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"Erinnerung als Kompass"

Ich freue mich sehr, heute hier bei Ihnen zu sein. Hierher zu kommen, in die Gedenkstätte Point Alpha, ist für mich jedes Mal etwas Besonderes.

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich anhöre wie früher der Opa, der immer sagte: "Kinder, Ihr wisst gar nicht was das heißt: Krieg!" – sage ich ganz bewusst: Hier am ehemaligen Todesstreifen werde ich jedes Mal daran erinnert, was das wirklich hieß: Deutsche Teilung. Meine Erinnerung wird hier lebendig. Ich fühle es immer noch, wie es war, als ich hinter dem Eisernen Vorhang lebte und die anderen davor. Und dann höre ich sie auch wieder, wie damals im West-Radio, die Nachrichten aus vergangenen Zeiten. Meldungen über den Tod von Menschen, die einfach nur von einem Teil Deutschlands in den anderen wollten.

Im Gespräch mit jungen Leuten merke ich, wie Sie sicherlich auch, dass die nicht mehr wissen, wie das war, in Deutschland mit einer Mauer und einer innerdeutschen Grenze zu leben. Schon das Wort wirkt heute befremdlich. Innerdeutsche Grenze.

Und so ist es für uns alle eine ganz dringende Herausforderung, an die Schrecken der Geschichte so zu erinnern, dass sie für die nachfolgenden Generationen lebendig bleiben. Diese Herausforderung heißt auch, die Erkenntnisse aus dem Schrecken unserer Vergangenheit den nachfolgenden Generationen so mitzugeben, dass sie einen Gewinn für ihr eigenes Leben haben. Und dass sie nicht abwinken, wenn die Alten von Früher erzählen.

Die Vergangenheit, auch und gerade die jüngste deutsche Vergangenheit, kann ein Kompass für das Leben heute sein. Sie kann ein Kompass sein. Doch das geschieht nicht automatisch.
Ich freue mich sehr hier an diesem Ort zu sein, gerade heute am Vorabend des Tages der Deutschen Einheit. Denn dieser Tag und dieser Ort bedeuten für mich nicht nur Erinnerung an das Leid der deutschen Teilung, sondern auch die Freude darüber, dass wir es geschafft haben sie zu überwinden.

Ich bin 1953 geboren und wie viele von Ihnen ein Zeitzeuge der Teilung. Wenn ich hier in Point Alpha bin, kann ich jedes Mal nur sagen: Ich bin richtig glücklich, dass wir heute alle hier sitzen. Dass der Todesstreifen ein Spazierweg ist. Dass die Beobachtungstürme Museen geworden sind. Dass Menschen einfach die Straßen von Thüringen nach Hessen befahren können, jederzeit, in jede Richtung, ganz so wie sie es wollen.

Diese Freude ist besonders - auch weil ich weiß, wie es früher war. Eine Grenze durch Deutschland gab es seit 1945. Und seit 1961 verstärkten Mauer und Stacheldraht die Trennung von Ost und West.

Und hier, am Point Alpha, wo sich die beiden Blöcke quasi direkt gegenüberstanden; wo sich Soldaten auf beiden Seiten täglich beobachteten und wohl in ihrer Mehrzahl hofften, dass sich der sogenannte Kalte Krieg nicht in einen bewaffneten Konflikt verwandelte - genau hier kann man immer noch spüren, was für ein Irrsinn einmal Alltag in Deutschland war.

Die Grenze, das ist hier zu besichtigen, war geostrategisch und militärisch gesehen ein Brennpunkt. Ein Brennpunkt an dem sich Demokratie und Diktatur gegenüberstanden. Diese Grenze war Unrecht. Und sie war vor allem ein Schnitt durch das Leben ungezählter Familien.

Diese Grenze war ein Monument der Verletzung von Menschenrechten. In Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl manifestierte sich die Unterdrückung von Freiheit und Selbstbestimmung in der DDR.

Wenn wir der Opfer der deutschen Teilung gedenken, so gedenken wir natürlich als erstes der hunderten von Todesopfern. Wir gedenken aber auch der zehn tausenden politischen Häftlinge in der DDR.

