Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: …ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - Der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Das ist der Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs und heute nehmen wir uns eines Themas an, wo wir tief ins Archiv hineinfragen und mit einem Archivar sprechen. Ich bin Maximilian Schönherr, quasi von außen. Ich bin Journalist und bin einer der beiden Hosts von diesem Podcast.
Dagmar Hovestädt: Und ich bin Dagmar Hovestädt, ich verantworte die Kommunikation und bin die Sprecherin des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und versuche einerseits das Interne nach außen hin verständlich zu machen und bin eigentlich auch ganz interessiert immer daran, wie Maximilian Schönherr unser Archiv und die Mitarbeiter wahrnimmt und das ganze Thema. Und es macht einfach auch Spaß, das ein bisschen von außen zu beleuchten, weil es uns auch hilft unsere Arbeit idealerweise zu verbessern.
Maximilian Schönherr: In welchem Stockwerk sind wir gerade?
Dagmar Hovestädt: Im 6. Stock. Mein Büro ist im 7. Stock.
Maximilian Schönherr: Das heißt, ihr kennt euch schon lange?
Dagmar Hovestädt: Karsten Jedlitschka, also der Kollege, den du sprechen wirst, der ist schon so lange hier wie ich angefangen habe, schon vor mir hat er angefangen, aber als Mitarbeiter des Archivs. Ich bin seit März 2011 hier, also mit dem Antritt des jetzigen Bundesbeauftragten habe ich auch hier die Arbeit in der Kommunikation übernommen und ich glaube, Herr Jedlitschka war schon vorher da. Und dann begegnet man sich schon, aber ein Pressesprecher ist ja mit vielen immer in Kontakt, aber auch nicht dauerhaft, dass man sich so jeden Tag begegnet oder so.
Maximilian Schönherr: Er kommt ja aus Bayern. Ist das ungewöhnlich für diese Berliner Behörde?
Dagmar Hovestädt: Wir haben eigentlich ein ganz interessantes Innenleben. Wir beschäftigen uns mit DDR-Vergangenheit offenkundig, weil das die Dokumente hergeben, haben aber auch ein ganz breites Spektrum an Menschen. Man muss ja nicht in der DDR geboren sein oder daher kommen, um hier zu arbeiten und man darf auch als Historiker sowieso sich mit Zeitphasen beschäftigen, die man nicht persönlich erlebt hat und sich da rein finden und das analysieren. Ich komme auch nicht aus der DDR. Ich komme aus dem westlichen Münsterland, auch was ganz anderes, ja.
Maximilian Schönherr: Also dieses Gespräch war phantastisch! Ich habe so viel gelernt durch dieses Gespräch mit Karsten Jedlitschka. Auch über Themen, wo ich nie drüber nachgedacht hätte. Zum Beispiel; also ich habe schon drüber nachgedacht, aber nicht mit ihm darüber zu sprechen; er erklärt wie Archive funktionieren. Er sagt, die preußische, deutsche Gründlichkeit hat eigentlich dazu geführt, dass Archive bei uns so geführt werden. Und das betrifft eben auch die DDR.
Dagmar Hovestädt: Ich glaube das Spannende dann an deinem Gespräch mit ihm, ist ja auch, dass es für Außenstehende fast manchmal eine kleine Blackbox ist, weil man fragt hier was an, man bekommt dann was aus dem Archiv rübergereicht und weiß, dass es kompliziert ist und das ein bisschen aufzuschlüsseln, das will ich schon auch, dass wir das schaffen hier durch diesen Podcast. Aber natürlich ist die Stasi in ihrer Archivordnung komplett abgetrennt von dem staatlichen Archivwesen der DDR, das gab es natürlich auch und versucht Informationen, die sie ständig immer wieder braucht für das was sie operatives Geschäft nannte, die Überwachung der eigenen Bürger und ihre sonstigen ausländischen Tätigkeiten und Absicherungen in dem Land, sie versucht diese Informationen ständig aktuell zu halten, sodass sie im Kern eigentlich gar kein Archiv hat, sondern eine Registratur. Also Informationen, die auch immer wieder rausgeholt werden aus der Ablage, aktiviert werden und eben nicht auf alle Zeiten richtig im Archiv liegen.
Maximilian Schönherr: Auch zum Beispiel der Nationalsozialismus, da denkt man jetzt bei DDR überhaupt nicht dran. Aber dieses Archiv ist einfach wichtig gewesen und eigentlich zentral wichtig gewesen, dass das Institut für Zeitgeschichte eine Forschung machen konnte, wie sind eigentlich die Übernahmen gewesen der NS-Kader in die DDR und in die BRD und so weiter. Und dafür ist euer Archiv halt sehr wichtig und das habe ich auch erst durch dieses Gespräch erfahren.
Dagmar Hovestädt: Also das gehört schon immer mit dazu, dass wir ein Stück weit Unterlagen zur Verfügung stellen können, die die NS-Zeit betreffen, weil die Stasi sich all das, was nach dem Krieg an NSDAP- und NS-Überlieferung da war in der DDR, spätestens in den späten 60er Jahren, zu eigen gemacht hat, weil sie damit instrumentell umgegangen ist. Die Nachkriegsordnung hat Deutschland geteilt und damit letztendlich auch das Schriftgut geteilt und das was im Osten und im Westen lag, wurde jeweils in dem Westen zum Großteil von den Alliierten übernommen und die Sowjets haben eine Menge an NS-Schriftgut übernommen und das der DDR auch wieder zurückgegeben, damit die Stasi es nutzen konnte in der Systemkonfrontation zwischen Ost und West unter anderem. Und genau das jetzt aufzuschließen, wir haben ja einen Großteil der NS-Unterlagen an das Bundesarchiv zurückgegeben, weil das dem archivischen Provinienzprinzip geschuldet ist. Die Akten gehören dahin, wo sie entstanden sind in den Kontext. Und wir haben nur das behalten, das ist auch nicht so ganz wenig, was die Stasi für ihre Zwecke mit ihren Spuren versehen hat an NS-Unterlagen. Also Sachen die vor Mai 45 entstanden.
