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"Was uns in Deutschland noch fehlt: Ein Ort, der umfassend würdigt, wie mit Courage die Freiheit errungen wurde."

Sehr geehrte Frau Ministerin Puttrich,
sehr geehrte Frau Staatsministerin Kühne-Hormann,
sehr geehrte Abgeordnete,
sehr geehrte Damen und Herren,

danke für Ihre  Einladung  zum hessischen Europa-Empfang. Danke, dass Sie das Motto Freiheit und Courage gewählt haben. Und danke, dass Sie diesen Abend hier in Kassel dem  Mauerfall vor 30 Jahren gewidmet haben.

Es ist für mich eine besondere Gelegenheit heute zu Ihnen zu sprechen und dabei einen Bogen zu spannen, von dem was vor 1989 im geteilten Europa war und dem was das für unser Zusammenleben im heutigen Europa bedeutet.

Was bedeuten uns Freiheit und Courage in Europa?
Für mich steht das unter dem Titel "Freiheit und Demokratie sind nicht selbstverständlich".

Nicht von ungefähr glaube ich, dass wir Antworten auf die heutigen Fragen auch in der Zeit finden, in der Europa geteilt war. In der vor allem auch Deutschland geteilt war. Die Zeit vor dem November 1989.

Die Wunden, die diese Teilung gerissen hat, sie beschäftigen uns auch heute noch. Die Geschichte jener Zeit ist aber auch eine Inspiration für unsere Gesellschaft  heute. Denn sie ist auch eine Geschichte von Menschen, die mutig genug waren, gegen Unfreiheit aufzustehen. Menschen die Courage gezeigt haben.

"Für ein off‘nes Land mit freien Menschen" – diese Losung stand auf einem Plakat, das zwei junge Frauen vor 30 Jahren, am 4. September 1989, in Leipzig auf der Straße hochhielten.

Als ich dies damals im Fernsehen der ARD sah – nur für wenige Sekunden, weil zwei Stasi-Mitarbeiter das Transparent den Frauen aus den Händen rissen – da wusste ich, es ist bald vorbei mit der DDR.

Auf dem Fernsehschirm hatte ich eine neue Generation gesehen, die angstfrei gegen die Staatsmacht demonstrierte. Einen Monat später waren 70.000 Menschen in Leipzig auf der Straße. Die Diktatur war am Ende.

Im November dann fiel die Mauer, ein Symbol, denn sie war das in Beton gegossene Unrecht. Und: Ein Jahr später war die DDR verschwunden. Seit nun 29 Jahren leben wir gemeinsam in einem offenen Land, als freie Menschen.

Die Losung der jungen Frauen von 1989 in Leipzig ist mir nicht zufällig so lebendig im Gedächtnis geblieben. Sie war ein klares Ziel gegen die Unterdrückung und Bevormundung der Menschen. Sie war der Wunsch nach Selbstbestimmung und Rechtstaatlichkeit, und dieser zählt in allen Zeiten.

Auch wenn die Umstände fundamental andere waren, viele  Fragen von 1989 sind so anders nicht, als die, die uns heute und hier beschäftigen:

Welche Gesellschaft wollen wir und für welche Werte stehen wir?
Der Blick in die Vergangenheit unserer Geschichte kann die Sinne schärfen, für die Werte, die wir heute und hier leben wollen.

Insofern kann die Vergangenheit auch Mahnung sein, eine Erinnerung daran, wie unter bestimmten Bedingungen unsere Werte auf der Strecke bleiben. Wie schnell Menschen ihre Freiheit verlieren können.

Im Gespräch mit jungen Leuten merke ich, dass sie sich nicht wirklich vorstellen können, dass wir in Deutschland mit einer Mauer, einem Schießbefehl und einer innerdeutschen Grenze gelebt haben, ja dass das grenzenlose Europa einst geteilt war.

Schon die Worte wirken heute befremdlich. Innerdeutsche Grenze. Oder: Der Eiserne Vorhang.

Und so ist es für uns alle eine ganz dringende Herausforderung, an die Schrecken der Geschichte, an das was Menschen einander antun können, so zu erinnern, dass es für die nachfolgenden Generationen lebendig bleibt und sie für sich eine Antwort finden können auf die Frage "Was geht mich das an?"