In großer Anzahl saßen Menschen im Gefängnis, weil sie Mauer und Stacheldraht überwinden und das Land verlassen wollten.

  • Ungesetzlicher Grenzübertritt
  • Republikflucht
  • Grenzprovokation
  • Grenzverletzung

Den DDR-Sicherheitsorganen ging der Jargon nicht aus, wenn sie beschrieben, was es für sie hieß, wenn jemand von seinem Menschenrecht auf Freizügigkeit Gebrauch machen wollte.
Und jeder der aufbegehrte gegen den Staat und seine Bevormundung, bekam das deutlich zu spüren.

  • Staatsfeindliche Hetze
  • Staatsfeindliche Verbindungen
  • Staatsverleumdung
  • Widerstand gegen staatliche Maßnahmen

Das waren Worte zu den Paragrafen des Strafgesetzbuches der DDR, die angewandt wurden, wenn jemand von seinem Recht auf Meinungsfreiheit oder Versammlungsfreiheit Gebrauch machte.

Ich freue mich deshalb sehr, dass Sie hier in der Point Alpha Akademie in diesem Jahr in Ihrer Arbeit einen besonderen Schwerpunkt mit einem besonderen Thema setzen: Der Freikauf politischer Häftlinge der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland.

Das wirft ein Licht auf die oft vergessenen Schicksale von Menschen, die durch Mauer und Stacheldraht, und deren Folgen aus der Bahn geworfen wurden.

Es ist ein historischer Zufall, einer von diesen Zufällen, die die Geschichte manchmal bereithält. Morgen an diesem 3. Oktober 2013 begehen wir zum 23. Mal den Tag der Deutschen Einheit.

Der 3. Oktober ist aber auch der 50. Jahrestag der ersten Freikäufe von politischen Häftlingen aus der DDR. Nicht mehr lange wird es dauern, bis die meisten Menschen das Wort "Freikauf" nicht wirklich mehr zuordnen können. Wie kann man dieses Wort denn auch verstehen ohne den Irrsinn der deutschen Teilung?

Einer dieser freigekauften politischen Häftlinge war Dietrich Gerloff. Genau vor 50 Jahren, am 3. Oktober 1963 wurde er freigekauft und damit aus der Haft entlassen. Seine Geschichte ist typisch und doch auch so spezifisch wie die Geschichten der Abertausend politischen Häftlinge.

Dietrich Gerloff war ein 25-jähriger Student, als er mit einer Gruppe der Jungen Gemeinde Berlin Urlaub an der Ostsee machte. Es war der August 1961. Erst wenige Tage zuvor war in Berlin die Mauer errichtet worden. Die jungen Leute hatten davon im Radio gehört und waren erschrocken darüber. Aber sie waren im Sommerurlaub. Die Tragweite des Ereignisses war ihnen nicht bewusst.

Zum Abschluss ihrer Urlaubszeit gönnten sie sich einen Ausflug auf dem Dampfer "Seebad Binz". Das Ziel: Richtung dänische Küste und wieder retour.

Die Stimmung an Bord war gut, bis der hohe Seegang den Kapitän zu frühzeitiger Rückkehr bewegte. Das fanden die Jugendlichen nicht gut, seekrank waren sie schließlich nicht. Ihre Bitte, den Dampfer doch wie geplant fahren zu lassen, wurde ihnen zum Verhängnis.

Sie hatten den Kapitän auf einem kleinen Notizzettel gebeten, doch noch weiter zu fahren. In jugendlichem Leichtsinn schrieben Sie: "Eure Majestät, Herr Kapitän, bitte wenden Sie nicht…"

Doch die Stimmung wenige Tage nach dem Mauerbau war angespannt. Und der Kapitän glaubte, sich im Sinne der herrschenden SED verhalten zu müssen und jede Unruhe im Staat zu unterdrücken.

Sie hätten das Schiff entführen wollen, warf er den jungen Leuten vor und funkte den Vorfall der angeblichen Entführung gleich an Land. Im Hafen dann wartete schon die Stasi und verhaftete die Gruppe.

