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"Dieses Gesicht" - Buchvorstellung am 7. August 2012

Ein Kommentar von Roland Jahn

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Am 17. August 1962 wurde der Berliner Maurergeselle Peter Fechter bei einem Fluchtversuch aus der DDR im Todesstreifen von DDR-Grenzern tödlich getroffen. Anlässlich der Veröffentlichung des Buchs "Mord an der Mauer. Der Fall Peter Fechter" von Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff erinnerte Roland Jahn am 7. August 2012 an das wohl bekannteste Opfer an der Berliner Mauer.

Am 17. August 1962, einem Freitag, gegen 14.10 Uhr versuchten Peter Fechter und sein Freund Helmut Kulbeik, die Berliner Mauer in der Zimmerstraße nahe des Checkpoint Charlie zu überwinden. DDR-Grenzposten eröffneten das Feuer. Fast eine Stunde blieb Fechter im Todesstreifen liegen.

Das Foto des Abtransports des sterbenden Peter Fechter ist zur Ikone der Unmenschlichkeit des SED-Regimes geworden. Es ist Symbol für die Verachtung des Freiheitswillens von Menschen. Ein Bild, das konzentriert die Barbarei des Grenzsystems der DDR zeigt. Mit dem Rücken zur Kamera, ein Volkspolizist, im Arm einen fast verbluteten Menschen, angeschossen von den DDR-Grenzern. Ein Grenzsoldat nach hinten sichernd, Panik im Blick. Panik vor dem Westen. Panik vor dem eigenen Tun...

Mich bewegen Fragen darüber, was in den Köpfen der Menschen vor sich ging, die dabei waren: Warum handeln Menschen so? Was hat sie dazu gebracht? Hätten sie auch anders handeln können?

Aus verschiedenen Quellen und mit unterschiedlichen Perspektiven rekonstruieren Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff in ihrem Buch "Mord an der Mauer. Der Fall Peter Fechter" minutiös eine unglaubliche Geschichte, die man im ersten Moment mit kräftigen Worten kommentiert sehen möchte. Doch genau das geschieht in diesem Buch nicht. Es ist gerade die unaufgeregte und dennoch spannende Erzählweise, der es gelingt, mich mit zu nehmen auf dem Weg in die Zeitgeschichte. Die Sachlichkeit im Text gibt mir, dem Leser, den Freiraum für die eigenen Emotionen.

Ich fühle die Aufregung mit, als Peter Fechter und sein Freund Helmut Kulbeik durch die Berliner Schützenstraße in den Hof der Tischlerei direkt an den Todesstreifen gehen. Fast hoffe ich, dass sie es beide schaffen werden – und doch weiß ich, dass einer sterben wird. Ich bin froh, Peter Fechter lebend zu erleben. Mit ihm im Versteck unter Sägespänen zu liegen, zu hoffen, dass die Freiheit nicht mehr fern ist.

Erinnerung an den einzigen Sohn

Es ist diese Beschreibung der Details, die mir das Denken und Empfinden der Menschen nahe bringt und mich nicht mehr loslässt. Die Familie, wie sie von Peters Tod erfährt, wie sie fortan unter Beobachtung steht und Schikanen erdulden muss. Wie die Erinnerung an den einzigen Sohn durch die öffentliche Erklärung der DDR-Propaganda, er sei ein Verbrecher, noch schmerzhafter wird.

Der Film im Kopf beim Lesen wird zudem verstärkt durch die eindringlichen Fotos im Buch. Festgehaltene Momente des Sterbens eines 18-Jährigen. Fortgeführt durch eindrucksvolle Bilddokumente über die Zeit davor und danach. Welches Foto bewegt mich am meisten beim Betrachten der Bilder? Es ist ein einfaches Passfoto von Peter Fechter. Ein junger Mann mit zartem Gesicht. Bereit, einzusteigen, in sein Leben. Was wäre aus ihm geworden? Hätte er geheiratet, Kinder gehabt? Seine berufliche Erfüllung gefunden? Wo wäre er beim Mauerfall gewesen?