Diese Herausforderung heißt auch, die Erkenntnisse aus dem Schrecken unserer Vergangenheit den nachfolgenden Generationen so mitzugeben, dass sie einen Gewinn für ihr eigenes Leben haben.

Darin liegt der Sinn der Erinnerung, denn Freiheit und Menschenrechte sind nicht selbstverständlich. Ihren Wert zu erkennen und zu bewahren, ist aktive Arbeit.

Erinnerung kann ein Kompass für das Leben heute sein.

Sie kann ein Kompass sein.
Doch das geschieht nicht automatisch. Wir sind alle immer herausgefordert, den Dialog über diese Werte zu suchen.

Freiheit und Demokratie sind umso kostbarer, wenn wir uns vor Augen halten, was Teilung und Unfreiheit in Deutschland und in Europa wirklich für die Menschen bedeutet haben.

Was hat es bedeutet, dass ein ganzes Volk eingemauert war; dass die Freiheit der Reise, der Meinung, der Presse, der Versammlung unterdrückt war? Und wie hat sich das im Alltag gezeigt? Und in welchen Situationen haben sich Menschen wie entschieden?

Mitmachen oder verweigern, anpassen oder widersprechen. Das sind Fragen vor denen viele Menschen in der DDR und auch in den anderen kommunistischen Regimen in Ost-Europa fast täglich standen.

Alle mussten ihren Weg in der Diktatur finden. Es gibt viele Geschichten. Und jede ist eine ganz persönliche, die Geschichte eines Lebens.
Auch ich habe fast 30 Jahre in der DDR gelebt, eine Zeit, die man nicht so einfach abstreift, Erlebnisse immer noch präsent sind.

Ich erinnere mich an den November 1976. Da war ich Student der Wirtschaftswissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena.

Im Seminar "Wissenschaftlicher Kommunismus" übte ich Kritik an der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann, die kurz zuvor erfolgt war.

Was ich nicht wusste, der Seminarleiter war Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Er erstattete Bericht.

Die Folge: Gegen mich begann ein Kesseltreiben betrieben von Funktionären der SED und der Staatssicherheit.

Die Universitätsleitung beschloss, mich auf Grund meiner Meinungsäußerung wegen "Gröblicher Verletzung der Studiendisziplin" zu exmatrikulieren.

Damit dieser Akt demokratisch legitimiert erscheint wurde eine Abstimmung in der Seminargruppe anberaumt. Am Abend vor der Abstimmung saß ich mit meinen Freunden aus dem Seminar in einer Kneipe. Wir tranken Bier und diskutierten.

Sie klopften mir auf die Schulter und sagten: "Roland das wird schon. Roland wir stehen zu dir." Am nächsten Tag, keine 20 Stunden später, dann die Abstimmung.

Das Ergebnis: 13:1 -- gegen mich.

Das Ende meines Studiums war besiegelt. Nach der Abstimmung kamen meine Kommilitonen einzeln zu mir. "Du musst verstehen, Roland, meine Frau bekommt ihr zweites Kind. Ich kann nichts riskieren." Sagte einer. "Es tut mir leid, aber mein Vater ist in herausgehobener Position. Ich kann ihn doch nicht gefährden." Sagte ein anderer.

Ich habe sie verstanden, ihre Zwänge und warum sie sich gegen mich entschieden hatten. Und war dennoch enttäuscht. Ich fühlte mich verraten. In den Stasi-Akten konnte ich später lesen, wie genau SED, Universitätsleitung und Staatssicherheit meinen Rauswurf aus der Uni organisiert hatten. 

36 Jahre nach diesem Rauswurf kam einer meiner Kommilitonen von damals auf mich zu und bat mich um Entschuldigung. 36 Jahre lang habe er die Last mit sich herumgetragen. Jetzt wolle er sich und mir eingestehen: Er habe einfach aus Angst gegen mich gestimmt.

Offiziere der Stasi hatten jeden einzelnen Studenten vor der Abstimmung in die Mangel genommen und jedem mit Konsequenzen gedroht.

Courage zeigen, Widersprechen, nein sagen, das war eben nicht so einfach in der DDR.  Der einfache Akt, sich einem Kommilitonen, einem Kollegen, einem Freund gegenüber solidarisch zu verhalten, er wurde zu einer Bedrohung.

Man konnte nicht berechnen, was die Verweigerung des Verlangten für Folgen hatte, Folgen für einen selbst, Folgen für die Familie. Willkür, Sippenverfolgung, das System der Angst. Dem konnte man sich nicht einfach entziehen.