Blind vor Eifer handelte der Staat und verurteilte die vermeintlichen Meuterer zu Haftstrafen von bis zu acht Jahren. Dietrich Gerloff war unter ihnen. Nach zwei Jahren, im Oktober 1963 wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen. Das Geld aus dem Westen befreite ihn aus dem Gefängnis, aber nicht aus der DDR.

Drei Jahre lang lebte er noch dort, bis er 1966 schließlich ausreisen durfte. Erst da wurde ihm klar, dass seine vorzeitige Haftentlassung und schließlich seine Ausreise in den Westen durch das Engagement und das Geld der Bundesrepublik bewirkt worden war.

"Dass einer an mich gedacht hat!"

Diesen Satz hat Walter Nuthmann gesagt, als er in jenem Oktober vor 50 Jahren als einer der ersten nicht nur aus dem Gefängnis entlassen wurde, sondern auch gleich ausreisen durfte. 13 Jahre hatte er da bereits zu Unrecht in verschiedenen Gefängnissen in der DDR verbracht. Er war 75 Jahre alt.

"Dass einer an mich gedacht hat!"

Dieser Satz wurde für viele politische Häftlinge zum Rettungsanker. Das Wissen um einen möglichen Freikauf hat dann über Jahrzehnte hinweg den vielen Häftlingen in Bautzen, Cottbus, Hoheneck und anderen Gefängnissen Kraft gegeben.

Es hat sie bestärkt durchzuhalten, weil jemand anerkennt, dass ihnen Unrecht angetan wird. Der Freikauf hat sie daran glauben lassen, dass es jemanden kümmert, dass ihre Menschenrechte verletzt wurden.

Auf vielfältige Art und Weise spielte der Freikauf im Häftlingsalltag eine Rolle. Es gab zum Beispiel ein Lied im Gefängnis Cottbus dazu, welches die Häftlinge sangen, um sich aufzumuntern.

Wir werden alle einmal gehen,
auch Du bist sicher mit dabei.
…. Und sitzen wir im Bus nach Giessen,
dann ist die Grenze nicht mehr weit,
dann wird so manche Träne fließen.
Es wurd' auch aller höchste Zeit.

Das Notaufnahmelager für Flüchtlinge im hessischen Gießen wurde für die politischen Häftlinge zum Synonym für den Weg in die Freiheit.
Ich erinnere mich daran, dass im Fernsehraum des Gefängnisses Cottbus einmal ein Bericht der "Aktuellen Kamera" im DDR-Fernsehen zur Arbeitslosigkeit im Westen lief. Und ausgerechnet die Stadt Gießen war das Beispiel.
Es brach ein ohrenbetäubender Jubel aus. Aus Dutzenden Kehlen schrie es minutenlang "Gießen, Gießen, Gießen".
Diese Hoffnung, auf das Frei kommen in den Westen, die konnte man uns nicht nehmen.

Der Häftlingsfreikauf wirft aber auch Fragen auf. War es richtig mit der DDR in dieser Form Geschäfte zu machen? Durfte man den SED-Staat mit Geld unterstützen? Lieferte man ihm damit, wenn auch nur in kleinem Umfang, einen Mosaikstein zu seiner Fortexistenz?

Fast 34.000 Häftlinge konnten von 1963 bis 1989 für rund 3,5 Milliarden D-Mark die Gefängnisse der DDR verlassen. Das Dilemma wird sich auch mit historischem Abstand nicht lösen lassen. Das Geld hat die Diktatur gestützt, aber es hat dem Einzelnen geholfen.

Einer dem es geholfen hat, ist Jörg Drieselmann. Der Thüringer war im Gefängnis in Cottbus inhaftiert. Am 13. August 1974, dem Jahrestag des Mauerbaus, war für die Stasi der Tag gekommen, an dem sie den damals 18-jährigen festnahm. Schon länger waren der Lehrling und seine Freunde den Staatsfunktionären ein Dorn im Auge.

Ein Staatsfeind sei er, schon seit einiger Zeit unter Beobachtung, weil er westliche Musik hörte, die Haare lang trug, gegen die Verhaftung und Abschiebung des russischen Schriftstellers und Systemkritikers Alexander Solschenizyn im Februar 1974 protestierte.

