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Zuschautribünen an der Rennstrecke des Automodroms Brünn.

Aktion "Cross"

Motorsport begeisterte die Ostdeutschen. Dies blieb auch der Fall, als die SED-Machthaber große internationale Rennen in der DDR verboten. Daraufhin entwickelte sich der traditionsreiche Rennkurs bei Brünn, in der damaligen Tschechoslowakei, zum wichtigsten Anziehungspunkt für Motorsportfans aus der DDR. Die Stasi beäugte diese Entwicklung misstrauisch. Vor den jeweiligen Wettkämpfen erarbeitete sie detaillierte Maßnahmepläne, die unter dem Aktionsnamen "Cross" firmierten.

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"Konsequentes und koordiniertes Vorgehen"

In einem Maßnahmeplan waren die Aufgaben der involvierten Stasi-Abteilungen formuliert und die Zusammenarbeit mit staatlichen sowie gesellschaftlichen Institutionen der DDR geregelt. Die Planungen der MfS-Bezirksverwaltung Suhl sahen vor: Die Abteilung VI (Passkontrolle, Tourismus, Reiseverkehr) hatte auf Bezirksebene auf das Reisebüro Jugendtourist sowie auf den Allgemeinen Deutschen Motorsportverband der DDR (ADMV) einzuwirken. So sollten ausnahmslos "vertrauenswürdige" Personen für die ab den 80er Jahren staatlich gelenkten Reisen nach Brünn zugelassen werden. Die Abteilung VII (Ministerium des Innern) versuchte zusammen mit der Deutschen Volkspolizei (DVP) die Anreise "negativ-dekadenter" und "negativ-feindlicher" Personen zu verhindern.

Die für die "Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchen" zuständige BKG war dafür verantwortlich, dass keine "Antragsteller auf ständige Ausreise" zu den Rennen gelangten. Denn diese, so die MfS-Planer, hätten hier "provokatorisch" und "öffentlichkeitswirksam" in Erscheinung treten können. Die Abteilung IX (Untersuchungsorgan) war vorgesehen, um mögliche Straftaten von Bürgern aus dem DDR-Bezirk Suhl zusammen mit der tschechoslowakischen Geheimpolizei aufzuklären.

Die Abteilung XIX (Verkehrswesen) übernahm die Überwachung des Zugverkehrs und warf ein Auge auf den Fahrkartenverkauf in Richtung Tschechoslowakei. Außerdem war festgelegt, dass jede MfS-Bezirksverwaltung einen oder mehrere Mitarbeiter der Abteilung XX, zuständig u.a. für die geheimpolizeiliche Durchdringung der Jugend und des Sports, an die Rennstrecke kommandierte. Diese sollten vor Ort als Führungsoffiziere der aus den DDR-Bezirken zum Einsatz kommenden Inoffiziellen Mitarbeiter (IM), Gesellschaftlichen Mitarbeiter für Sicherheit (GMS) und Kontaktpersonen (KP) fungieren. Die häufig durch andere MfS-Diensteinheiten geführten IM, GMS und KP wurden für die Zeit in Brünn den Führungsoffizieren der Abteilungen XX der MfS-Bezirksverwaltungen unterstellt und von ihnen gesteuert.

Ein Inoffizieller Mitarbeiter fertigte diese Aufnahme auf einem der zahlreichen Zeltplätze an.

Dokument in der Stasi-Mediathek ansehen

Arbeitsberatungen mit Erfahrungsaustausch

Die für den Einsatz in Brünn vorgesehenen Führungsoffiziere der Abteilungen XX fanden sich bereits Monate vor den Motorsportwettkämpfen zu einer Arbeitsberatung beim Zentralen Operativstab (ZOS) ein. Die Vorgehensweise war zunächst so geregelt, dass neben den für den Einsatz ausgewählten Führungsoffizieren der Abteilungen XX der Bezirksverwaltungen auch das MfS eine Operativgruppe nach Brünn entsandte. Parallel dazu wurde die Abteilung X (Internationale Verbindungen) aktiv, die für die weiteren Absprachen mit dem tschechoslowakischen "Bruderorgan" verantwortlich war.