Ein einfaches Passfoto eines jungen Menschen bekommt eine neue Bedeutung im Wissen um sein Todesschicksal. Es ist diese unschuldige Sehnsucht nach Leben in seinem Gesicht, die den Irrsinn des politischen Systems in der DDR besonders sichtbar macht.

"Er hätte es doch wissen müssen"

"Du wolltest in die Freiheit und musstest sterben." Das schrieb seine Schwester Lilo auf den Trauerkranz zu seiner Beerdigung.

"Er hätte doch wissen müssen, dass an der Grenze geschossen wird." Das sagt der Volkspolizist Heinrich Mularczyk, der ihn blutend aus dem Todesstreifen wegtrug. Mit dieser Meinung steht er nicht allein.

"Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um." So kommentierte DDR-Propagandist Karl- Eduard von Schnitzler kurz nach dem Tod Peter Fechters den Fall. Der Zynismus der SED-Funktionäre ist schlimm, aber nicht anders zu erwarten gewesen.

Schlimmer ist für mich, dass es diese Haltung auch in der ganz normalen Bevölkerung der DDR gab, wie ich erst unlängst wieder in einer Fernsehumfrage hören konnte. Da sagte einer: "Wer sich nicht an die Regeln des Staates hielt, darf sich nicht wundern, dass er die Folgen spürte, der war selbst schuld."

Dieses Buch gibt Denkanstöße

Selbst schuld, wer als Mensch geboren wurde? Selbst schuld, wer seine Menschenrechte wahrnimmt? Was war das für ein Land, in dem Menschen selbst schuld waren, wenn sie an der Grenze erschossen wurden? Was war das für ein Land in dem der Wunsch nach Freiheit, in dem die Sehnsucht nach Selbstbestimmung tödlich sein konnte? Was war das für ein Land in dem die Menschen Todesschüsse an der Mauer ganz normal fanden?

Fragen über Fragen. Dieses Buch über den Fall Peter Fechter wirft mehr Fragen auf, als es jemals beantworten kann. Und das ist gut so. Dieses Buch gibt Denkanstöße. Es bleibt hängen, gerade weil es Fragen provoziert, zu denen es keine einfachen Antworten gibt.

Wir brauchen noch viele Bücher zu diesen Themen, denn die Bücher über das Wirken der Diktatur sind vor allem Lehrbücher für unsere Demokratie. Ganz besonders für die nächsten Generationen. Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten.

Fast eine Stunde im Todesstreifen

Und dazu brauchen wir mehr Geschichten, mehr Forschung. Wie war es organisiert das System der Angst, das die Diktatur zusammenhielt? Wie funktionierte das Zusammenspiel von SED, Stasi und den anderen Staatsorganen. Warum haben so viele mitgemacht, sich so viele Menschen angepasst?

Gerade beim Thema Anpassung denke ich oft: Eigentlich stehen wir immer noch fast am Anfang der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Aber diese Vergangenheit ist nicht nur eine Vergangenheit der DDR. Dieses Buch zeigt, es geht um gesamtdeutsche Geschichte und nicht nur das.

"Helft mir doch, helft mir doch", so werden Peter Fechters letzte Worte auf der Titelseite der "Berliner Morgenpost" vom 18.August 1962 wiedergegeben. Ein Mensch angeschossen, fast eine Stunde blutend im Todesstreifen – und keiner hilft. Nicht die DDR-Grenzer, nicht die West-Berliner Polizei, nicht die Militärpolizei der amerikanischen Schutzmacht.

Die Westseite blieb untätig

Die Empörung ist auch 50 Jahre danach beim Lesen sofort da. Ich fühle mit, was die West- Berliner, die angesichts des sterbenden Peter Fechter zum Zuschauen verurteilt waren, damals empfunden haben. Ich kann nachvollziehen, warum sie ihrer Trauer und ihrer Wut mit Demonstrationen Luft machten. Proteste gegen das Regime in der DDR, das Mauer und Todesschüsse zu verantworten hatte, und auch Proteste gegen die, die auf der Westseite untätig geblieben waren.

