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Willy Brandt und Willi Stoph in Erfurt

Codename "Konfrontation"

Als sich am 19. März 1970 Bundeskanzler Willy Brandt und Ministerratsvorsitzender Willi Stoph auf dem Bahnhof von Erfurt begrüßten, begann 25 Jahre nach Kriegsende zum ersten Mal ein deutsch-deutsches Gipfeltreffen. Doch die Stasi war schon monatelang vorher im Einsatz. Am 13. März 1970 erließ Erich Mielke den Befehl 12/70, der die Aktion "Konfrontation" auslöste. Dies war der Codename für das Treffen von Willy Brandt und Willi Stoph am 19. März 1970 in Erfurt.

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Das Treffen war nach zähem Ringen und einigem hin und her zustande gekommen. So sollten die Gespräche zuerst in Ost-Berlin stattfinden, was die Bundesregierung u.a. mit dem Hinweis auf den Viermächtestatus von Berlin ablehnte. Auch gab es Auseinandersetzungen um die den Kanzler begleitenden westdeutschen Journalisten, von denen die Staatssicherheit einige nicht in die DDR einreisen lassen wollte. Und es ging um die entscheidende Frage, welches Ergebnis die Gespräche haben sollten. Über diesen Punkt konnte man sich bis zum Ende des Treffens nicht wirklich verständigen.

Vorgeschichte zum Treffen

Nach der Amtsübernahme der sozialliberalen Koalition im Oktober 1969 in Bonn begann die neue Regierung unverzüglich mit der Umsetzung ihrer neuen Deutschland- und Ostpolitik. Unter der Formel "Wandel durch Annäherung" wurden innerhalb weniger Jahre die deutschland- und außenpolitischen Koordinaten zwischen West und Ost neu justiert. Die Sondierungen und Verhandlungen, die in Moskau und Warschau seit Anfang 1970 von der westdeutschen Regierung geführt wurden, erfüllten die SED-Führung mit Sorge. Sie befürchtete eine bilaterale Annäherung zwischen Moskau und Bonn zu ihren Lasten. Vor allem Hardliner um Honecker und Mielke trauten den soziallliberalen "Annäherungsversuchen" nicht – so erklärt sich auch der Codename der Aktion beim MfS.

Der Besuch von Willy Brandt in der DDR war dem MfS von Beginn an nicht geheuer. Man befürchtete Unruhe wegen der überhöhten Erwartungen an das Treffen und eine Steigerung des Ansehens von Willy Brandt bei der DDR-Bevölkerung. Bereits zwei Tage vor der Begegnung, am 17. März 1970, verfasste die "Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe" (ZAIG) des MfS einen Bericht an die engere Partei- und Staatsführung über "Die Reaktionen der Bevölkerung der DDR zum bevorstehenden Treffen Stoph–Brandt in Erfurt". Mit Besorgnis wird vermerkt, dass "eine stärkere Zunahme der Orientierung nach westlichen Rundfunk- und Fernsehsendern" und "politisch-ideologische Unklarheiten einen verhältnismäßig großen Umfang" einnehmen. Insbesondere beunruhigte das MfS, dass "Brandt […] sogenannte menschliche Erleichterungen und Fragen der Familienzusammenführung behandeln" könnte.

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Die Stasi rief einen zentralen Arbeitsstab "Konfrontation" unter Leitung von Mielke-Stellvertreter Bruno Beater ins Leben. Die geheimpolizeiliche "Tiefensicherung" der Aktion oblag der MfS-Bezirksverwaltung Erfurt. Die Volkspolizei sollte für die Sicherung der Strecke und der Plätze vor Ort sorgen.

Der Tag des Besuchs

Als Willy Brandt am Morgen des 19. März 1970 mit dem Sonderzug am Hauptbahnhof in Erfurt ankam, hatten sich bereits hunderte von Menschen eingefunden. Erste Sperrungen wurden durchbrochen und erste "Willy, Willy" Rufe waren zu hören. Auf dem Bahnhofsvorplatz und vor dem Hotel "Erfurter Hof" lief dann die Situation in den folgenden Stunden aus dem Ruder. MfS und Volkspolizei gelang es nicht zu verhindern, dass neben den ausgesuchten und als "zuverlässig" eingestuften Personen, auch andere, "normale" DDR-Bürger auf den Platz vor dem "Erfurter Hof" gelangten. Die Menge rief immer lauter "Willy, Willy" und "Willy Brandt ans Fenster". Wie befürchtet reagierte die Staatsmacht repressiv. Laut Abschlussbericht über die Aktion "Konfrontation" wurden 119 Personen festgenommen. Vermutlich aus Imagegründen wurden allerdings nur drei Ermittlungsverfahren eingeleitet. Das machte der Abschlussbericht zur Aktion "Konfrontation" deutlich.

