Verpflichtungserklärung von Josef Settnik
, Quelle:
BStU, MfS, BV Dresden, AIM, Nr. 463/71, Bd. 1, Bl. 33
Staatssicherheit und Auschwitz
Selbstverständlich lebten auch in der DDR Menschen, die an den NS-Verbrechen in Konzentrationslagern, wie Auschwitz, beteiligt waren. Die Staatssicherheit verfügte mit den NS-Akten über ein Informationsmonopol und nutzte dieses für Ermittlungen gegen Verdächtige, aber auch als Druckmittel für die Anwerbung inoffizieller Mitarbeiter.
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Die Sicht der DDR auf die NS-Zeit
Die DDR bezeichnete sich in ihrer Verfassung als antifaschistischen Staat und nahm für sich in Anspruch, im Gegensatz zur damaligen Bundesrepublik mit sämtlichen Kontinuitäten der NS-Zeit gebrochen zu haben. Dabei schob die SED auch die historische Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes dem Westen zu. Nach ihrer Lesart war die Mehrzahl der moralisch und strafrechtlich für die NS-Verbrechen Verantwortlichen in den Westen geflüchtet. Generell galt die Aufarbeitung der NS-Diktatur in der DDR schon mit der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung", wie die Errichtung des sozialistischen Staates genannt wurde, und den damit einhergehenden radikalen gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen als abgeschlossen.
Die Vergangenheitsbewältigung der Bundesrepublik entsprach in einem gewissen Grade tatsächlich dem von der DDR-Propaganda vermittelten Klischee. Tatsächlich tat sich die BRD schwer mit einer konsequenten Verfolgung der NS-Täter. Gleichzeitig gelangten hier Personen, die sich später als belastete ehemalige Funktionsträger des NS-Staates entpuppten, in den öffentlichen Dienst, insbesondere auch bei den Nachrichtendiensten, der Polizei und der Justiz. Damit lieferte West-Deutschland quasi einen "Beleg" für die ostdeutschen Behauptungen. Dies bot ein ideales Angriffsziel für die Ende der Fünfzigerjahre einsetzenden "antifaschistischen Kampagnen" der DDR. Hinzu kamen vermeintliche oder tatsächliche Skandale im Umgang mit der NS-Zeit sowie die schleppende und oft unbefriedigende Ahndung der NS-Gewaltkriminalität in der Frühzeit der Bundesrepublik.
1958 wurde das Buchenwald-Mahnmal von Fritz Cremer in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte bei Weimar eingeweiht. Die Bronzeplastik zeigt eine Gruppe KZ-Häftlinge, die den kommunistischen Widerstand im Konzentrationslager Buchenwald repräsentiert.
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-58959-0003 / CC-BY-SA 3.0
Die Aufarbeitung der Verbrechen von Auschwitz
Prof.Dr. Friedrich Karl Kaul (links) und Prof.Dr. Kuczynski vor dem Verhandlungsgebäude des Auschwitz-Prozesses
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-C0321-0048-001
Erst ab 1958 setzten dann aber in der Bundesrepublik langsam systematische Bemühungen zur Verfolgung von NS-Verbrechen ein. Einen Meilenstein der justiziellen und öffentlichen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Judenmord bildete das nach fünfeinhalbjährigen Ermittlungen eröffnete Hauptverfahren im 1. Auschwitz-Prozess. Ab dem 20. Dezember 1963 mussten sich vor dem Schwurgericht am Landgericht Frankfurt am Main 22 Angeklagte wegen Mordes und Beihilfe zum Mord verantworten. Zwei Verfahren wurden später wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Bis auf einen Funktionshäftling hatten alle Angeklagten mit SS-Dienstgraden der Nomenklatur des Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz angehört.
Die DDR, die bis dato kein gleichwertiges Verfahren vorzuweisen hatte, trat als Vertreterin von Nebenklägern auf. Dies waren Menschen, die in der DDR, Polen und der Tschechoslowakei lebten und in Frankfurt von DDR-Staranwalt Friedrich Karl Kaul vertreten wurden. Gemäß einem SED-Politbüro-Beschluss sollte er dabei den Prozess in ein Tribunal gegen den IG-Farben-Konzern umfunktionieren. In der Lesart der SED war es ein Konzern, der als Vertreter des "Finanzkapitals" ein konstitutives Element des Faschismus repräsentierte. Auch wenn er nun zerschlagen und in acht Firmen aufgeteilt sei, nehme er in der Gegenwart eine herausragende Stellung in der Wirtschaft der Bundesrepublik ein. Dieser propagandistische Angriff auf die Bundesrepublik war allerdings nur von begrenztem Erfolg gekrönt.