Warum hat keiner geholfen? Es gibt Erklärungsansätze. Sie erscheinen wie Ausreden. Wie viel ist ein Menschenleben wert? Welche Gefahr kann man in Kauf nehmen um es zu retten? Ist die mögliche Beeinträchtigung der politischen Großwetterlage wichtiger als das Leben eines Einzelnen? Die Fragen liegen brennend in der Luft. Sie sind so aktuell wie eh und je. Was tun angesichts der Verletzung von Menschenrechten in der Welt? Wie handeln? Auch das sind für Regierungen und Gesellschaften heute stets aktuelle Fragen.

Das Buch findet die historische Antwort darauf, in dem es Fechter treu bleibt. Es erzählt auch die Geschichte des Mahnmals von Peter Fechter, das durch die Jahrzehnte der Gewöhnung an die Mauer ein Zeuge der voranschreitenden Abstumpfung wurde.

Er passte nicht mehr in die Realpolitik

Irgendwann schien es sogar anachronistisch, des jungen Mannes zu gedenken, der die Mauer im Jahr 1962 nicht akzeptieren konnte. Er passte nicht mehr in die Realpolitik der Achtzigerjahre. Er stand der Anerkennung genau jenes Regimes im Wege, das seinen Tod organisiert hatte.

Und trotzdem fiel die Mauer. Im November 1989, 27 Jahre nach dem Tod Peter Fechters überquerte seine alte Mutter die Grenze nach West-Berlin. Und hatte doch nur einen Gedanken: Warum durfte Peter das nicht?

Zeit heilt nicht alle Wunden. Es bleibt eine Lücke im Stammbaum der Familie Fechter, eine Lücke die Generationen der Fechters überschattet. Peter, der Onkel, den die Nichten nie trafen. Peter, der Bruder, der nie im Westen ankam. Peter, der Sohn, der nie heiratete. Das Foto auf der Kommode, immer jung und voller Erwartung.

"Ich wollte nicht töten"

Acht Jahre nach dem Mauerfall sind mit Hilfe der Stasi-Unterlagen und Dokumenten anderer Archive die beiden Grenzsoldaten ausfindig gemacht, die damals am 17. August 1962 auf Fechter schossen. Vor Gericht erklärte einer der beiden Schützen auf Nachfrage: "Ich wollte nicht töten, aber ich kann es nicht mehr ändern. Es ist unfassbar." Er wollte nicht schießen und tat es doch.

Es reicht nicht zu hoffen, dass der Zufall an einem vorbeigeht. Jeder trägt die individuelle Verantwortung für sein Handeln, wie und an welcher Stelle er sich mit einem Unrechtssystem einlässt. Auch wenn es die Norm ist, scheinbar Pflicht, und wenn viele es tun.

Es waren Zehntausende von DDR-Bürgern die an der West-Grenze ihren Dienst als Soldat versahen. Meist waren es Wehrpflichtige. In der Regel wurde man bei der Musterung gefragt, ob man prinzipiell bereit sei, auf Grenzverletzer, das heißt auch, auf Flüchtlinge zu schießen. Und in der so genannten Vergatterung zum Postendienst hieß es: "Grenzverletzer sind festzunehmen beziehungsweise zu vernichten." Wer Dienst an der Grenze tat, wusste worauf er sich eingelassen hat. Er wusste, was zu tun ist im Ernstfall. Auch wenn die meisten jeden Tag hofften, dass er nicht eintritt.

Im Dienst einer Ideologie

Dieses neue Buch über Peter Fechter macht deutlich: Aufklärung kennt kein Ende. Es ist wichtig, weiter Antworten zu suchen. Darauf, warum Menschen sich bereit erklären, im Dienste einer Ideologie andere zu töten. Darauf, warum Menschen sich zum Töten bereit erklären, nur weil ein Regime das Verlassen des Landes zu einem kriminellen Akt erklärt und diejenigen, die es dennoch tun, zum Abschuss frei gibt.

Die Erinnerung an Peter Fechter lebt. Sie geht weit über das junge Leben des Bauarbeiters aus Ost-Berlin hinaus. Ein Buch über Peter Fechter? Ja, immer wieder, Es ist gut, dass es das Buch "Mord an der Mauer" gibt. Es ist gut sich zu erinnern.

Es ist gut immer wieder neu zu fragen, warum Peter Fechter starb.