Zusätzlich bildete der ZOS eine Führungsstelle in Brünn. Diese koordinierte während der Rennen den Einsatz aller MfS-Angehörigen vor Ort. Zudem liefen sämtliche durch die IM, GMS und KP erarbeiteten Informationen und die daraus verfassten Lageberichte dort zusammen.

Während der Arbeitsberatung beim ZOS stand auch der Einsatz der IM, GMS und KP auf der Agenda. Der Diskussionsbeitrag eines Führungsoffiziers der Abteilung XX der MfS-Bezirksverwaltung Suhl vom 27. Februar 1985 gibt einen Einblick, welche IM, GMS und KP zum Einsatz kommen sollten: "…bei der Suche und Auswahl von IM / GMS [ist] darauf zu achten, dass auch nur die inoffiziellen Kräfte zum Einsatz gelangen, die 1. die entsprechenden operativen Merkmale, 2. physische und psychische Voraussetzungen, 3. sportliches Interesse und gleichzeitig Fachkenntnisse sowie Personenkenntnisse aus dem Milieu besitzen."

Der geheimpolizeiliche Aufgabenkatalog war umfangreich. Aufschluss darüber liefert ein Bericht des IM "Wagner", der anlässlich der Motorrad-Europameisterschaften vom 21. bis 26. August 1985 notierte: "Es konnte analysiert werden, dass tausende Jugendliche zu solch einer Großveranstaltung erscheinen, um sich, wie sie es selbst nennen, einmal richtig austoben zu können." "Wagner" stellte weiterhin fest: "Viele nutzen diese Reise um mit Bekannte und Verwandte zusammen zu treffen [sic!]." Kurzum: Der geheimpolizeiliche Fokus in Brünn lag auf der Überwachung "negativ-dekadenter" beziehungsweise "negativ-feindlicher" Personen aus der DDR sowie auf der Kontrolle deutsch-deutscher Kontakte.

Wohnwagen als konspiratives Treffquartier genutzt

Die Suhler Führungsoffiziere wurden für ihre Einsätze in Brünn umfassend ausgerüstet. Die Abteilung Finanzen der MfS-Bezirksverwaltung stellte tschechoslowakische Kronen in ausreichender Menge zur Verfügung. Die Suhler MfS-Abteilung Rückwärtige Dienste stellte Kühlboxen, Besteckkasten, Wasserkanister, Reserverad, Campingtopfset, Batterien und Werkzeug zur Verfügung. Diese Gegenstände waren nötig um den Wohnwagen, der den Suhler Führungsoffizieren als Schlafplatz und konspiratives Treffquartier diente, auszustatten.

Hier trafen die Führungsoffiziere ihr inoffizielles Netzwerk, nahmen Berichte entgegen und erteilten neue Aufträge. Als PKW diente den Suhlern ein Dienst-Lada, der durch die DVP, kurzerhand als Privat-PKW auf einen der Führungsoffiziere zugelassen wurde. Danach erhielten die Suhler durch die Abteilung Operative Technik einen Kassettenrekorder, zwei Fotoapparate, ein Weitwinkelobjektiv und ausreichend Filmmaterial. Eine kleine Kamera konnte für das verdeckte Fotografieren in einer Handgelenktasche untergebracht werden.

Aufstellung von Ausrüstungsgegenständen: Kanister 10 l Polyethylen, Campingliege, Gummimatten, Batterien R 20, Kühlbox 12 V, Luftrfrosch

Einsatz der IM, GMS und KP

In Brünn angekommen, nahmen die Suhler Führungsoffiziere ihren zu sichernden Bereich ein. Es handelte sich in der Regel um einen der Zeltplätze, die sich rund um den Rennkurs befanden. Auf diesem hatten unzählige ostdeutsche Motorsportfans ihre Lager aufgeschlagen. Dort kam es häufig auch zu den ersten Kontaktaufnahmen mit den IM, GMS und KP, die entweder per PKW, Motorrad, Zug, Bus oder per Anhalter anreisten.