Das System wirkte wie ein Gift. Dieses schleichende Gift der Unfreiheit ist über Generationen geträufelt worden. Und es hatte langanhaltende Wirkung für das Handeln der Menschen.

Die fehlende Möglichkeit, sein Recht mit rechtsstaatlichen Mitteln einzufordern.
Die Angst vor Konsequenzen, die Gefahr der Beschädigung des eigenen Lebenswegs, die Sorge um die Familie. Die Gewöhnung an die Anpassung.
Das war Alltag in der Diktatur.

Das tägliche Leben war geprägt von Bekenntnissen zum Staat und zur Partei, die die Menschen oft gegen ihre Überzeugung abgegeben haben. Es war ein Doppelleben, mit privater und offizieller Meinung.
Und so wurden viele zu Stützen des Systems, selbst gegen ihren Willen. Einfach nur, um in Ruhe ihr Leben zu leben.

Symptomatisch dafür stehen die Wahlen, die in 40 Jahren DDR nichts anderes waren als ein abgefordertes Bekenntnis zum politischen System des Sozialismus.
Und mit Ergebnissen von regelmäßig über 99 % Zustimmung für die vorgegebenen Kandidaten funktionierte es.

Und doch. Immer wieder hat es mutige Menschen gegeben, die sich diesem Arrangement entzogen, die ihrem eigenen moralischen Kompass gefolgt sind.

Die Geschichte des Widerspruchs und des Widerstandes in der DDR, sie hat viele unbekannte Helden. Nicht nur in der Revolution 1989.

Ich möchte Ihnen vier Geschichten aus den vier Jahrzehnten der DDR erzählen. Sie spielen in meiner Heimat Thüringen, direkt hier in der Nachbarschaft zu Hessen.
Sie alle sind eine Inspiration für Courage und Freiheit. Aber sie stehen auch für den Preis, den man dafür in der DDR zahlen musste.

Norbert Sommer aus Sonderhausen. Mit Gründung der DDR wurde er 1949 Schüler der Oberschule "Geschwister Scholl". Inspiriert vom Aufbegehren der Geschwister Scholl gegen das Nationalsozialistische Regime wollte er das Handeln der stalinistischen SED kritisieren. Er schloss sich einer Gruppe gleichgesinnter Schüler an.

Sie entwarfen Flugblätter, die sie in Sondershausen verteilten. Auf ihnen standen Losungen wie "Freiheit der Ostzone!" oder "Feindschaft dem Stalinismus!" oder einfach nur der Buchstabe "F".

Dieser Buchstabe F stand für Freiheit. Er war in jener Zeit ein Symbol des Widerstandes gegen die SED-Diktatur. Die jungen Männer wollten die Bevölkerung zum Nachdenken bringen.

Im Frühjahr 1951 stellten sie ihre Proteste ein. Sie hatten das Gefühl, dass die Menschen zu eingeschüchtert waren, um aktiv zu werden. Sie machten ihr Abitur und begannen zu studieren.

Doch im September 1952, ein Jahr später, holte diese Geschichte Norbert Sommer ein. Er wurde mit fünf anderen von der Stasi verhaftet. Die Stasi hatte nicht geruht, die Urheber der Flugblätter zu finden und der Verrat eines zuvor festgenommenen Angehörigen der Gruppe verhalf der Geheimpolizei der SED zum Zugriff.

Zu sieben Jahren Zuchthaus wurde Norbert Sommer im Januar 1953 vom Bezirksgericht Erfurt verurteilt.
1956 wurde er mit Bewährungsauflagen entlassen. Da war er 24 Jahre alt. Vier Jahre saß er insgesamt in Haft für das Recht auf Meinungsfreiheit.

Den Mut, den Norbert Sommer bei der Bevölkerung vermisste, den brachten im Juni 1953 dann doch Hunderttausende auf, als sie im Volksaufstand gegen das SED-Regime demonstrierten. Sie protestierten gegen die Bevormundung durch die SED und verlangten ihre Rechte: Meinungsfreiheit, Wahlfreiheit, Reisefreiheit, Versammlungsfreiheit.

Stattdessen rollten sowjetische Panzer den Aufstand nieder und Dutzende wurden zur abschreckenden Wirkung in Schnellverfahren hingerichtet. Hunderte landeten in DDR-Gefängnissen oder in sowjetischen Arbeitslagern. Ein Volk wurde traumatisiert.

