, was schreckt den Geheimdienstaufklärer an den aktuellen Offenbarungen zur Thüringer NS-Terrorzelle mehr - dass die Mörder aus Ihrer Heimatstadt Jena kamen oder dass der deutsche Verfassungsschutz so nachlässig, inkompetent oder sogar verstrickt war?

Jahn: Man sollte da nicht eins gegen das andere setzen. Als Jenenser bin ich einerseits erschrocken darüber, dass Menschen aus meiner Heimatstadt zu so etwas fähig sind. Ich stelle ich mir die Frage, wie es dazu kommen konnte. Wie und wodurch konnte in den verschiedenen Zeitphasen der DDR und des Umbruchs danach so eine Szene entstehen? Und andererseits ist klar: Dort, wo es Ermittlungspannen gab, muss der Staat Transparenz herstellen. Und er muss zeigen, dass er in der Lage ist, die Bürger zu schützen.

Indem ich darauf hinweise, will ich zur Aufklärung beitragen. Es ist ja ein vielschichtiges Thema - warum sind Menschen so ideologisch verbohrt, dass sie deswegen sogar morden. Rechtsradikales Denken und Handeln hatte die Stasi auch schon im Blick, letztlich hat sie es aber unter den Tisch gekehrt. Es gab dazu sogar eine soziologische Untersuchung der Berliner Humboldt-Universität, die jedoch zu DDR-Zeiten als vertrauliche Verschlusssache behandelt wurde.

Es könnte der Eindruck entstehen, dass letztlich auch das Mördertrio unter Stasi abgehakt und diese Art von "Stasikeule" von den Defiziten in der aktuellen Gesellschaft ablenkt. Halten Sie das für hilfreich?

Jahn: Die "Stasikeule" sehe ich nicht. Freie Information ist wichtig. Bei der Ursachensuche müssen wir alle Aspekte betrachten. Dass meine Äußerungen in einen falschen Kontext gestellt werden, habe ich schon einige Male erlebt. Wahrheiten dürfen nicht vereinfacht oder verkürzt werden. Da stehen die Medien auch in der Verantwortung.

Seit Ihrem Amtsantritt als Chef der Stasiunterlagenbehörde scheint das Stasi-Thema einen neuen Boom zu erleben. Ist das Ihrerseits so gewollt?

Jahn: Das anhaltende Interesse zeigt nur, dass man nichts verdrängen darf. Das Thema bewegt die Menschen nach wie vor.

Welche Menschen?

Jahn: Zum Beispiel die, die unter der Stasi gelitten haben. Ich habe mich kürzlich mit Frauen aus dem Frauenknast Hoheneck getroffen. Frauen, die dort mit 19 oder 20 als junge Republikflüchtige eingesperrt waren. Wenn sich eine Ausreisewillige heute immer noch Vorwürfe des erwachsenen Sohnes anhört, er habe damals die Mutter entbehren müssen, weil die lieber in den Westen wollte, zeigt das, dass das Thema nicht "durch" ist. Es hat Familien beschädigt. Es geht hier nicht um Strafrechtliches, sondern um die politisch-moralische Aufarbeitung. Die kennt keine Verjährung.

Was ist mit denen, die nicht unmittelbar betroffen sind?

Jahn: Wir hatten im Januar 12 000 Anträge auf Akteneinsicht, davon zwei Drittel Erstanträge. Dazu wird niemand gezwungen. Viele kommen ins Rentenalter und wollen ihr Schicksal ordnen. Manche wollen einfach nur ihren Kindern oder Enkeln erzählen wie es war, und schauen deshalb in die Akten. Ich kenne niemanden, der gesagt hat, dass er die Akteneinsicht bereut hat.

Warum sollten sich junge Leute, die die DDR nur noch aus dem Geschichtsbuch kennen, für die Stasi interessieren?

Jahn: Es interessiert sie, das erlebe ich immer wieder. Sie stellen Fragen an ihre Eltern und Großeltern und wollen alles sehr genau wissen. Und wenn ihnen dann in den Sinn kommt, beim Diskutieren über die Stasi und ihre Sammelwut, dass auch Facebook & Co ordentlich Daten sammeln, dann wollen sie Aufklärung. Und sind sensibilisiert für die Gefahr von Datenmissbrauch. Letztlich geht es beim Thema Stasi immer auch um das Thema Demokratie.

Stört es Sie, wenn der Aufklärer und Bürgerrechtler Roland Jahn nach außen auch schon mal als Ankläger erlebt wird, an einer Stelle war sogar mal die Rede von "Bürgerrechthaberei"?

Jahn: Als Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen verstehe ich mich als jemand, der aufklären will bzw. Akten zur Verfügung stellt, die zur Aufklärung dienen. Ich bin weder Ankläger noch Rächer noch will ich mit jemandem abrechnen. Das wird man mit mir nicht erleben. Ich will ein Klima der Offenheit und Differenzierung.