Am Ende wurden sieben Beschuldigte wegen Mordes, zehn wegen Beihilfe zum Mord verurteilt und drei erreichten einen Freispruch. Als Strafmaß verhängte das Gericht sechs lebenslängliche Haftstrafen sowie elf Freiheitsstrafen zwischen drei ein viertel und 14 Jahren. Der Auschwitz-Prozess erreichte vor allem sein eigentliches Ziel. Auf 920 Seiten der Urteilsbegründung führte er der bundesrepublikanischen, aber auch der Weltöffentlichkeit vor Augen, was die "Endlösung der Judenfrage" in der Praxis bedeutet hatte. Es war eine vom NS-Staat akribisch geplante, arbeitsteilig organisierte und schließlich industriell durchgeführte Massentötung von Menschen.
Der Umgang mit den Tätern von Auschwitz in der DDR
Da die DDR die Täterproblematik propagandistisch gleichsam in den Westen exportiert hatte, barg jede im eigenen Lande entdeckte Person, die an den NS-Verbrechen beteiligt war, ein Risiko. Seine oder ihre öffentliche Behandlung hätte einen Glaubwürdigkeitsverlust bewirken können. Die Partei- und Staatsführung musste deshalb darauf achten, dass die strafrechtlichen Aktivitäten ihrer Justiz nicht allzu sehr in Widerspruch zu den Aussagen ihrer Kampagnen gerieten. Die Kombination aus vehement vorgetragenen Vorwürfen gegenüber der Bundesrepublik bei gleichzeitiger Zurückhaltung bei der Verfolgung von Verdächtigen im eigenen Land, bescherte dem Ministerium für StaatssicherheitMinisterium für Staatssicherheit Das Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich oft kurz "Stasi") war politische... (MfSMinisterium für Staatssicherheit Das Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich oft kurz "Stasi") war politische... ) eine Schlüsselrolle.
Es war die Staatssicherheit, die mit ihren konspirativen Mitteln und einer faktischen Monopolisierung einschlägiger NS-Akten die betreffenden Informationen unter Kontrolle halten konnte. So verschaffte sie der politischen Führung die Handhabe für die weitere Verbreitung ihrer Sichtweise und die Unterdrückung gegenteiliger Fakten.
Die DDR hatte mit ihren rechtlichen Normen zur Ahndung der NS-Verbrechenskomplexe internationales Recht übernommen, eine Verjährung dieser Delikte verneint und dies sogar in der Verfassung von 1968 verankert. Damit konnte die DDR-Justiz theoretisch weitaus einfacher und umfassender gegen NS-Täter vorgehen als die der Bundesrepublik.
Prozess gegen KZ-Arzt Dr. Fischer. 2. Verhandlungstag - 11.3.1966: Vor dem Obersten Gericht der DDR wurde der Angeklagte Fischer zur Sache vernommen. Er wird beschuldigt, als SS-Lagerarzt und Stellvertreter des SS-Standortarztes des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau in der Zeit von 1942 bis Januar 1945 Zehntausende von Häftlingen selektiert und zur Vernichtung durch Zyklon-B-Gase bestimmt zu haben. UBz: Der Angeklagte KZ-Arzt zeigt an einer Tafel die Krematorien des Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Rechts: der Präsident des Obersten Gerichts der DDR, Dr. Heinrich Toeplitz; links daneben: Oberrichter Fritz Mühlberger.
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-E0311-0010-003 / CC-BY-SA 3.0
In der Verfolgung von NS-Tätern gab es eine klare Arbeitsteilung. Das MfSMinisterium für Staatssicherheit Das Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich oft kurz "Stasi") war politische... ermittelte verdeckt und prüfte die Fälle vor allem auch unter dem Gesichtspunkt der politischen Zweckmäßigkeit. Überwogen die Vorteile, so wurden die Fälle vor Gericht gebracht, wo strenge Urteile die antifaschistische Rigorosität der DDR demonstrierten. Nicht zuletzt in Reaktion auf die bundesrepublikanische Strafverfolgung von Auschwitz-Verstrickten kann das Verfahren gegen den ehemaligen Lagerarzt von Auschwitz-Monowitz, Horst Fischer dafür als Musterfall gelten. Er wurde im März 1966 – parallel zum 2. Frankfurter Auschwitz-Prozess – vorm Obersten Gericht der DDR zum Tode verurteilt.
In vielen Fällen verzichtete das MfS darauf, weitere, offene Ermittlungen zu veranlassen oder mögliche Straftäter zu vernehmen. Die betreffenden Ermittlungsakten, sofern die Geheimpolizei keine anderweitige Verwendung für sie hatte, kamen in den Archiven zur Ablage und sind heute u.a. für Forschungszwecke einsehbar.
Bei Ermittlungen zu Personen, die in die Verbrechen von Auschwitz verwickelt waren, stieß das MfS zwar auf die Spuren möglicher Täterinnen und Täter. Aber wie in etlichen Fällen dokumentiert, führte das nicht zu einer Anklage.