Maximilian Schönherr: In dem Podcast kommt auch kurz vor, das Gebäude wo ihr gerade drin seid, FDJ-Gebäude. Stimmt nicht. Also was wir gerade jetzt gleich hören werden, dieses Detail stimmt nicht. Das hatte ich irgendwo aufgeschnappt und einfach weitergetragen und Karsten Jedlitschka meinte: "Ach interessant, wusste ich auch nicht." Stimmt aber gar nicht. Was ist denn richtig?
Dagmar Hovestädt: Ja, ich habe auch extra nochmal nachgeguckt. Das Gebäude ist tatsächlich auch online hier über so eine Berlin-Seite zu finden. Also es ist 1968 schon errichtet worden und war, so heißt es auf der Seite, bis zur Wende Sitz der Projektierung im Bau- und Montagekombinat Ingeneurhochbau Berlin, IHB und von hier aus wurden Sonderbauvorhaben geplant, also der Palast der Republik oder auch das Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Die Ingeneure und Architekten dafür haben in diesem Haus gesessen, dann wurde es renoviert und ab 98 ist es dann jetzt so eine Bundesimmobilie, die man mieten kann und in der wir seit, ich glaube, 2008 jetzt mit unseren Büroräumen drinnen sitzen. Aber genug über das Drumherum geredet, gequasselt, jetzt mal Bühne frei für dein Gespräch mit meinem Kollegen Dr. Karsten Jedlitschka und danach nicht vergessen, wie immer, ein O-Ton aus dem Archiv von unserer Dokumentarin vorgestellt, Elke Steinbach. Aber dann los mit dem Gespräch.
Maximilian Schönherr: Karsten Jedlitschka. Ich habe ihn auf einem Workshop des Stasi-Unterlagen-Archivs kennengelernt, wo es unter anderem darum ging, wie schnell Rechercheanträge von außen bearbeitet werden. Karsten Jedlitschka ist Referatsleiter in der Aktenauskunft. Er muss es also wissen. Ich bin Maximilian Schönherr. Herr Jedlitschka, welcher Antrag kam zuletzt bei Ihnen an?
Dr. Karsten Jedlitschka: Heute zuletzt? Unter anderem ist in meinem Bereich auch die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und da war auch einer, da ging es um Konzentrationslager-Wachmannschaften. Der ist mir erinnerlich. Ein ganz konkretes Thema, das müssen Sie verstehen, werde ich Ihnen nicht nennen. Wir sind ja hier dem Rechercheschutz auch verpflichtet.
Maximilian Schönherr: Sie sind Historiker?
Dr. Karsten Jedlitschka: Ich bin Historiker und Archivar.
Maximilian Schönherr: Was hat denn die NS-Geschichte mit der DDR-Geschichte zu tun?
Dr. Karsten Jedlitschka: Interessante Kombination, ja. Also NS-Geschichte mit DDR-Geschichte, wenn wir jetzt unsere Archivbestände sehen, hat insoweit zu tun, als gerade die DDR sich definiert hat als antifaschistischer Staat und gerade sich im Gegensatz zu dieser Vergangenheit positioniert hat und die Staatssicherheit eine ganze Menge von Unterlagen dieser vergangenen Diktatur gesammelt hat, NS-Unterlagen, ein eigenes Archiv gegründet hat sogar, das so genannte NS-Archiv der Staatssicherheit.
Maximilian Schönherr: Wo?
Dr. Karsten Jedlitschka: Das war situiert in der Freienwalder Straße.
Maximilian Schönherr: In Berlin?
Dr. Karsten Jedlitschka: In Berlin. Als großer Sonderbestand. Dort haben sie alles zusammengetragen, was sie bekommen konnten, gerade in der Frühzeit.
Maximilian Schönherr: Kein öffentliches Archiv?
Dr. Karsten Jedlitschka: Nein, natürlich nicht. Kein öffentliches Archiv. Es war im Grunde eine Altregistratur, die genutzt wurde und die Staatssicherheit hat das genutzt als Munitionslager, um Kampagnen, Desinformationskampagnen, zu starten. Das war, wenn Sie sich erinnern, gab es da gerade in den 60er/70er Jahren das sogenannte "Braunbuch", in dem diverse Politiker, Funktionsträger, Amtsträger aus der Bundesrepublik mit ihren Vergangenheiten aufgeführt waren. Und da war viel Dichtung und Wahrheit, wie das häufig der Fall ist. Prominente Fälle Theodor Oberländer, Lübke. Da wurden dann in Publikationen oder in Zeitungen Verdachtsmomente gestreut oder es wurde sogar zugespielt, auch gerne dem Spiegel Material zugespielt und da hat man versucht, den anderen Staat dadurch zu verunsichern oder zumindest das politische Personal zu verunsichern und hier und da hat es sogar auch zu Rücktritten geführt. Und dieses Archiv war im Grunde sonst für niemanden zugänglich, natürlich auch nicht für die historische Forschung. Als dann dieses Archiv oder komplett die Staatssicherheit aufhörte zu existieren beziehungsweise nach der Besetzung man sich Gedanken machte, wie man das weiter verwahrt, da ist man auf diesen Bestand gestoßen. Als die Archivare das dann abgewickelt haben, sich Gedanken gemacht haben: Was macht man damit? Und dann hat man dieses Archiv überführt in die zuständigen Landes- und das Bundesarchiv. Also man hat sich Gedanken gemacht: Wo gehört diese Überlieferung eigentlich hin?
Maximilian Schönherr: Ist also nicht beim BStU gelandet?
Dr. Karsten Jedlitschka: Ist nicht mehr beim BStU, ja, das ist wichtig. Also da würde sich ein kleiner Exkurs anbieten oder ganz kurz zur Archivtheorie…
Maximilian Schönherr: Ich schalte mal gerade auf Flugmodus, fällt mir ein.