Der bereits erwähnte "Wagner" stand in den Diensten der KD Hildburghausen der MfS-Bezirksverwaltung Suhl. Durch ihn erhielt die Stasi Einblick in die Organisation diverser Motorsportclubs im DDR-Bezirk Suhl und in die Arbeit der ADMV-Bezirksleitung. "Wagner" organisierte auf Bezirksebene die staatlich gelenkten Jugendtourist-Reisen nach Brünn.

Ihm fiel in Brünn sofort auf, dass durch DDR-Bürger vor Ort "…die gute Verkaufskultur in der ČSSR hervorgehoben [wird]. Dabei kritisiert man die mangelhafte Verkaufskultur und das unzureichende Warenangebot der DDR besonders bei Ersatzteilen für Fahrzeuge." Ein DDR-Bürger brachte ihm gegenüber zum Ausdruck: "Wir können nicht reisen wohin wir wollen. Wir leben in der DDR wie in einem Gefängnis." "Wagner" fing für das MfS auch die Stimmung auf den Zuschauertribünen ein: "Beim Abspielen der Nationalhymne der BRD erhoben sich alle von den Plätzen und versuchten zu singen. […] Auf dem gegenüberliegenden Hang wurde begeistert mitgesungen und die BRD-Nationalflagge gehisst. Es wurde bekannt, dass Jugendliche ca. 25-30 Jahre alt die Nationalflagge der BRD von der DDR nach der ČSSR brachten."

Außerdem schätzte "Wagner" die anwesenden Mitglieder des ADMV ein: "Durch die Vielzahl der Gespräche, auch mit anderen Sportfreunden des ADMV der DDR stellte ich fest, dass diese in der Regel einer politisch-ideologischen Arbeit beziehungsweise Diskussion ausweichen und nur für sportliche Probleme zu interessieren sind. Das Interesse für Fahrer aus westlichen Ländern besonders der BRD ist vorranging. […] Großes Interesse wird den Fahrzeugen aus Japan bekundet." Der IM beobachtete auch, wie ostdeutsche Motorsportfans versuchten, die in der DDR äußerst begehrten Poster und Reklameartikel westlicher Ausrüster und Hersteller zu ergattern.

"Wir bitten um Kenntnisnahme und operative Beobachtung"

Im geheimpolizeilichen Aufgabenkatalog in Brünn war die Registrierung von Autokennzeichen ein zeit- und arbeitsintensiver Teil. Aus einer Übersicht aus dem Jahr 1984 geht hervor, dass zwischen dem 24. und dem 26. August 1984 die Suhler Führungsoffiziere und deren inoffizielles Netzwerk 53 PKW, drei Motorräder und 183 Personen aus dem DDR-Bezirk Suhl aufzeichneten. In einer späteren Analyse stellten die Geheimpolizisten jedoch fest, dass die Personenzahl nach oben korrigiert werden müsse und "mit einer vermutlichen Gesamtpersonenzahl von 800-1000 Bürgern des Bezirkes Suhl gerechnet werden [kann]."

Nach den Einsätzen in Brünn bilanzierten die Suhler Führungsoffiziere die Arbeit der von ihnen gesteuerten IM, GMS und KP. So trugen vom 20. bis 29. August 1984 insgesamt zehn inoffizielle Zuträger 201 Informationen für die MfS-Bezirksverwaltung Suhl zusammen. Dazu fertigten die Führungsoffiziere und ihr vor Ort tätiges inoffizielle Netzwerk 75 schwarzweiß Bilder sowie 36 Farbaufnahmen an. In der Folge setzte ein reger Informationsaustausch, vor allem von Fotografien, Personenbeschreibungen und Auto-Kennzeichen, zwischen den Bezirksverwaltungen, Kreisdienststellen und der MfS-Zentrale in Ostberlin ein. Ziel war es, die in den Augen der Geheimpolizei in Brünn auffällig gewordenen DDR-Bürger zu personifizieren und "geeignete operative Maßnahmen" einzuleiten.

Weitere Informationen

Den vollständigen Beitrag finden Sie unter:

  • Sascha Münzel: Aktion "Cross". Das Ministerium für Staatssicherheit bei den Motorsportwettkämpfen in Brünn, in: Gerbergasse 18. Thüringer Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte und Politik, Ausgabe 4/2016, Heft 81, S. 30-34.