Wie der westdeutsche Verfassungsschutzmitarbeiter Hansjoachim Tiedge in die DDR überlief
Am 19. August 1985 reiste Hansjoachim Tiedge, Gruppenleiter des westdeutschen Bundesamtes für Verfassungsschutz, über Helmstedt-Marienborn in die DDR und bat um Asyl. Sein Übertritt löste einen der größten Geheimdienstskandale in der Geschichte der Bundesrepublik aus.
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Tiedges Flucht
Hansjoachim Tiedge, 1937 in Berlin geboren, arbeitete seit 1966 beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in Köln. Ab 1979 war er als Gruppenleiter für die Spionagebekämpfung der DDR-Geheimdienste in der Bundesrepublik zuständig.
Bis zum 23. August 1985 gab es in der Bundesrepublik keine Hinweise auf Tiedges Aufenthaltsort. Erst als der ostdeutsche Nachrichtendienst ADN am 23. August vermeldete, dass "Tiedge […] in die DDR übergetreten [ist] und […] um Asyl ersucht" hat, wusste die westdeutsche Seite Bescheid. Die Stasi notierte zum Motiv des Überlaufens: "Ablehnung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung". Tatsächlich flüchtete Tiedge vor persönlichen Problemen. Hohe Schulden und übermäßiger Alkoholkonsum sowie der Tod seiner Frau hatten den Beamten in familiäre und dienstliche Schwierigkeiten gebracht.
Pressemeldung zum Verschwinden Hansjoachim Tiedges
In einer dpa-Meldung vom August 1985 bestätigte das Kölner Verfassungsschutzamt das Verschwinden seines Mitarbeiters Hansjoachim Tiedge. Dieser war am 19. August 1985 in die DDR geflohen.
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Nach Tiedges Überlaufen holte die Stasi Informationen zu seiner Vergangenheit ein. Laut dem vorliegenden Dokument traten bereits im Juli 1983 beim BfV in Köln gegen Tiedge "erhebliche Sicherheitsbedenken durch charakterliche Schwächen" auf, denen die Behördenleitung allerdings keine Beachtung schenkte. Erst der neue BfV-Präsident Holger Pfahls ließ Tiedges persönliche Verhältnisse im August 1985 eingehender prüfen. Zu einer für den 19. August angesetzten persönlichen Aussprache kam es nicht mehr.
Das BfV leitete als Reaktion auf den durch Tiedges Überlaufen ausgelösten schweren Sicherheitsvorfall umfangreiche Gegenmaßnahmen ein. Die Stasi notierte: "Gegenwärtig finden in der BRD umfangreiche Aktivitäten statt mit dem Ziel, sogenannte schadensbegrenzende Maßnahmen‘ zu organisieren und einzuleiten." Unter anderem überarbeitete der Verfassungsschutz seine Sicherheitsrichtlinien. Zudem sollten Gesetze zur inneren Sicherheit, wie die Novellierung des Verfassungsschutzgesetzes und das MAD-Gesetz beschleunigt werden. Letzteres regelte u. a. die Zusammenarbeit des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) der Bundeswehr mit anderen Geheimdiensten, wie dem BfV und dem BND.
In seinen 1997 veröffentlichten Erinnerungen bezeichnete der ehemalige HV AHauptverwaltung A Spionageabteilung des MfS, deren Bezeichnung sich an die der Spionageabteilung des KGB, 1.... -Chef Markus WolfWolf, Markus 19.01.1923 - 09.11.2006
Tiedge als "wertvollen Überläufer". Doch nicht alle Informationen Tiedges waren neu. Bereits vier Jahre vor Tiedges Überlaufen hatte sich Klaus Kuron, Abwehr-Spezialist im Bundesamt für Verfassungsschutz, bei der Stasi gemeldet und acht Jahre lang aus Köln berichtet.
Da die HV A - der Auslandsgeheimdienst des MfS - nach dem Mauerfall einen Großteil ihrer Akten vernichten konnte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, was Tiedge tatsächlich preisgab. Neben dem Dossier "Operative Auskunft zur Struktur, Aufgaben und Methoden der Spionageabwehr des Verfassungsschutzes der BRD" (BArch, MfS, HA IX, Nr. 788) ist ein Vernehmungsprotokoll Tiedges aus dem Jahr 1988 überliefert. Darin beschreibt er, welches Interesse das BfV an der Zusammenarbeit mit "Zuwanderer[n] aus der DDR", besonders an Angehörigen der Oppositionsbewegung, hatte. Das Dokument entstand in zeitlicher Nähe zur Verhaftungswelle nach der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration im Januar 1988 in Ost-Berlin. Viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden damals in die Bundesrepublik abgeschoben.