Dr. Karsten Jedlitschka: Okay.
Maximilian Schönherr: Sie haben Ihr Handy ja woanders?
Dr. Karsten Jedlitschka: Mein Handy liegt auf meinem Tisch und ich habe es leise gestellt.
Maximilian Schönherr: Ja, okay.
Dr. Karsten Jedlitschka: Ja, also da wären wir dann bei dem Exkurs, die Frage: Wo gehören Archivbestände hin? Wo entstehen sie? Wo werden sie später erwartet und wo sind sie dann am besten nutzbar? Und es läuft ja so, dass ein Archiv immer zuständig ist für einen bestimmten Sprengel. Jede Verwaltung produziert Schriftgut und irgendwann stellt man sich die Frage: Was macht man mit dem Schriftgut? Und ein Teil dieses Schriftgutes wird archiviert zur Rechtssicherung und eben dann auch zur späteren Auswertung historisch, juristisch, journalistisch, wie auch immer. Also total auswertungsoffen. Dazwischen wird es bewertet, erschlossen und so weiter. So und diese Überlieferung auf oberster Ebene, Ministerialüberlieferungen, sind im Bundesarchiv zu verorten und die auf Landesebene Länderebene und so weiter, Kommunalarchive Stadtüberlieferung und gerade mit dieser NS-Überlieferung muss man es sich so vorstellen, dass das was die Staatssicherheit zusammengestohlen hat, zusammengesammelt hat, dass das in anderen Überlieferungen ja fehlte, also Bundesarchiv, Landesarchive. Und nach 89/90 hat man festgestellt, da ist ja noch einiges da, von dem man ausgegangen war, dass es verloren gegangen ist, Ende des Krieges verbrannt ist. Es ist auch sehr viel verbrannt Ende des Krieges. Dann hat man sich entschieden, wo werden diese Unterlagen dann wohl erwartet? Wenn ich als Nutzer zum Dritten Reich forsche, dann stelle ich mir die Frage: War das ein Reichsministerium? Dann erwarte ich die Überlieferungen im Bundesarchiv. Oder war es ein Landesministerium? Dann ist es wahrscheinlich in einem der Staatsarchive, Landesarchive zu erwarten. Die Forscher gehen üblicherweise so vor und da hat man sich gesagt, diese Unterlagen sollen genutzt werden, dann sind sie am besten aufgehoben in den zuständigen Archiven, in den zuständigen Beständen, wo diese Archivbestände Lücken aufgewiesen haben und dort hat man sie dann integriert. Es ist aber eine Konkordanz erstellt worden, weil die ursprünglich ja dann von der Staatssicherheit gesammelt waren, um diese Verknüpfung noch sicherstellen zu können. Und die Besonderheit ist, die Staatssicherheit hat hier… Also vielleicht ist noch zu erwähnen, man hat nur die Überlieferungen, also die geschlossenen NS-Akten abgegeben wieder in die alten Archive, in denen es keine Bearbeitungsspuren gab. Weil ein Archivar sagt: Sobald eine Akte weiterbearbeitet wird, dann kriegt sie eine neue Qualität.
Maximilian Schönherr: Jetzt machen wir mal das Fenster zu.
Dr. Karsten Jedlitschka: Ja, ich mache mal zu.
Maximilian Schönherr: Machen Sie es zu? Also wir mussten gerade das Fenster zu machen, denn wir sind mitten in Berlin und es wimmelt von Baustellen hier um diesen ehemaligen FDJ-Bau.
Dr. Karsten Jedlitschka: In diesem Gebäude?
Maximilian Schönherr: Ja.
Dr. Karsten Jedlitschka: Da wissen Sie mehr als ich.
Maximilian Schönherr: Ja, habe ich gestern erfahren. Okay, also ohne Bearbeitungsspuren…
Dr. Karsten Jedlitschka: Ja, genau. "ohne Bearbeitungsspuren" waren wir stehengeblieben. Das heißt also, alles das was die Staatssicherheit nicht weiter bearbeitet, weiter verwendet hat im Sinne von weiter geführt hat, was zugeheftet hat, irgendwelche Auftragungen vorgenommen hat, das wurde abgegeben. Aber es gibt so ein paar Mischakten, die die Staatssicherheit weitergeführt hat, die sind dann hier verblieben in den zuständigen Diensteinheiten der Staatssicherheit, in den Beständen. Und insbesondere gab es natürlich Vorgänge; ich sprach ja vorher davon, dass diese Unterlagen genutzt wurden für Kampagnen, dabei sind natürlich Unterlagen entstanden der Staatssicherheit und die sind bei uns. Die sind in einer eigenen Abteilung abgelegt und die können bei uns genutzt werden. Da sind viele Mischakten und auch Kopien drin und dergleichen und insoweit; Ausgangspunkt war ja der Antrag heute; insoweit ist es auf jeden Fall hilfreich, wenn man zu diesen Fragen arbeitet, also Konzentrationslagern oder prominente Amtsträger, Politiker der BRD und deren NS-Vergangenheit, hier einen Antrag zu stellen, weil die Staatssicherheit hat zum einen alle Informationen gesammelt, die sie bekommen konnten. Man findet hier sehr viele Informationen zusammengetragen. Zweitens gibt es dann auch entsprechende Kopien oder weitergeführte Akten, Filme und verfilmte Akten, also kommt man hier schon relativ weit und kann dann von hier ausgehend weitere Recherchen anstoßen. Oder man kann eben Lücken ausgleichen, die in anderen Archiven existieren. Und eine interessante Fragestellung ist ja auch: Was wusste eigentlich die Staatssicherheit? Also wenn ich jetzt von der KZ-Wachmannschaft weiter ausgehe, was wusste sie, was hat sie verwendet und was hat sie nicht verwendet und aus welchen Gründen? Und wir haben hier auch schon große Projekte gehabt, das ist jetzt abgeschlossen worden und inzwischen auch publiziert. Zum Beispiel die personellen Kontinuitäten im Bundesministerium des Inneren im Vergleich zum Ministerium des Inneren der DDR. Das hat das Institut für Zeitgeschichte gemacht und da gab es bei uns auch einen großen Antrag. Dann werden bei uns die ganzen Personen durchrecherchiert und da findet man natürlich eine ganze Menge. Das ist ja wie ein großes Puzzle, da spielen dann die verschiedenen Archivbestände zusammen und die Forscher müssen natürlich von dem einen zum anderen Archiv fahren und am Schluss setzt sich das Puzzle zusammen. Da sind dann doch sehr interessante Thesen dabei rausgekommen.