Das Jahr 1953 warf einen langen Schatten. Die Menschen waren eingeschüchtert. Viele resignierten und verließen ihre Heimat Richtung Westen.
Und weil es zu viele wurden die flüchteten, entschloss sich die SED zu einem drastischen Mittel.

Die Bevölkerung der DDR wurde eingesperrt. Am 13. August 1961 wurde die Mauer quer durch Berlin gebaut und die innerdeutsche Grenze mit Stacheldraht und Schießbefehl gesichert.

Die Macht der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED, sie wurde zementiert und für unangreifbar erklärt. Und 1968 wurde sogar die Verfassung geändert und die führende Rolle der Staatspartei darin verankert.

Als im Frühjahr desselben Jahres in der CSSR  der Versuch eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz startete, blühte vielerorts in der DDR eine zarte Pflanze der Hoffnung auf. So auch bei auch bei Volker Stärker aus Weimar. Doch Panzer der osteuropäischen Staaten des Warschauer Paktes zerstörten den Traum.

Volker Stärker wurde einen Monat nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im September 1968 verhaftet. Er war gerade mal 17 Jahre alt. Volker Stärker wuchs in einem systemnahen Elternhaus auf. Sein Vater war Schuldirektor und SED-Mitglied. Seinen drei Söhnen verbot er den Empfang westdeutscher Radio- und Fernsehsender. Sozialistische Erziehung funktionierte eben besser, wenn andere Meinungen außen vor blieben.

Doch Volker ließ sich nicht so einfach eintakten. Vieles im Schulalltag missfiel ihm: Die vormilitärische Ausbildung, die erzwungene Mitgliedschaft in der Freien Deutschen Jugend, der FDJ, das Blauhemden tragen.

In seinen Stasi-Unterlagen findet sich ein Brief, den er kurz nach der Niederschlagung des Prager Frühlings an seinen tschechischen Freund Jiri schrieb. Darin äußerte er sich schockiert über den Einmarsch sowjetischer Soldaten.

Diese Zeilen hat Juri jedoch nie erhalten. Die tschechische Geheimpolizei fing den Brief ab und übergab ihn der Stasi.

Auch wenn Volker Stärker vorsichtig genug war, seinen Nachnamen zu vermeiden, wurde er doch identifiziert und festgenommen. Seine Vernehmung, ebenfalls im Stasi-Unterlagen-Archiv dokumentiert, ist ein Plädoyer für eine offenere DDR. Er spricht sich für Meinungs- und Pressefreiheit aus sowie für unbeschränkte Ausreisemöglichkeiten.
Nach vier Monaten U-Haft bei der Stasi in Erfurt wurde er Anfang 1969 zu einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung verurteilt. In die Schule durfte er nicht mehr zurück. Er musste sich in der Produktion bewähren.

Mindestens so wichtig wie den ungehörigen jungen Mann zu bestrafen, war es für die SED, sein Schicksal in der Schule bekannt zu machen. Dort fanden Versammlungen statt, auf denen ein öffentliches Bekenntnis der Lehrer und Schüler gegen Volker Stärker verlangt wurde.
Wie aber kann ein Brief an einen Freund in Prag eine Gefährdung der Gesellschaftsordnung darstellen? Diejenigen, die darauf eine Antwort geben könnten, haben dazu geschwiegen.

Aber es waren viele in diesen Fall verwickelt: Stasi-Vernehmer, Post-Kontrolleure, Polizisten, Lehrer, der Vater, die Mitschüler. Ihr Anteil, ihre Zustimmung und ihr Schweigen haben es möglich gemacht, dass Menschen, wenn sie ihr Recht auf Meinungsfreiheit wahrnehmen wollten, im Gefängnis landeten.

Es hatte System, dass immer wieder vor allem junge Menschen ins Visier der Staatsmacht gerieten.

So wie auch Jörg Drieselmann aus Erfurt.
Am 13. August 1974, dem Jahrestag des Mauerbaus, nahm die Stasi den 18-jährigen in Erfurt fest. Schon länger waren der Lehrling und seine Freunde den Staatsfunktionären ein Dorn im Auge. Ein Staatsfeind sei er, schon seit einiger Zeit unter Beobachtung, weil er westliche Musik hörte, die Haare lang trug.