119

Personen wurden laut Abschlussbericht bei der Aktion "Konfrontation" verhaftet. Nur gegen drei von ihnen wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

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280 westliche Medienvertreter waren in Erfurt und die Bilder von den Ereignissen gingen um die Welt. Für die SED-Führung war das ein politisches Desaster: Hier zeigte sich vor der Weltöffentlichkeit, wie gering der Rückhalt der Machthaber in der eigenen Bevölkerung war. Um ihr Weltbild zu retten, versuchte die Stasi die Vorgänge auf westliche Machenschaften zurückzuführen. Am 27. März berichtete die MfS-Bezirksverwaltung Erfurt, die westdeutschen Journalisten hätten "zum überwiegenden Teil ihre Tribüne verlassen" und sich "unter die Menge" gemischt. "Nach unseren Feststellungen organisierten diese Journalisten die ersten Rufe für Brandt." Von "den anwesenden positiven Kräften" sei schließlich "Willi Stoph ans Fenster" gerufen worden. In dieser Situation hätten "diese westdeutschen Journalisten durch Interviews und Befragungen" versucht, "auf die Haltung der Anwesenden Einfluss zu nehmen". In anderen Quellen und der umfangreichen Erinnerungsliteratur zum Erfurter Treffen finden sich keinerlei Hinweise, dass an dieser Version etwas dran sein könnte.

Um eine Wiederholung der spontanen Sympathiekundgebungen für Willy Brandt zu vermeiden, trafen die DDR-Verantwortlichen beim anschließenden Besuch der KZ-Gedenkstätte Buchenwald und der gemeinsamen Kranzniederlegung am Nachmittag des 19. März Vorkehrungen. Die geplante Fahrtstrecke wurde kurzfristig geändert und die MfS-Einsatzkräfte um fast 700 Personen verstärkt. Außerdem sorgte man dafür, dass sich nur 2.000 ausgesuchte "Genossen und patriotische Kräfte" in der Gedenkstätte versammelten.

Willy Brandt bei seinem Besuch der KZ-Gedenkstätte Buchenwald

Die Stasi befürchtete auch, dass im Tross des Bundeskanzlers bundesdeutsche Agenten in die DDR einreisen würden oder während des Besuchs elektronische Nachrichtentechnik eingesetzt werden könnte. Als Brandt seinen Sonderzug verlassen hatte, nahm das MfS daher die Wagen genau unter die Lupe. Obwohl sie keinen "Nachweis für technische Anlagen bzw. Einrichtungen zum […] Aufklären und Abschöpfen von elektronischen Ausstrahlungen (Funksendungen)" finden konnte, hielt das MfS dennoch an der Hypothese fest, "dass die im Nachrichtenwagen installierte Funkempfangstechnik auch zur Lösung von Aufgaben im Rahmen der elektronischen Kriegsführung" gedient haben könnte.

Die Ereignisse von Erfurt hatten ein Nachspiel: Am 25. März 1970 befasste sich das ZK-Sekretariat der SED mit den "provokatorischen Vorkommnissen in Erfurt" und lud die Verantwortlichen aller beteiligten Institutionen zu einer "Aussprache" vor. In dem vermutlich für den damaligen ZK-Sekretär für Sicherheit, Erich Honecker, bestimmten Bericht vom 30. März hob Mielke die Verfehlungen der Volkspolizei hervor, die die Vorgaben des MfS, wie z.B. die Einrichtung einer Bannmeile, nicht umgesetzt habe.

Dabei gelang es dem MfS – wie so oft – die Verantwortung für die Ereignisse auf andere abzuschieben und sich selbst als einzig funktionierendes Sicherheitsorgan darzustellen.

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Das "Trauma von Erfurt" saß tief: Bei zukünftigen Besuchen von Willy Brandt in der DDR wurde der Kontakt mit "normalen" DDR-Bürgern praktisch unmöglich gemacht. Vollkommen gespenstisch war die Szenerie beim Besuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt im Dezember 1981 in Güstrow. Die Straßen waren leergefegt und auf dem Weihnachtsmarkt spielten MfS-Mitarbeiter in Zivil "Bevölkerung".

Daniel Münkel, Referatsleiterin in der Forschungsabteilung des Stasi-Unterlagen-Archivs, ist Ansprechpartnerin für die Strategien der Stasi zu Willy Brandt. Eine ausführliche Darstellung zum Besuch in Erfurt steht zum Download bereit:

Publikation

Publikation

Kampagnen, Spione, geheime Kanäle

Die Stasi und Willy Brandt

Die Publikation beleuchtet anhand des Themas "Die Stasi und Willy Brandt" auf exemplarische Weise zentrale Aspekte einer vierzigjährigen deutsch-deutschen Teilungsgeschichte, die immer auch eine Geschichte von Verflechtungen war.