Maximilian Schönherr: Wie lange dauert dann die Bearbeitung davon? Also der Antrag kam quasi heute und bei dem Thema überblicken Sie ja ungefähr, in welche Archivbestände dieser Antrag hineinzielt. Wie lange muss der oder die Kollegin warten, bis sie die Akten tatsächlich sehen kann?
Dr. Karsten Jedlitschka: Generell oder tendenziell ist die Erfahrung, dass Medienanträge häufiger natürlich eilig sind, weil die meisten Bezug nehmen auf ein aktuelles Ereignis, auf ein aktuelles Datum.
Maximilian Schönherr: Und die Wissenschaftler und die Forscher haben ein bisschen mehr Zeit?
Dr. Karsten Jedlitschka: Manchmal. Also wir fordern ja schon meistens eine Begründung, das funktioniert auch ganz gut, das ist ja auch ausgewiesen, wenn Sie sich auf der Homepage informieren, wie ein Antrag zu stellen ist, dass wir also nicht nur das Thema wollen, sondern schon ein bisschen eine Begründung. Das brauchen wir auch für unsere Recherchen. Je mehr Informationen wir haben, desto besser können wir recherchieren. Und dann wollen wir natürlich schon hören, bis wann müssen die Sachen zwingend vorliegen. Wir haben zum Beispiel viele Doktoranten, da wissen wir, die haben nur eine bestimmte Zeit. Manche machen das aber auch wirklich vorbildlich. Die schicken das Exposé mit, sagen dass sie jetzt die Zusage haben, dass sie ein Stipendium haben oder eine Stelle und sie haben drei Jahre Zeit bis da und da und sie gucken sich erst jene Bestände an und dann diese. Und unsere Bestände wären eben sehr wichtig aus den und den Gründen. Dann können wir das einordnen und abwägen und das funktioniert bisher eigentlich immer ganz gut. Und auch dass die Leute Verständnis dafür haben, dass das bei uns dann eben eventuell seine Zeit braucht. Zwischendrin haben wir dann mal eilige Medienanträge und unsere Aufgabe ist natürlich die Förderung der Aufarbeitung, das ist ja klar. Und da bringt es dem Journalisten auch nichts, wenn dann erst nach einem halben Jahr die Ergebnisse kommen. Häufig ist es aber auch so, dass die reinen Forschungsanträge, also insbesondere bei Dissertationen, Habilitationen oder großen Forschungsprojekten, dass die ja viel aufwändiger sind in der Recherche, wohingegen Medienanträge, also wenn man so die Spanne aufmacht, dann haben wir häufig auch Anträge, die sich beziehen, also wir haben eine Mediathek im Internet, ein kuratiertes Schaufenster, in dem kleine Aktenbeispiele, kleine Geschichten dargestellt sind und das führt dazu, also die haben wir seit ein paar Jahren und da stellen wir häufig fest, dass dann Journalisten sagen: "In dieser Mediathek ist ein Foto…", zum Beispiel Einmarsch in den Prager Frühling, diese Panzerbilder in Prag, die ja schon so eine ikonografische Qualität entwickelt haben und dann sagt der: "Ich habe hier gerade so einen kleinen Bericht zum Prager Frühling und würde gerne noch dieses Foto nutzen." Das geht natürlich relativ schnell. Da kriegen wir diesen Antrag, prüfen ob der zulässig ist, dann wird er bearbeitet, dann haben wir die Möglichkeit, auch relativ schnell digital bereitzustellen, weil manchmal sind solche Anträge auch relativ kurzfristig mittags und abends ist Redaktionsschluss. Das funktioniert also relativ flott. Auf der anderen Seite, das was ich vorhin schon erwähnt habe, gibt es Anträge, bei denen 50.000 bis 70.000 Seiten bei der Bearbeitung durchgesehen werden müssen.
Maximilian Schönherr: Von wem?
Dr. Karsten Jedlitschka: Von unseren Sachbearbeitern.
Maximilian Schönherr: Sind die kompetent genug? Wie sind die geschult?
Dr. Karsten Jedlitschka: Also kompetent genug auf jeden Fall, weil sie erstens schon bei der Auswahl den entsprechenden Hintergrund mitbringen und dann hier eine längere Zeit eingearbeitet werden. Es sind häufig Historiker bei uns, Archivare natürlich auch.
Maximilian Schönherr: Ich hatte als letzte größere Recherche hier für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der für die aufwendige Recherche auch nicht bezahlen muss, hatte ich eine Kollegin von Ihnen, die hatte von dem Thema operative Psychologie, das war ein juristisches Institut in Potsdam vom Ministerium für Staatssicherheit, keine Ahnung. Also das gibt es natürlich auch.
Dr. Karsten Jedlitschka: Das gibt es natürlich auch. Also die Themen sind sehr vielgestaltig und dann werden die Sachen bestellt und dann muss wieder der Sachbearbeiter das vorbereiten, weil da haben wir die nächste Besonderheit, dass das eine sehr datenschutzrechtlich sensible Überlieferung ist und deswegen ein Filter vorgeschaltet werden muss, das ist der Sachbearbeiter, der erstmal die Unterlagen durchsieht, ob da problematische Informationen drinnen sind, die Sie für Ihr Thema nicht benötigen. Das ist das Eine. Aber vor allem eben nicht sehen können, weil ansonsten der Eingriff in andere Rechte zu hoch wäre.