An jenem 13. August 1974 trug Drieselmann ein Plakat bei sich, auf dem er die Zahl der Toten an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer aufgeschrieben hatte. Nur die Fakten. So wie er sie am Abend zuvor im West-Fernsehen gesehen und mitgeschrieben hatte.

Die vielen Toten an der Mauer – sie trafen ihn besonders, weil sein Vater gerade gestorben war. Er stellte sich vor, wie viele andere Familien den Verlust eines geliebten Menschen ertragen mussten. Unmenschlich fand er dabei, dass das so war, weil der Staat sie an der Grenze umgebracht hatte.

Ein Arbeitskollege, nicht mal ein Mitarbeiter der Stasi, berichtete von Drieselmanns Mauertoten-Plakat. Diese Information landete dennoch schnell bei der Stasi. Endlich war ein Vorwand gefunden, ihn und seine Freunde in Haft zu nehmen. Ein halbes Jahr dauerte es, dann hatte die Stasi einen Dreh gefunden, die jungen Menschen zu verurteilen.

4 Jahre und drei Monate musste Jörg Drieselmann wegen "staatsfeindlicher Hetze" ins Gefängnis. Zwei Jahre und drei Monate saß er ab, nach der U-Haft in Erfurt kam er nach Cottbus. Im Herbst 1976 wurde auch er freigekauft.

Jörg Drieselmann, und da trifft sich Geschichte, Zeitzeugenschaft und historischer Ort, ist heute Leiter des Stasi-Museums in Berlin. Dort, wo einst Erich Mielke saß und die Repression von Menschen und die Unterdrückung von Menschenrechten organisierte und befehligte, wird heute genau darüber aufgeklärt. Für Jörg Drieselmann ist dies eine Lebensaufgabe geworden.

Er sagt: "Die Freiheit des Einzelnen ist immer bedroht – nicht nur in der Diktatur."

Aber gerade am Beispiel der Diktatur können wir besonders gut erkennen, was Unfreiheit bedeutet und wann Freiheit heute in Gefahr ist. Wir können daraus immer wieder Leitlinien und Maßstäbe für unsere Demokratie entwickeln.

Ich glaube, dass eine Kultur des Erinnerns ein wesentlicher Baustein für ein funktionierendes Miteinander in unserer Gesellschaft heute ist.

Und gerade zum Tag der Deutschen Einheit gilt es, sich zu erinnern. Einheit und Freiheit sind umso kostbarer, wenn wir uns vor Augen halten, was deutsche Teilung und Unfreiheit im Osten wirklich für die Menschen bedeutet haben.

Einheit und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeit. Für meine Generation sind die Erinnerungen noch greifbar. Es sind unsere eigenen Erfahrungen. Es sind unsere Erlebnisse, an die jeder von uns sich, egal ob in Ost oder in West, ein Leben lang erinnern kann. Doch für die Jüngeren sind es Geschichten aus einer anderen Zeit, wie aus einem fremden Land.

Wir können daher nicht selbstverständlich von den nächsten Generationen verlangen, dass sie Einheit und Freiheit den gleichen Stellenwert beimessen wie wir es tun. Aber wir können ihnen von dem erzählen was damals passiert ist. Wir können Ihnen zeigen, wie es war. Wie Menschen in Deutschland in Unfreiheit lebten, auch ganz konkret in ihrem Alltag.

Was hat es bedeutet, dass ein ganzes Volk eingemauert war; dass die Freiheit der Reise, der Rede, der Versammlung unterdrückt war? Und wie hat sich das im Alltag gezeigt? Und in welchen Situationen haben sich Menschen wie entschieden?

In Form scheinbar unwichtiger Rituale wurde den Menschen im Alltag der DDR immer wieder das Bekenntnis zu den Herrschenden und deren Ideologie abgezwungen. Hier liegt ein Schlüssel für das Funktionieren der Diktatur.
"Ist es verwerflich, dass mein Opa die DDR-Fahne vor seinem Haus aufgehängt hatte, nur weil er wollte, dass meine Mutter studieren durfte?" Das hat mich zum Beispiel vor kurzem eine Erfurter Schülerin gefragt. Ich war überrascht und beeindruckt. Mit ihren 16 Jahren hatte sie genau den Finger auf die Wunde gelegt.