Wie viel Verständnis bringen Sie auf für Menschen, die sich mit der DDR arrangiert hatten, die sich anpassten und heute womöglich Sätze sagen wie "Es war nicht alles schlecht"?

Jahn: Ich habe dafür sehr viel Verständnis, weil ich es aus eigenem Erleben kenne. Weil auch ich mich eine Zeitlang in den vorgeschriebenen Bahnen bewegt und nicht genug darüber nachgedacht habe, was es heißt mitzulaufen, bei den Pionieren, der FDJ, im Grundwehrdienst oder bei der Maidemo. Da sah man als junger Kerl die Mädchen und wollte dabei sein und es war toll. Ich weiß also, wie schnell das geht mit der Anpassung. Zumal wenn selbst der eigene Vater, der in gehobener Stellung bei Carl Zeiss tätig war und an der berühmten Multispektralkamera mitarbeitete, gesagt hat: Bitte, Junge, halt dich mal mit deiner Meinung zurück, du bringst die ganze Familie in Gefahr. Schon deswegen war es mir immer wichtig, Menschen wie meinen Vater zu verstehen.

Warum kann das nicht auch für die ehemaligen Stasifahrer oder -hausmeister gelten, die bislang in ihrer Behörde arbeiteten und jetzt gehen müssen?

Jahn: Es geht um klare Kriterien. Anpassung ist nur subjektiv bewertbar, jeder Mensch handelt da unter anderen Voraussetzungen oder Zwängen. Aber jemand, der hauptamtlich für die Stasi tätig war, der es sich also zum Beruf gemacht hat, in einer Organisation zu arbeiten, die andere Menschen unterdrückt und die Bevölkerung unter Kontrolle hielt, hat eine klare Entscheidung dafür getroffen. Die Stasi war nicht nur ein Apparat, sie bestand aus handelnden Menschen. Jemand, der damals als Stasi-Offizier Ausweise kontrollierte, soll das heute in unserer speziellen Behörde nicht mehr tun. Da geht es auch um unsere Glaubwürdigkeit gegenüber den Opfern.

Joachim Gauck sagte noch vor zwei Jahren, er stehe zur Weiterbeschäftigung ehemaliger Stasileute, sie hätten bei der Aufklärung geholfen...

Jahn: Joachim Gauck hat das immer schon anders gesehen als ich und ich habe ihn immer schon dafür kritisiert. Der Beweis, ob sie tatsächlich gebraucht wurden, ist nie angetreten worden. Ich verstehe es auch als klare Botschaft an die Opfer.Nur so schaffen wir die Voraussetzung für ein gesellschaftliches Klima, in dem differenzierte Bewertungen von DDR-Biografien möglich sind.

Ist Versöhnung zwischen Tätern und Opfern Ihrer Meinung nach möglich? Kennen Sie einen Fall, wo das für den Täter nicht nachteilig ausging?

Jahn: Ja. Und übrigens: Jeder inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, der sich glaubwürdig auseinandersetzt mit dem, was er gemacht hat, hat meinen Respekt und meine Unterstützung. Ich sehe auch, dass es da eine gewisse Schieflage gibt. Die kleinen jagt man, die Großen lässt man laufen. Alle haben auf die Spitzel geschaut, während über die, die die Befehle gaben, kaum geredet wurde. Wir alle müssen zu einem Klima beitragen, in dem Transparenz und vielleicht auch einmal Versöhnung machbar sind.

Wo sehen Sie Ihre Aufgabe dabei?

Jahn: Gerade weil ich als Bundesbeauftragter eine klare Linie vertrete, was ehemalige hauptamtliche Stasileute und die Stasi-Unterlagen-Behörde betrifft, habe ich auch die Chance zu sagen, nein, wir scheren nicht alle über einen Kamm. Wir wollen genauer hinschauen. Da will ich in den nächsten Jahren hin. Dass das ein mühevoller Prozess wird, weiß ich.

Bleibt es dabei: DDR gleich Diktatur gleich Stasi?

Jahn: Bei Begriffen wie Diktatur oder Unrechtsstaat sagen viele Leute, dass das wenig mit ihren Lebenserfahrungen zu tun hat. Wir müssen das subtile Wirken von SED und Geheimpolizei betrachten. Die Leute müssen die DDR wieder erkennen, in der sie gelebt haben. Auch in der Diktatur scheint die Sonne. Ich habe mir meine Lebenslust von der Stasi nicht nehmen lassen und lasse sie mir auch jetzt nicht durch die Akten der Stasi nehmen. Ich bin nach wie vor ein fröhlicher Mensch, der es genießt, in dieser Freiheit zu leben.