Maximilian Schönherr: Das nennt man dann Schwärzungen?
Dr. Karsten Jedlitschka: Anonymisieren.
Maximilian Schönherr: Anonymisieren. Und das betrifft im Audio-Bereich, dass man die Stellen auspiepst?
Dr. Karsten Jedlitschka: Genau, die werden ausgepiepst.
Maximilian Schönherr: Da habe ich den Kollegen in Lichtenberg schon gute Tipps gegeben, denn die haben früher mit einem Pegel von 0 dB ausgepiepst, das ist ein wahnsinnig lauter Piepston und der ist heute ganz leise, aber sehr gut hörbar. Natürlich hängt das immer von dem einzelnen Bearbeiter ab, ob er oder sie dann diese Stelle schwärzt oder die andere. Das heißt, mit einem anderen Sachbearbeiter hätte ich andere Schwärzungen als mit dem Einen?
Dr. Karsten Jedlitschka: Also da will ich sagen, das können eigentlich nur Nuancen sein in der Unterscheidung.
Maximilian Schönherr: Ja? Gibt es so klare Regeln? Man muss ja immer wieder nachgucken, lebt der eigentlich noch? Wenn er noch lebt, dann schwärze ich ihn.
Dr. Karsten Jedlitschka: Genau. Also das was Sie sagen, ist natürlich richtig, wenn Sie zwei Jahre später den Antrag stellen und jemand… Also nur verstorben reicht nicht. Da gibt es ja diverse Fristen. Aber wenn die Fristen abgelaufen sind oder wenn Dinge offenkundig sind oder inzwischen offenkundig sind, dann werden die Sachen frei gelassen.
Maximilian Schönherr: Und das hat jeder verinnerlicht, deswegen gibt es da nur geringe Abweichungen?
Dr. Karsten Jedlitschka: Deswegen gibt es nur geringe Abweichungen.
Maximilian Schönherr: Also wenn wir zurückgehen; eine Freundin von mir hat einen Antrag gestellt vor zwanzig Jahren auf persönliche Akteneinsicht und konnte im Prinzip alles lesen. Dasselbe hat sie nochmal gemacht jetzt vor kurzem und es waren große Teile geschwärzt und sie sagte, hätte sie damals nicht das alles lesen können, dann hätte sie die Personen gar nicht mehr zuordnen können.
Dr. Karsten Jedlitschka: Es kann natürlich sein, dass da im Eifer des Gefechtes das eine oder andere anders gemacht wurde. Es ist ja so, dass diese Gesetzgrundlage immer wieder angepasst werden muss, auch den veränderten Gegebenheiten und es gibt das ein oder andere Gerichtsurteil, das dann auch einfließen muss. Also für den Bereich Forschung und Medien ist ganz wesentlich das Kohl-Urteil, also es gab ja mehrere Kohl-Urteile, als Helmut Kohl geklagt hat. Damals ging es um einen Antrag aus dem Bereich Medien, die dann Sachen sehen wollten und da war er anderer Auffassung und dann wurde das durchgeklärt und dann gab es eine höchstrichterliche Entscheidung. Die haben dann ein paar Dinge festgelegt, was rausgegeben werden kann und was nicht und eben auch die Unterscheidung zwischen Forschung auf der einen Seite und Medien auf der anderen Seite.
Maximilian Schönherr: Das heißt, die Forschung hätte mehr sehen können als die Medien?
Dr. Karsten Jedlitschka: Die Forschung hat weitere Einsichtsrechte.
Maximilian Schönherr: Sprechen wir mal über die Zahlen. Sie haben hier eine Statistik.
Dr. Karsten Jedlitschka: Ja.
Maximilian Schönherr: Sie haben ja mit den wissenschaftlichen und Medienanträgen zu tun, aber es gibt ja auch noch andere. Sind die in der Mehrheit?
Dr. Karsten Jedlitschka: Wir können in der persönlichen Akteneinsicht, das ist also der Bereich in dem man einen Antrag stellen kann, ob es überhaupt Unterlagen zu einem persönlich gibt…
Maximilian Schönherr: Oder zum Großvater, dem verstorbenen.
Dr. Karsten Jedlitschka: Ja. Es gibt inzwischen auch die Möglichkeit zu den eigenen Verwandten, wenn die verstorben sind.
Maximilian Schönherr: Wenn nicht, dann nicht?
Dr. Karsten Jedlitschka: Dann nicht. Also immer nur in der Reihenfolge, logisch. Der Datenschutz ist da ganz hoch anzusetzen. Dann stelle ich da einen Antrag und da haben wir in den letzten Jahren einen Rückgang festzustellen, aber immer noch auf hohem Niveau. Es ging dann mal so in 2014 waren es fast 70.000 und 2018, also wenn ich es auf das ganze Jahr nehme, 45.000 Anträge. Also es pendelt sich so ein bisschen ein bei knapp 50.000 Anträgen auf private Akteneinsicht pro Jahr.
Maximilian Schönherr: Und es gab keinen Pik oder eine Delle in den letzten zwanzig Jahren?
Dr. Karsten Jedlitschka: Doch, in dem Bereich persönliche Akteneinsicht kann man feststellen, immer wenn es um die Diskussion der Zukunft der Behörde ging, dann schnellten die Zahlen in die Höhe, weil es in den Medien so wahrgenommen wurde: Vielleicht habe ich bald nicht mehr die Möglichkeit!
Maximilian Schönherr: Das merkt man richtig in Ihrer Statistik?
Dr. Karsten Jedlitschka: Das schlägt sich da nieder.
Maximilian Schönherr: Und zwar zu zehntausenden?