An jenem 13. August 1974 trug Drieselmann ein Plakat bei sich, auf dem er die Zahl der Toten an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer aufgeschrieben hatte. Nur die Fakten. So wie er sie am Abend zuvor im West-Fernsehen gesehen und mitgeschrieben hatte.

Die vielen Toten an der Mauer – sie trafen ihn besonders, weil sein Vater gerade gestorben war. Er stellte sich vor, wie viele andere Familien den Verlust eines geliebten Menschen ertragen mussten. Besonders unmenschlich fand er dabei, dass das so war, weil der Staat sie an der Grenze umgebracht hatte.

Ein Arbeitskollege, nicht mal ein Mitarbeiter der Stasi, berichtete von Drieselmanns Mauertoten-Plakat. Diese Information landete schnell bei der Stasi.
Endlich war ein Vorwand gefunden, ihn und seine Freunde in Haft zu nehmen.
Ein halbes Jahr dauerte es, dann hatte die Stasi einen Dreh gefunden, die jungen Menschen zu verurteilen. Vier Jahre und drei Monate musste Jörg Drieselmann wegen "staatsfeindlicher Hetze“ ins Gefängnis.

Zwei Jahre und drei Monate saß er ab, nach der U-Haft in Erfurt kam er ins Gefängnis nach Cottbus. Im Herbst 1976 wurde er von der Bundesrepublik in den Westen freigekauft. Die SED bekämpfte ihre Kritiker mit allen Mitteln und doch konnte sie den Drang nach Freiheit nie ausmerzen.

Der Preis aber war hoch, den jeder einzelne dafür zahlte, der es wagte, seiner inneren Stimme zu folgen.

Dem jungen Thomas Kretschmer aus Jena brachte der Wunsch nach Reisefreiheit eine erste heftige Begegnung mit der Staatsmacht ein. Nach einem missglückten Versuch, in die Bundesrepublik zu fliehen, verbrachte er 15 Monate in Jugendhaft.

Sein Engagement für eine friedfertige Welt ließ ihn weiter in Konflikt mit den Machthabern geraten. Er verweigerte den Wehrdienst mit der Waffe und wurde Bausoldat. In der DDR der frühen 80er Jahre drängte es ihn nach Aufbruch, einen Aufbruch wie er ihn im Nachbarland Polen sah. "Lernt Polnisch" – Diesen Spruch druckte er 1981 auf Karten und Stoff und verteilte ihn unter Bekannten.

Die Solidarnosc-Bewegung in Polen inspirierte ihn wie viele andere in der DDR auch. Dass sich weit über eine Million Menschen außerhalb der kommunistischen Partei zu einer Gewerkschaft formierten und das Monopol der kommunistischen Partei unterliefen, das war ein enormes Hoffnungszeichen.

"Lernt Polnisch". Das war ein Aufruf, sich gemeinsam gegen die kommunistische Repression zu wehren. Es war der Wunsch, sich wie die Menschen in Polen gegen die Unterdrückung zu vereinen und die Verhältnisse zu verändern.

Doch für seinen Satz "Lernt Polnisch" und für dessen Verbreitung musste er erneut ins Gefängnis. Vier Jahre und vier Monate saß Thomas Kretschmer wegen "mehrfacher öffentlicher Herabwürdigung und Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit" in Haft.

Vier Helden aus vier Jahrzehnten. Sie und viele andere haben den Weg bereitet für die Friedliche Revolution.
Ihr Mut, Ihre Taten, sie legten den Pfad für den Herbst 1989.

Und dazu gehören auch die Aufständigen von 1953.
Die politischen Gefangenen von Bautzen, Cottbus, Brandenburg und Hoheneck. Die Toten an der Mauer.

Und dazu gehört aber auch die Inspiration der Solidarnosc aus Polen, der Charta 77 aus der Tschechoslowakei, der ungarischen Bürgerrechtler. Auch ihr Geist wehte im Herbst 1989 auf den Straßen von Leipzig, Dresden und Ost-Berlin.

Ja, es muss immer wieder betont werden. Freiheit und Demokratie in Osteuropa sind kein Geschenk aus dem Westen sondern sie sind Errungenschaften durch die Selbstbefreiung der Menschen.

Es waren Ostdeutsche, die die Selbstbefreiung von der Diktatur als ein Geschenk an die gemeinsame Zukunft Deutschlands mitgebracht haben.