Zur Situation der Sicherheitsdienste der Bundesrepublik nach Hansjoachim Tiedges Übertritt in die DDR
Im August 1985 lief der westdeutsche Verfassungsschutzmitarbeiter Hansjoachim Tiedge in die DDR über. Daraufhin leitete das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) verschiedene Maßnahmen ein, um die Tarnung seiner Agentinnen und Agenten in der DDR zu schützen.
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Schreiben Mielkes an den KGB-Vorsitzenden Tschebrikow zu den Vernehmungen von TiedgeSchreiben Mielkes an den KGB und Antwort vom Politbüro des ZK der
Stasi-Minister Erich Mielke pries den Übertritt Tiedges gegenüber dem KGB-Vorsitzenden Wiktor Michailowitsch Tschebrikow am 19. September 1985 als vermeintlich herausragenden Erfolg an.
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Gegenüber seinen Geheimdienstpartnern stellte das MfS den Übertritt als Ergebnis einer langgeplanten, von der HV A gezielt organisierten Operation dar. Ob und wie lange Tiedge tatsächlich mit dem MfS vor seinem Übertritt Kontakt hatte, ist nicht bekannt. In einem persönlichen Schreiben wandte sich Stasi-Chef Erich Mielke an den KGB-Chef Wiktor Michailowitsch Tschebrikow und prahlte mit den Erkenntnissen aus Tiedges Vernehmungen. Unter anderem hätten durch Tiedges Informationen der "Einblick in die politische Führung und operative Praktiken des Verfassungsschutzes" vertieft und die Arbeitsweise der westdeutschen Spionageabwehr aufgeklärt werden können. Mielke behauptete auch, die "Operation führte zu einer vollständigen Enttarnung der Doppelagenten des Verfassungsschutzes auf dem Territorium der BRD und DDR". Das dürfte eine deutliche Übertreibung gewesen sein.
Aktion "Bruch"
Die Stasi dokumentierte unter dem Decknamen Aktion "Bruch" die öffentliche Berichterstattung über die sogenannte "Sekretärinnenaffäre" in der Bundesrepublik. Die zumeist weiblichen DDR-Spioninnen arbeiteten in den Vorzimmern von Bundestagsabgeordneten und Ministerien. Für die Stasi waren sie wichtige Quellen. Bereits einige Tage vor Tiedges Überlaufen meldeten sich einige Agentinnen, wie Johanna Olbrich und Erika Reißmann, nicht mehr bei ihren westdeutschen Arbeitgebern. Ob es einen Zusammenhang zwischen ihrem Verschwinden und dem Überlaufen Tiedges gab, ist nicht belegt. Das vorliegende Dokument erweckt den Anschein. Die Stasi untertitelte die Aktion "Bruch" mit "Einschätzungen und Übersichten zur Lage nach dem Übertritt des ehemaligen leitenden Mitarbeiters der Abteilung IVAbteilung IV 1959 hervorgegangen aus der Abt. III der Hauptverwaltung A (HV A); 1974-1978 nach Zusammenschluss... SpionageabwehrSpionageabwehr Spionageabwehr beinhaltete nicht nur defensives Abwehren westlicher Spionage, sondern auch... im BfV Köln". Es folgt eine chronologische Auflistung von Ereignissen rund um die Spionagefälle von August bis Oktober 1985.
Tiedge, der sich seit dem Übertritt Helmut Fischer nannte, promovierte im Mai 1988 an der Humboldt-Universität mit einer Dissertation über "Die Abwehrarbeit der Ämter für Verfassungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland". Am 23. August 1990, sechs Wochen vor der deutschen Einheit, flog ihn der KGB in die Sowjetunion aus. Am 6. April 2011 starb Tiedge im Alter von 74 Jahren in der Nähe von Moskau.
Im Zentrum des Handbuchkapitels zur Hauptverwaltung A (HV A) steht die Rekonstruktion von Aufgaben, Strukturen und Quellen sowie die informationsbeschaffende Tätigkeit der Diensteinheit. Dies geschieht mit Blick auf die Zentrale in Berlin wie auch auf die Bezirksverwaltungen des MfS.
Zu den Kernaufgaben der Hauptabteilung II gehörte die Spionageabwehr gegen westliche, insbesondere bundesdeutsche, US-amerikanische, französische und britische Dienste sowie die Militärspionageabwehr.