Fall Paul Riedel: Der ehemalige SD-Informant und Mitglied der SS-Besatzung von Auschwitz
Die Staatssicherheit wurde Anfang der 1950er Jahre auf Paul Riedel, einem ehemaligen Mitglied der SS-Besatzung von Auschwitz, aufmerksam. Bei der Kontrolle seiner Post durch die Abteilung MAbteilung M Die 1951/52 entstandene Abt. M im MfS Berlin und in den BV führte die bis 1952 von den Abt. VIa... geriet er in den Verdacht, der verbotenen Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas anzugehören. Auf Grund dessen übernahm die Abteilung V/4 (später Abteilung XX/4) der BV Karl-Marx-Stadt, zuständig für die Überwachung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, im Juni 1959 die Bearbeitung von Riedel.
Nachdem der Vorgang zu Riedel ab 1960 aus nicht bekannten Gründen für einige Jahre ruhte, erstellte das MfSMinisterium für Staatssicherheit Das Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich oft kurz "Stasi") war politische... 1969 einen Maßnahmeplan. Die Geheimpolizei wollte damit mehr Informationen über Riedels Tätigkeit im Konzentrationslager Auschwitz in Erfahrung bringen.
Im Jahr 1971 stellte das MfS den Vorgang mit dem Decknamen "Motor" letztlich ein, ohne dass Paul Riedel zu seiner Beteiligung an den NS-Verbrechen in Auschwitz befragt wurde.
Undatiertes Foto von Paul Riedel aus der NS-Zeit
Quelle: BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AOP, Nr. 59/71, Bl. 25
Verpflichtung als Informant des Sicherheitsdienstes (SD) der SS Quelle: BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, AOP, Nr. 59/71, Bl. 21
Weitere Fälle zeigen, wie das MfSMinisterium für Staatssicherheit Das Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich oft kurz "Stasi") war politische... in Bezug auf die Verstrickung in die Verbrechen von Auschwitz die Vergangenheit von Menschen zum eigenen Vorteil nutzte. Die ins Visier geratenen Personen wurden als inoffizielle Mitarbeiter angeworben. Einige Fälle sind in der Studie „NS-Verbrecher und Staatssicherheit“ von Henry Leide dargestellt und in Unterlagen des Stasi-Unterlagen-Archivs dokumentiert.
Unterlagen zu zwei SS-Angehörigen und einem Reichsbahn-Fahrdienstleiter aus Auschwitz, die als IM geworben wurden
Fall Josef Settnik - undatiertes Foto von Settnik in der DDR Quelle: BStU, MfS, BV Dresden, AOP, Nr. 739/64, Bl. 22
Fall Josef Settnik - Verpflichtungserklärung von Settnik zur inoffiziellen Mitarbeit beim MfS vom 3. März 1964, Deckname "Erwin Mohr" - Seite 1
Quelle: BStU, MfS, BV Dresden, AIM, Nr. 463/71, Bd. 1, Bl. 33
Fall Josef Settnik - Verpflichtungserklärung von Settnik zur inoffiziellen Mitarbeit beim MfS vom 3. März 1964, Deckname "Erwin Mohr" - Seite 2
Quelle: BStU, MfS, BV Dresden, AIM, Nr. 463/71, Bd. 1, Bl. 34
Fall August Bielesch - undatiertes Foto von Bielesch in SS-Uniform
Quelle: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AIM, Nr. 561/79, Bl. 225
Fall August Bielesch - Dokument seiner Verpflichtung zum Stillschweigen über seine SS-Tätigkeit im Lager Auschwitz vom 10. Dezember 1943
Quelle: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AIM, Nr. 561/79, Bl. 96
Fall August Bielesch - Verpflichtungserklärung zur inoffiziellen Mitarbeit beim MfS von Bielesch am 8. Oktober 1971, Deckname "Philipp" - Seite 1
Quelle: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AIM, Nr. 561/79, Bl. 13
Fall August Bielesch - Verpflichtungserklärung zur inoffiziellen Mitarbeit beim MfS von Bielesch am 8. Oktober 1971, Deckname "Philipp" - Seite 2
Quelle: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AIM, Nr. 561/79, Bl. 14
Fall Franz Klakus - undatiertes Foto von Klakus aus der DDR-Zeit
Quelle: BStU, MfS, BV Dresden, AIM, Nr. 923/69, Bl. 74
Fall Franz Klakus - Erklärung zur inoffiziellen Mitarbeit für das MfS vom 25. März 1964
Quelle: BStU, MfS, BV Dresden, AIM, Nr. 923/69, Bl. 17
Strafverfolgung, Propaganda und Geheimhaltung in der DDR
Die Studie betrachtet den Umgang der DDR mit "ihren" Auschwitz-Fällen, insbesondere ihre widersprüchliche Strafverfolgungspraxis.
Weiterführende Literatur
Balzer, Friedrich-Martin, Renz, Werner (Hg.): Das Urteil im Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965), Bonn 2004.
Herf, Jeffrey: Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1997.
Leide, Henry: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR. Göttingen 2005.
Weinke, Annette: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949-1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungs-geschichte im Kalten Krieg. Paderborn u.a. 2002.