Dr. Karsten Jedlitschka: Das merkt man schon. Natürlich kommen wir von einem relativ hohen Niveau, wie ich schon sagte, es war schon mal bei 80.000/90.000 Anträgen, also es ist schon deutlich nachlassender, was ja nachvollziehbar ist. Wir sind ja ein historisches Archiv. Es kommt nichts Neues dazu, das heißt, die Personen, die möglicherweise betroffen sind, stellen nach und nach ihre Anträge, es gibt Erstanträge und Wiederholungsanträge, das Verhältnis ist ungefähr zwei zu drei. Ein bis zwei Drittel sind Neuanträge/Erstanträge, ein Drittel sind Wiederholungsanträge. Wiederholungsanträge entstehen einfach dadurch, dass wir einen fortschreitenden Erschließungsstand unserer Überlieferungen haben und es bietet sich an, wenn ich in den 90er Jahren einen Antrag gestellt habe oder Anfang der 2000er, dass ich dann nach 10 bis 15 Jahren nochmal einen Wiederholungsantrag stelle, ob vielleicht etwas Neues aufgefunden wurde.
Maximilian Schönherr: Wie ist die Statistik mit Ihren wissenschaftlichen Anträgen?
Dr. Karsten Jedlitschka: Ja, weil Sie vorher meinten: "die reinen Zahlen". Also wir sind jetzt hier bei knapp 50.000 im Jahr und im Bereich Forschung und Medien haben wir ungefähr so 1.350 bis 1.400. Momentan ist es wieder leicht ansteigend, aber relativ stabil. Aber die reine Zahl sagt relativ wenig aus. Ich hatte ja vorher geschildert, dass die Spannweite sehr groß ist. Vielleicht noch etwas zu dieser Intensität oder Zunahme und auch die Aufwände, die entstehen. Das ist wichtig zu wissen. Ich sagte schon: ein Archiv, wie unser Archiv auch, erschließt natürlich immer weiter. Irgendwann sind sie auch fertig, das dauert aber noch eine Weile.
Maximilian Schönherr: Wie lange?
Dr. Karsten Jedlitschka: Das ist immer schwer zu sagen. Es gibt zwei unterschiedliche Kategorien von Überlieferungen im Archiv. Wir haben zum einen die Überlieferungen kurrentes Schriftgut, was zum Ende der Staatssicherheit noch kurrent war, also quasi lebende Registratur der Staatssicherheit. Das lag noch in den Zimmern, wurde dann gebündelt und dazu gab es noch überhaupt keinerlei Findmittel, das heißt es wird neu erschlossen jetzt. Da sind wir bei über 90 Prozent, also schon auf der Zielgeraden. Und dann gibt es die Archivbestände, im Grunde das was die Staatssicherheit selbst archiviert hat, also abgelegt hat in der Altregistratur. Die haben zwar von einem Archiv gesprochen, aber es war im Grunde kein Archiv, weil es nicht bewertet wurde. Da ist nur ein kleiner Teil bisher zusätzlich thematisch erschlossen, weil das schon personenbezogen zugänglich ist. Die Stasi hat das alles schon mit entsprechenden umfangreichen Karteien, 41 Millionen Karteikarten, verschlagwortet.
Maximilian Schönherr: 41 Millionen Karteikarten?
Dr. Karsten Jedlitschka: Genau.
Maximilian Schönherr: Natürlich verschiedene Karteikastensysteme und dann wusste einer, der Kasten ist dort und dann guckt man mal nach und dann war es doch der falsche und dann gucken wir mal in die blaue Kiste und da ist dann der richtige Karteikasten?
Dr. Karsten Jedlitschka: Ja, das ist doch etwas überspitzt dargestellt.
Maximilian Schönherr: Es gibt viele Bänder, wo keiner wusste, wo die liegen. Es gibt viele Tonbänder, ich glaube 24.000 Bänder und Tonträger und auf den meisten steht gar nichts drauf.
Dr. Karsten Jedlitschka: Ja, das ist…
Maximilian Schönherr: Wahrscheinlich hatte irgendjemand irgendwo so ein Kästchen, wo doch draufsteht das ist das grüne Band von hinten irgendwo.
Dr. Karsten Jedlitschka: Ja, das ist möglich. Aber gerade die Audio-Überlieferung ist nochmal was Besonderes, aber da kann es ja auch sein, dass es sich um Überlieferungen handelt, die noch nicht im Bereich sind, die also auch von der Stasi quasi entsprechend verschlagwortet waren.
Maximilian Schönherr: Bei dem Workshop, wo wir waren, gab es Forscher, die diese Verfahren kritisiert haben, weil sie nicht schnell genug sind. Ist das Jammern auf hohem Niveau?
Dr. Karsten Jedlitschka: Würde ich schon so sehen. Natürlich ist es immer schön, wenn es schneller ginge. Deswegen hatten wir ja auch diesen Nutzer-Workshop gemacht und wir nehmen gerne auch Hinweise auf, um das noch weiter zu verbessern. Aber ich würde doch Ihr Wort aufnehmen und sagen: Jammern auf hohem Niveau. Das ist bei uns schon ein sehr hohes Service-Niveau.
[mysteriöse Musik]
Sprecher: Sie hören…
Sprecherin: "111 Kilometer Akten"
Sprecher: Den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs.
Maximilian Schönherr: Ich, als Nutzer des Archivs von außen, kriege mit, dass die eigentlichen Expertinnen, jetzt im Audio-Bereich zum Beispiel, hochmotiviert sind, sehr kompetent sind, aber der Zwischenbereich, der mir dann Akten liefert, nicht die Rückkopplung liefert, wo ich nochmal freundlich nachfragen kann: Gibt es da noch etwas? Und ich habe den Eindruck, dass wir Recherchierenden nicht willkommen sind. Und das ist das Gegenteil von dem, was Ihr Chef mir gesagt hat: "Das ist ein Archiv, das müssen wir öffnen und wir müssen allen Leuten den Zugang leicht machen." Und ein prototypisches Beispiel war gestern, als ich mit Anne Pfautsch, die auch hier im Podcast auftaucht, den Antrag abgegeben habe, über die Recherche über ihren Großvater. Es kam nicht von dem Menschen, dem sie es übergeben hat: Ah ja, schön, ein Antrag über Ihren Großvater. Toll! Der ist verstorben. Geht. Sondern es kam: Da fehlt dies und da ist das Kreuz nicht gemacht und so weiter. Man hat den Eindruck, man ist nicht willkommen. Außenwahrnehmung. Wie ist Ihre Innenwahrnehmung?
