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MfS-Lexikon

Gesellschaft, Überwachung der

Synonym: Überwachung der Gesellschaft

Die DDR-Staatssicherheit entwickelte sich von einer klassischen politischen Geheimpolizei sowjetischen Typs etappenweise zu einem allgemeinen Überwachungs- und Kontrollorgan, das neben seinen herkömmlichen repressiven Aufgaben umfassende Stabilisierungs- und Steuerungsfunktionen ausbildete. In der Terminologie des MfS gesprochen, ging es nicht nur um die "Gewährleistung der staatlichen Sicherheit", sondern auch um den "Schutz der gesellschaftlichen Entwicklung" im Sinne der politischen Vorgaben der SED.

[Auf dem schwarzweißen Lichtbild lassen sich sehr gut einige Menschen erkennen, die die Treppen zur U-Bahnstation hinunter- oder heraufgehen. Auf dem Schild über den Treppen  ist zu lesen "Karl-Liebknecht-Str. Münzstr.".]

Die Tätigkeitsschwerpunkte des MfS verschoben sich im Laufe der 40-jährigen DDR-Geschichte und waren eng verknüpft mit dem jeweiligen innenpolitischen Kurs sowie den außenpolitischen Konstellationen. Dabei ist die Tendenz feststellbar, dass eine vorbeugende Überwachung der Gesellschaft, d.h. der DDR-Bürger sowie der staatlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Institutionen, zu einem zentralen Element in der Arbeit der Staatssicherheit avancierte. Dahinter stand u.a. die Vorstellung, dass sich in der Gesellschaft – bedingt durch "feindliche" westliche Einflüsse – überall Gefahren für den Sozialismus und damit die DDR entwickeln könnten (siehe Diversion, politisch-ideologische).

Gemäß der "tschekistischen" Leitfrage "Wer ist wer?" wurden die Bereiche der vorbeugenden Überwachung stetig erweitert, so dass für die 80er Jahre teilweise von einer "flächendeckenden Überwachung" der DDR-Gesellschaft gesprochen wird. Anders als dieser Begriff nahelegt, handelte es sich jedoch nicht um eine gleichmäßige Kontrolle. Vielmehr setzte das MfS seine geheimdienstlichen Ressourcen und Möglichkeiten nach dem Schwerpunktprinzip vor allem in den als besonders sicherheitsrelevant oder gefährdet eingeschätzten Bereichen ein.

Der Ausbau der vorbeugenden Überwachung erfolgte in Etappen und war gekennzeichnet durch eine stetige Vergrößerung des Apparates und eine Vermehrung der Aufgabenbereiche.

Schon Ende der 50er Jahre begann das MfS sich die Kompetenzen eines quasi allzuständigen Kontrollorgans anzueignen, eine Entwicklung, die 1962 sogar vorübergehend in die Kritik der SED-Führung geriet. Der Mauerbau 1961 und die damit verbundene Abschottung der DDR-Gesellschaft nach Westen hatten die Ausdehnung des MfS-Kompetenzbereiches weiter befördert, weil unter den neuen Bedingungen jegliche Westkontakte und die fortbestehende Abwanderungsbewegung, die durch Fluchten, Fluchtversuche und später auch durch Ausreiseanträge zum Ausdruck kamen, zu einer Angelegenheit der Staatssicherheit wurden.

Die Tendenz zur Sicherheitsprophylaxe verstärkte sich weiter in den 70er Jahren, als die internationale Entspannung und die deutsch-deutsche Vertragspolitik die Bedingungen für Ost-West-Kontakte aller Art erleichterte: Unter anderem versechsfachten sich von 1971 bis 1976 die Reisen von Westdeutschen und Westberlinern in die DDR. Auf die Intensivierung der innerdeutschen Kontakte reagierte das MfS mit einem Ausbau der Überwachungsstrukturen. Die Begriffe gegnerische Kontaktpolitik und Kontakttätigkeit bekamen eine zentrale Bedeutung in der Terminologie und in der operativen Tätigkeit des MfS.

Die massive Ausweitung der überwachungsstaatlichen Präsenz und damit auch der überwachungsstaatlichen Durchdringung der DDR-Gesellschaft hing somit nicht nur mit den großen politischen Krisen des Kommunismus – 17. Juni 1953, Ungarnaufstand 1956, Prager Frühling 1968 oder Solidarność seit Beginn der 80er Jahre in Polen – zusammen, sondern war auch eine Folge der Entspannungspolitik. Vor allem durch die explodierende Zahl von Ausreiseanträgen in der Folge des KSZE-Prozesses erschien die Stabilität des SED-Regimes bedroht.