War das verwerflich? Was sagen Sie? Was ist noch okay, in der Anpassung an die Verhältnisse? Wo ist Schluss? Wo geht man zu weit?
Einfache Wahrheiten gibt es nicht.
Anpassen oder widersprechen. Mitmachen oder verweigern. Wer verhält sich wie in welcher Situation?

Was ist mit dem jungen Abiturienten, der eingezogen wurde zum Wehrdienst, befehligt zu den Grenztruppen an der Staatsgrenze West? Arzt wollte er später werden, wie sein Vater. Hätte er den Wehrdienst verweigern sollen? Verweigern und damit sein Medizinstudium verspielen. Die Karriere seines Vaters gefährden? Es wird schon nicht so schlimm werden, die Zeit als Grenzsoldat, das war die Hoffnung.

Und es ist gut gegangen, das war die Bestätigung für den gegangenen Weg. Glück gehabt. Kein Flüchtling hatte sich den Grenzabschnitt ausgesucht, in dem der Abiturient Posten stand. Seine Bereitschaft zum Schießen, seine Bereitschaft zum Töten, sie wurde im Ernstfall nicht geprüft.

Den Ernstfall haben hunderte andere erfahren, den Ernstfall, dass ein Flüchtling und ein Grenzsoldat aufeinandertrafen. Der eine hat geschossen, der andere war am Ende tot.

Reicht es, zu hoffen, dass der Flüchtling einen anderen Weg geht? Reicht es, zu hoffen, dass der Zufall an einem vorbeigeht?

Jeder trägt die individuelle Verantwortung für sein Handeln, wie und an welcher Stelle er sich mit einem Unrechtssystem einlässt. Selbst wenn es die Norm ist, scheinbar Pflicht, und wenn viele es tun.

Warum haben so viele mitgemacht? Warum haben sich so viele Menschen angepasst? Warum hat das System der Diktatur solange funktioniert?

Wir sind den nächsten Generationen in ganz Deutschland bis heute viele Antworten schuldig geblieben. Es ist wichtig, weiter Antworten zu suchen. Warum sind Menschen zum Töten bereit, nur weil ein Regime das Verlassen des Landes zu einem kriminellen Akt erklärt und diejenigen, die es dennoch tun, zum Abschuss frei gibt?
Warum sind Menschen bereit zu töten im Namen einer Ideologie?
Es geht um grundsätzliche Werte. Es geht um individuelle Verantwortung für das eigene Handeln.

Es geht nicht um Abrechnung. Es geht um Aufklärung.

Um Aufklärung darüber wer, wie, warum gehandelt hat, und welche Folgen das für andere Menschen hatte.

Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten.

Es geht um die Aufarbeitung der Vergangenheit, damit wir gemeinsam besser Zukunft gestalten können. Und dabei geht es nicht nur um die ostdeutsche Vergangenheit, sondern um Aufarbeitung gesamtdeutscher Geschichte.

Es sind die Geschichten von Menschen, die die Kraft haben, diese Erinnerung lebendig zu halten. Ganz besonders auch für die, die Teilung nicht mehr erlebt haben. Wenn Jugendliche die Geschichten der Menschen an Orten erfahren, an denen sie geschehen sind, dann beeindruckt das besonders. Das Geschehene ist mit einem Mal für sie real. Es gibt keine Ausflüchte mehr. Die Erkenntnis lässt sich nicht wegdrücken. Die Begegnung mit der Geschichte am authentischen Ort ist ein kraftvoller Überzeuger.

Wir brauchen authentische Orte als Orte der Aufklärung. Der Todesstreifen hier am Point Alpha, die letzten Reste der Mauer in Berlin, das Archiv der Stasi mit den Unmengen an Akten, die ehemaligen Gefängnisse der DDR - sie können helfen, Geschichte eindrucksvoll zu vermitteln.