Dr. Karsten Jedlitschka: Ja, das ist natürlich ein großes Thema.
Maximilian Schönherr: Sie müssen dazu auch nichts sagen. Aber das Thema ist groß.
Dr. Karsten Jedlitschka: Das Thema ist groß…
Maximilian Schönherr: Man müsste doch eigentlich an der Unternehmenskultur etwas ändern, damit die Außenwirkung positiver wird.
Dr. Karsten Jedlitschka: Das eine oder andere ist sicher noch optimierbar.
Maximilian Schönherr: Das dicke Buch, was hier auf dem Tisch liegt, haben Sie das geschrieben?
Dr. Karsten Jedlitschka: Ja, das habe ich zusammen mit Herrn Dr. Springer herausgegeben und ich habe da auch zwei Beiträge geschrieben.
Maximilian Schönherr: Titel?
Dr. Karsten Jedlitschka: Der Titel ist "Das Gedächtnis der Staatssicherheit – die Kartei- und Archivabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit". Ein wichtiges Anliegen, gerade für mich als Historiker, ich bin ja selber ein Archivar und es sind ungemein spannende Bestände, da werden Sie mir ja Recht geben, die wir hier haben, die auch nicht nur für die Geschichte der Staatssicherheit wichtig sind, sondern auch viele Komplementärüberlieferungen für andere Fragestellungen bieten. Da war aus meiner Sicht zu wenig bekannt, wie sind denn diese Bestände überhaupt zu dem geworden was sie jetzt sind? Wie hat die Staatssicherheit selbst diese Überlieferung überhaupt gebildet, verwahrt und auch genutzt, also Karteisysteme und dergleichen? Und auch Vergleichsfragen: Wie haben denn andere Geheimpolizeien des früheren Ostblocks gearbeitet, also die polnische Geheimpolizei oder die tschechoslowakische und dergleichen? Das ist wirklich spannend. Gab es auch fachliche Kontinuitäten? Wir haben ja in Deutschland das Archivwesen, das gerade in Preußen ausgeprägt war, also preußische Archivare waren wirklich prägend Vorbild, haben auch innovativ neue Impulse gesetzt. Und in der Weimarer Republik hat die Kriminalpolizei neue Dinge entwickelt, wie können sie Karteien und Wissen möglichst schnell verfügbar halten. Und dann war die große Frage: Wie sind solche Traditionen wieder aufgenommen worden? Wir haben uns einfach mit der Archivabteilung beschäftigt, mit der Altregistratur-Abteilung der Staatssicherheit, die ja eher im Verborgenen, also eher hinten gearbeitet haben, nicht operativ tätig. Aber das war ganz wichtig. Das war eben das Gedächtnis. Ohne das Gedächtnis hätte das nicht funktioniert. Wie ist, insbesondere auch in einer vor-EDV-Zeit, dieses Wissen so gehalten worden, dass es schnell abrufbar war, nicht nur zu Personen, sondern auch zu Sachthemen? Das ist wirklich sehr spannend, wie mit deutscher Gründlichkeit verschiedenste Karteisysteme entwickelt wurden, Ablagesystematiken und irgendwelche Muster. Es gab also ganz viele verschiedene Formulare, die die Staatssicherheit entwickelt hat. Das war sehr wichtig, auch unter dem Gesichtspunkt Quellenkritik. Quellenkritik ist ja eigentlich der erste Punkt immer, bevor ich als Historiker eine Fragestellung beantworten kann. Ich suche erstmal die Quellen, aber der nächste Schritt muss eigentlich sein zu sagen: Okay, warum sind diese Quellen so wie sie sind? Also diese klassischen Fragen: Wer, warum, wozu, wohin und so weiter?
Maximilian Schönherr: Zum Beispiel die Kassette, die ein IM bespricht, mit dem was er gerade erlebt hat. Was ist da drauf? Woher kommt das? Warum hat er das gemacht?
Dr. Karsten Jedlitschka: Genau.
Maximilian Schönherr: Wo liefert er es ab? Und wie wird es vielleicht verschlagwortet sogar?
Dr. Karsten Jedlitschka: Warum ist es noch überliefert? Gerade wenn Sie dieses Beispiel nennen, es gab ja diesen steten Mangel auch an Kassetten, sodass die Stasi dazu übergegangen ist, dass sie das abgetippt haben und dann haben sie es wieder überspielt, sodass wir dann ja so einen Bauch haben in der Überlieferung der 80er Jahre, das ist so die Endzeit, aber aus den frühen Jahren gar nicht mehr so viele Töne haben. Das ist ja eine ganz banale Folge. Das ist jetzt ein schönes Beispiel. Wenn ich das nicht wüsste, mit der Wiederverwendbarkeit und dem Überspielen der Tonbänder, dass die so gearbeitet haben, dann könnte ich den falschen Schluss ziehen als Historiker: Na ja, es gab in den 80er Jahren eine viel intensivere IM-Tätigkeit. Was ja gar nicht stimmt. Also da sieht man, das ist ein schönes Beispiel für die Bedeutung von Quellenkritik. Hier in diesem Gedächtnis haben wir auch die Personen untersucht, die leitenden Personen, weil es geht auch immer um Personen, die Dinge prägen. Und ich habe mich beschäftigt mit zwei Sachen. Das eine ist eine Geheimablage innerhalb, also es gab nochmal eine geheime Ablage innerhalb des Archivs, die nochmal zusätzlich gesichert war, in der besondere Vorgänge abgelegt wurden. Es ging vor allem um Disziplinarverfahren gegen Stasi-Angehörige, Suizide und dergleichen. Also Dinge, die man im Grunde nochmal in einen extra Giftschrank gestellt hat.
