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Kundgebung zum Volksentscheid über die Verfassung der DDR vor der Staatsoper, im Vordergund Angehörige der FDJ.

"Habt Mut – stimmt Nein"

Mit einer großangelegten Kampagne zum Volksentscheid buhlte die SED-Führung 1968 bei der DDR-Bevölkerung um "Ja"-Stimmen für die neue Verfassung. Die Stasi überwachte dabei das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger.

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Am 6. April 1968 fand der einzige Volksentscheid in der Geschichte der DDR statt. Zur Abstimmung stand der Entwurf einer neuen Verfassung. In ihr wurde der SED ausdrücklich die führende Rolle in der DDR, dem nunmehr "sozialistischen Staat deutscher Nation", zugesprochen.

Damit bei der Abstimmung im Sinne der SED alles glatt ging und alle Wahlberechtigten ihr Kreuzchen beim "Ja" setzten, inszenierte die Staatspartei vorab monatelang sogenannte Volksaussprachen. Diese in Arbeitskollektiven, an Hochschulen, Universitäten und bei den Streitkräften organisierten Versammlungen dienten der Kontrolle und Lenkung des Abstimmungsverhaltens. Trotzdem sagten in einigen Regionen 10 Prozent der Wählerinnen und Wähler "Nein" zur Verfassung.

Propagandafilm zum Volksentscheid von 1968

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Aktion "Optimismus"

Eine zentrale Rolle im Umfeld des Volksentscheids kam der Staatssicherheit zu. Der Befehl 8/68 von Stasi-Minister Mielke an alle Diensteinheiten war die Grundlage für die Maßnahme- und Einsatzpläne des MfS rund um den Volksentscheid. Aktion "Optimismus" war der geheimpolizeiliche Name für diese Operation. Sie begann am 28. März 1968, 17 Uhr, und endete am 7. April 1968, 17 Uhr.

Alle Diensteinheiten waren verpflichtet, regelmäßig über die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung zu informieren, vor allem darüber, ob es ablehnende Haltungen oder gar offenen Protest gegen die neue Verfassung gab. Die Berichte wurden zusammengefasst und an die Zentrale Auswertungs- und Kontrollgruppe (ZAIG) des MfS gemeldet. Diese hatte die Aufgabe, die Partei- und Staatsführung täglich auf dem Laufenden zu halten. So sollte das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger mit hohem Aufwand überwacht und gesteuert werden.

Inoffizielle Mitarbeiter wurden beauftragt, über Meinungen und Stimmungen zum Volksentscheid zu berichten. So gab der Geheime Informator (GI) "Blitz" den Inhalt der durch die Gewerkschaft organisierten "Volksaussprache" in seinem Arbeitsumfeld wieder. Der Meister sei nicht bereit, die Kollegen zu kontrollieren und zu einer Abstimmung schon am Morgen des Wahltages zu bewegen.

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Kirchen und religiöse Glaubensgemeinschaften standen unter besonderer Beobachtung. Zuständig dafür war die Hauptabteilung XX/4. Ein Auszug aus dem Abschlussbericht zur Aktion "Optimismus" vom 8. April 1968 analysiert das Wahlverhalten der evangelischen und katholischen Christinnen und Christen im Bezirk Frankfurt (Oder).

"Gesellschaftsgefährliche Feindhandlungen"

Offener Protest wurde dem MfS sofort gemeldet und von diesem als "negatives Auftreten", "gesellschaftsgefährliche Feindhandlung" oder "Staatsverleumdung" verfolgt.

Die Kreisleitung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) an der Technischen Universität Dresden hatte eine schriftliche "Willenserklärung" ausgearbeitet, geschlossen am Volksentscheid teilzunehmen und der Verfassung zuzustimmen. Diese Willenserklärung sollte von den FDJ-Mitgliedern und allen Studentinnen und Studenten in den einzelnen Seminargruppen unterschrieben werden. Studierende, die ihre Unterschrift verweigerten, wurden der Stasi gemeldet.

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Die DDR-Bürgerinnen und -Bürger sahen laut dem vorliegenden ZAIG-Bericht vom Tag vor der Wahl die umfangreiche Wahlwerbung der SED zunehmend kritisch. "Negative oder feindliche Äußerungen" aus der Bevölkerung sind im Bericht ebenso vermerkt wie die Haltung der Kirche und Reaktionen aus dem Westen.

Öffentliche Proteste sind unter dem Punkt "5. Feindliche Handlungen, Vorkommnisse und Erscheinungen in der DDR. Hetzlosungen" aufgeführt. So stand an der Elsterbrücke in Oelsnitz in einer Länge von 4 Metern die Losung "Habt Mut zum Nein" und an einem Schuppen in 2 Metern Länge: "Habt Mut – stimmt Nein". Diese und weitere öffentliche Proteste dokumentierte die Stasi in regelmäßigen Berichten.

"Wir stellen der Partei ein Bein und sagen zur Verfassung 'Nein'." Der Verfasser dieses Spruchs im VEB Bergmann-Borsig wurde wegen "Staatsverleumdung" gesucht. Dazu beantragte die Volkspolizei eine kriminaltechnische Untersuchung der Schrift.

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Die Hauptabteilung XX/2 war 1968 unter anderem zuständig für Schriften-Fahndung, Politische Untergrundtätigkeit (PUT), Jugend und FDJ. Sie registrierte am 11. April 1968 53 Fälle von "Hetzlosungen mit größerer Gesellschaftsgefährlichkeit" in der gesamten DDR. Die dabei ermittelten, zumeist jugendlichen, Täterinnen und Täter sollte das MfS erfassen oder sogar operativ bearbeiten und unter Kontrolle halten, auch wenn keine strafrechtliche Verfolgung aufgenommen wurde. Die von der Stasi abfotografierten Flugblätter und Protestplakate in den Anlagen dieses Berichts zeigen die Vielfalt des Protests.

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Partei und Geheimpolizei beglückwünschen sich

Trotz des für DDR-Verhältnisse eher "schlechten" Abstimmungsergebnisses von 94,5 Prozent Zustimmung und 5,5 Prozent Ablehnung war die Partei- und Staatsführung mit dem Ausgang der Wahl zufrieden. In den MfS-Unterlagen finden sich zum Abschluss der Aktion "Optimismus" Dankschreiben der Partei und der Zentralen Abstimmungskommission für den "so erfolgreichen" Beitrag der MfS-Mitarbeiter beim Volksentscheid.

Dem Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht, wird von Vertretern von FDJ und Jungen Pionieren nach der Unterzeichnung des historischen Dokumentes der neuen Verfassung ein Strauß roter Nelken überreicht.