Unter den Bedingungen der Entspannungspolitik verzichtete das MfS mit Rücksicht auf die internationale Reputation zunehmend auf offen repressive Maßnahmen und ersetzte diese durch vorbeugende und verdeckt-manipulative Vorgehensweisen, die erheblich größere personelle Ressourcen erforderten.

Waren bis dahin Operativer Vorgänge (OV) eine Art konspirativer Vorermittlungsverfahren gewesen, die mit einer gewissen Zwangsläufigkeit in die Eröffnung eines offiziellen Strafverfahrens nach der StPO mündeten, wenn die strafrechtlichen Voraussetzungen nach DDR-Maßstäben gegeben waren, so mutierten insbesondere die OV gegen Oppositionelle nunmehr zu langjährigen Überwachungsvorgängen, in deren Rahmen eine intensive Ausforschung der betroffenen Personen und Einflussnahme auf deren Lebensweg – bis hin zu Maßnahmen der Zersetzung – realisiert wurden.

Folge war eine stetige, in den 70er Jahren überdurchschnittliche Ausweitung des MfS-Personalbestandes. Dies gilt sowohl für die hauptamtliche Mitarbeiter als auch für die inoffiziellen Mitarbeiter. Die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter verdoppelte sich bis Anfang der 80er Jahre alle zehn Jahre. Im Jahr 1989 erreichte sie rund 91.000 – d.h. auf 180 DDR-Bürger kam ein hauptamtlicher MfS-Mitarbeiter. Bezüglich der inoffiziellen Mitarbeiter ist eine ähnliche quantitative Entwicklung festzustellen, die allerdings mit geschätzt ca. 200.000 bereits Ende der 70er Jahre ihren Höhepunkt erreichte.

Trotz Begrenzung der personellen Ressourcen des MfS nahm in den 80er Jahren die Tendenz zur Ausweitung vorbeugender Maßnahmen nicht ab – im Gegenteil. Angesichts der Entwicklungen im Nachbarland Polen, der Herausbildung politisch oppositioneller Gruppierungen, der Vervielfältigung der Westkontakte auch von Funktionsträgern sowie der sich akkumulierenden gesellschaftlichen und ökonomischen Missstände, weitete das MfS seinen Kontrollanspruch weiter aus.

Wie Erich Mielke Anfang der 80er Jahre betonte, ging es nicht mehr nur um die Identifizierung aktuell abweichenden Verhaltens, sondern um die "Aufklärung von Persönlichkeitsbildern", auf deren Grundlage Prognosen für künftiges Verhalten erstellt werden sollten. Diese Herangehensweise zeigte sich weniger in der herkömmlichen Vorgangsbearbeitung, die quantitativ in einem relativ begrenzten Rahmen blieb – in der zweiten Hälfte der 80er Jahre wurden jährlich 4.500 bis 5.000 OV und rund 20.000 Operative Personenkontrollen durchgeführt.

Zu einem regelrechten Massengeschäft wurden dagegen die Sicherheitsüberprüfungen und andere Personenermittlungen unterhalb der Schwelle registrierter Vorgänge (siehe auch Registrierung), die jährlich in die Hunderttausende gingen (1987: ca. 400.000). Ende des Jahres 1987 war durchschnittlich jeder zweite DDR Bürger in der Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei (VSH-Kartei) der MfS-Dienststelle seines Kreises erfasst. Darüber hinaus waren zu ca. 40 Prozent der Bürger Informationen in den Zentralen Materialablage der Kreisdienststellen zu finden.

[Im Hintergrund ist eine Menschentraube auf dem Platz am Neptunbrunnen zu erkennen. Von dem Podest des Eingangspavillons des Fernsehturms filmt ein Mann im karrierten Sakko mit einem Camcorder in die Menge herunter. Das Lichtbild ist in schwarzweiß.]

Eine derartige Datenflut konnte nur durch einen massiven Ausbau des Auswertungs- und Informationssystems sowie den Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung, insbesondere der Zentralen Personendatenbank bewältigt werden

Literatur

  • Engelmann, Roger: Geheimpolizeiliche Lehren aus der Krise? Staatssicherheit 1953 und 1961. In: Diedrich, Torsten; Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Staatsgründung auf Raten. Die Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft der DDR. Berlin 2005, S. 139–151.
  • Gieseke, Jens: Die Einheit von Wirtschafts-, Sozial- und Sicherheitspolitik. Militarisierung und Überwachung als Probleme der Ära Honecker. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51(2003)11, S. 996–1021.
  • Süß, Walter: Die Staatssicherheit im letzten Jahrzehnt der DDR (MfS-Handbuch). Berlin 2009.

Daniela Münkel