Viel zu oft geht diese großartige historische Leistung von Ostdeutschen, die erfolgreiche friedliche Revolution, im Lamentieren über die Schwierigkeiten des Vereinigungsprozesses unter.

Jeder Einzelne, der dabei war, auch diejenigen die erst spät ausgebrochen sind, aus dem System der Anpassung, verdienen eine besondere Anerkennung.

Und selbst die, die sich damit schwer taten, haben es verdient, dass ihre Lebensgeschichte gehört wird. Denn das Leben in der Diktatur hinterlässt Spuren. Und es ist nicht leicht, die eigene Rolle in so einem System ehrlich anzuschauen.
Dass es viele Menschen geschafft haben, ihre Angst zu überwinden, das war die Grundlage für die Friedliche Revolution.

Menschen im Osten Deutschlands haben mit ihrem Handeln den Mauerfall bewirkt und damit die Deutsche Einheit möglich gemacht. Darauf können sie stolz sein und haben allen Grund selbstbewusst durchs Leben gehen.

Die DDR erlebt und überlebt zu haben ist eine Erfahrung, die helfen kann, die Freiheit in der heutigen Gesellschaft zu definieren. Und: Diese Chance haben auch die nächsten Generationen, wenn sie sich mit der Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern beschäftigen.

Die Vergangenheit ist kein Gefängnis, sie ist Chance für neue Erkenntnis. Nicht nur für die, die die DDR erlebt haben, sondern für uns alle im nun vereinten Deutschland. Es ist unsere gemeinsame deutsche Geschichte.
Erkennen, wie im Detail die zweite deutsche Diktatur funktioniert hat, das kann helfen Demokratie zu gestalten.

Erkennen, was genau es heißt, wenn Menschenrechte verletzt und missachtet werden, heißt sie in der heutigen Gesellschaft besonders zu schätzen und zu schützen. Dafür braucht es Zeugnisse. Dokumente und Zeitzeugen, authentische Gegenstände und erlebbare Orte.

Die letzten Reste der Mauer in Berlin, die ehemaligen Gefängnisse in Bautzen, Hoheneck und Chemnitz. Oder das Stasi-Unterlagen-Archiv mit den Unmengen an Akten - sie können helfen, Geschichte eindrucksvoll zu vermitteln.

Aber auch hier in Hessen gibt es in diesem Zusammenhang historisch bedeutsame Orte: Point Alpha, den heißesten Ort des Kalten Krieges oder das Aufnahmelager Gießen, das Tor zur Freiheit.

Die Orte der Diktatur und ihrer Folgen, zu Lernorten für Demokratie zu machen, das ist für mich ein wichtiges Signal. Ein Signal dafür, dass Diktatur überwindbar ist. Und dass wir uns immer wieder für die Freiheit und Demokratie einsetzen sollten.

Die vier Geschichten aus vier Jahrzehnten - sie machen für mich deutlich, was uns in Deutschland noch fehlt: Ein Ort, der umfassend würdigt, wie mit Courage die Freiheit errungen wurde.
Wir haben bis heute keine zentrale Ausstellung über Opposition und Widerstand im Osten Deutschlands von 1945 bis 1989.

Dabei gibt es dafür in Europa sogar schon Vorbilder. In Danzig steht das europäische Zentrum "Solidarnosc". Hier wird die polnische Freiheitsgeschichte im europäischen Kontext erzählt. Für mich ist das eine Vorbild für Deutschland.

Was hindert uns in Deutschland daran, dies zu tun? Was hindert Politiker daran Geld bereitzustellen. Es wäre eine Investition in die nächste Generation. Es wäre eine Investition in die Zukunft der Demokratie.

Wir sollten stolz sein auf diese Freiheits- und Demokratiegeschichte. Wir sollten sie Europa und der Welt zeigen.

Sich der Werte, die wir leben wollen, auch angesichts unserer Geschichte – der guten wie der schlechten Teile – immer wieder zu vergewissern, das ist für Freiheit und Demokratie unerlässlich.

Insofern ist für mich, die Losung der eingangs beschrieben Leipziger Frauen aus dem September 89, "Für ein off‘nes Land mit freien Menschen" immer noch ein guter Kompass, gerade auch für unser Zusammenleben im gemeinsamen Deutschland, im gemeinsamen Europa.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.