Aus einigen DDR-Gefängnissen sind inzwischen Gedenkstätten geworden. Häftlinge aus Cottbus haben ihr eigenes Gefängnis gekauft. Sie haben dort ein "Zentrum für Menschenrechte" eingerichtet. Den Namen Zentrum für Menschenrechte verstehen die Ex-Häftlinge als Anspruch und Ziel für ihre Arbeit mit Ausstellungen und Veranstaltungen.

Weil sie für Menschenrechte eintraten, wurden sie damals in der DDR eingesperrt. Für Menschenrechte stehen sie auch heute. Sie wollen nicht gefangen sein im Leid der Vergangenheit, sondern sie wollen einen Lernort für die Zukunft schaffen.

Orte der Diktatur, die Schrecken verbreitet haben, zu Lernorten für Demokratie zu machen, ist für mich ein wichtiges Signal auch dafür, dass Diktatur überwindbar ist.

Wie genau wir das in Deutschland gemacht haben, das ist auch ein internationales Modell geworden. In den letzten zwei Jahren ist beispielsweise ein Besuch bei der Stasi-Unterlagen-Behörde in Berlin eine wichtige Station für viele Vertreter der Demokratie-Bewegungen aus den arabischen Ländern geworden. Im Archiv der Stasi, umgeben von Tausenden von Akten, wollen sie wissen, wie die Ostdeutschen den Weg in die Demokratie geschafft haben und wie wir Deutschen heute die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur gestalten.

Die Stasi-Unterlagen geben der Aufarbeitung in Deutschland ein wichtiges und tragfähiges Fundament. Die ehemals geheimen Dokumente der Staatssicherheit zeigen uns die Mechanismen der Diktatur, sie geben uns Einblick in die Mentalität und Vorgehensweise der hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter.

Die Akten der Stasi zeugen von Repression, von Angst, von Unterwerfung, aber auch von Eigensinn und Widerstehen. Ihr vielfach biografischer Gehalt lässt aus trockenem Papier ein lebendiges Zeugnis werden, eine Brücke zwischen der Vergangenheit und unserer Gegenwart.

Diese Akten am authentischen Ort zu sehen und im ehemaligen Dienstsitz von Stasi-Minister Erich Mielke ins Stasi-Museum zu gehen – das ist spürbare Aufarbeitung. In der Verknüpfung an diesem authentischen Ort entfalten die Akten allein angesichts ihrer schieren Menge auch eine Wirkung über die Inhalte hinaus. Die Akten sind ein Monument der Überwachung und Repression.

Zusammen mit dem Bürgerverein ASTAK entwickeln wir eine Dauerausstellung am Ort der Schreibtischtäter. Ausstellung, Archiv und historischer Ort bilden ein einzigartiges Ensemble für die Frage nach dem Funktionieren eines Repressionsapparates.

Dieser Ort der Repression ist in doppelter Hinsicht ein authentischer Ort. Er ist ein Ort von dem aus der Repressionsapparat der SED-Diktatur gesteuert wurde. Aber er ist auch ein Ort der Friedlichen Revolution in der DDR. Hier wurde im Januar 1990 die Zentrale der Stasi besetzt und die Nutzung der Akten der Geheimpolizei für die Aufarbeitung möglich gemacht.

Es freut mich deshalb besonders, dass die Robert-Havemann-Gesellschaft in Berlin mit Hilfe ihres Archivs der DDR-Opposition hier am Ort der Erstürmung der Stasi eine Ausstellung der Friedlichen Revolution auf dem Weg zur Deutschen Einheit zeigen will.

Im Herbst 1989 fanden die Menschen in der DDR den Mut, auf die Straße zu gehen. Ihr Ziel war Freiheit und Demokratie. Sie waren es, die mit ihrem friedlichen Protest die Diktatur zu Fall brachten. An sie denke ich am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit.

Denn die Geschichte der deutschen Teilung ist immer auch eine Geschichte der Freiheit. Eine Freiheit, die die Menschen selbst errungen haben.

Das sollten wir feiern.