Maximilian Schönherr: Hier im Haus? Hier im Archiv?
Dr. Karsten Jedlitschka: In der Staatssicherheit im Archiv.
Maximilian Schönherr: Bei der Staatssicherheit im Archiv. Nicht beim BStU?
Dr. Karsten Jedlitschka: Nein! Nicht bei der BStU!
Maximilian Schönherr: Ich habe mich jetzt gerade gewundert.
Dr. Karsten Jedlitschka: Ja, genau. Also die geheime Ablage war eine Sonderablage der Staatssicherheit.
Maximilian Schönherr: Auch an einem bestimmten Ort?
Dr. Karsten Jedlitschka: An einem bestimmten Ort, nur in der Zentrale.
Maximilian Schönherr: Im Keller?
Dr. Karsten Jedlitschka: In einem extra gesicherten Regalsystem und das wurde genau kontrolliert, da hatten auch nur ganz wenige Zugang. Da war zum Beispiel der IM-Vorgang drinnen "Otto Bohl", also die Geschichte mit Ohnesorg und die Ermordung und dergleichen. Wie dann später rauskam, der war IM. Und diese Geschichten und dergleichen wurden dann weggeschlossen, damit wirklich keiner rankommt, also besonders sensible Geschichten. Und das andere war zum Beispiel der Umzug. Das Archiv hat ein neues Gebäude bekommen. Wie haben die das abgesichert? Einfach mal die Fragen: Wie haben die so einen Umzug logistisch überhaupt bewältigt? Also einfach spannend. Und dann ist da auch die Frage: Wie viele Frauen waren im Archiv tätig? Was gab es dort für Comments, wie hat man sich verhalten? Was hat man für ein Selbstbild gehabt? Und was hat man angefangen an Theorie zu entwickeln? Also das war so diese Untersuchung.
Maximilian Schönherr: Das klingt spannend.
Dr. Karsten Jedlitschka: Ja. Und eben auch vor dem Hintergrund Quellenkritik, also auch einfach Bestandsgeschichte, um eben auch die Verhältnismäßigkeit oder eben auch die Perspektiven zu verstehen.
Maximilian Schönherr: Und das Buch darunter?
Dr. Karsten Jedlitschka: Das Buch darunter nennt sich "Verschlusssachen". Den größten Teil hat auch Herr Springer beigesteuert.
Maximilian Schönherr: Wer ist Herr Springer?
Dr. Karsten Jedlitschka: Herr Springer ist ein Mitarbeiter, der in der Forschungsabteilung hier arbeitet, auch früher im Archiv, der sich mit forscherischen Fragen, aber bezogen auf die Überlieferung, beschäftigt. Also wie wir so schön sagen: historische Hilfswissenschaften sind das ja, also Quellenkunde. Nicht die großen Thesen, sondern eben die Frage: Wie hat hier das Innenleben, die innere Uhr, wie hat dieses Uhrwerk der Staatssicherheit funktioniert? Und der hat hier für die vierzig Jahre des Bestehens der Staatssicherheit einzelne Geschichten geschrieben, immer so zwei bis drei Seiten sind da aufgeführt. Ich habe da auch etwas beigesteuert und Herr Niederhut. Da ist immer ein Dokument, eine Karteikarte…
Maximilian Schönherr: Um was zu zeigen?
Dr. Karsten Jedlitschka: Um einfach das Spektrum, die Vielschichtigkeit der Überlieferung zu zeigen, um deutlich zu machen, dass wir hier nicht nur eindimensional die West-Spionage oder die Überwachung der Opposition haben. Vorne drauf ist ein Schlüsselbund, es gab auch eine Gegenstandsablage, um eben auch diese Buntheit dieses Archivs deutlich zu machen und um auch einzuladen, bei uns das Archiv zu nutzen.
Maximilian Schönherr: Letzte Frage: Wären Sie lieber wieder mehr an der Forschung?
Dr. Karsten Jedlitschka: Ich finde gerade diese Kombination eigentlich ganz befriedigend. Ich habe mich auch bewusst dafür entschieden in das Archivwesen zu gehen, weil ich gerade diese Kombination sehr reizvoll finde. Ich habe selbst gearbeitet über Vergangenheitspolitik Münchener Universität, also da ging es genau um solche NS- und auch Kontinuitätsfragen: Wie ging man damit um? Wer hat wen warum? Wer ist wieder rein gekommen, wer nicht? Wer wusste was? Wer hat was gesagt? Wer hat nichts gesagt, obwohl er etwas wusste?
Maximilian Schönherr: 1950 oder so?
Dr. Karsten Jedlitschka: Na, es ging so ab Ende der 40er Jahre los. Ich habe ein Biografie geschrieben über einen Historiker, über einen der, also wie ich immer so schön sage, volle Kriegsbemalung hatte, also SS-Mitglied und alles was dazu gehört, aber ansonsten nicht sonderlich in Erscheinung getreten ist. Und der hatte versucht im Nachkriegsdeutschland ab den 50er Jahren wieder reinzukommen in die Universität.
Maximilian Schönherr: Ist vielen ja gelungen.
Dr. Karsten Jedlitschka: Ist vielen gelungen und ihm eben nicht. Und ich habe ihn als Folie genommen, um auch an seinem Beispiel darzustellen, was waren die Mechanismen. Die Mechanismen bewegten sich nicht entlang der reinen Belastung, sondern viel wichtiger war, wie hat man sich verhalten, insbesondere dann im Nachkriegsdeutschland. Also war man bereit einen gewissen inneruniversitären Comment zu respektieren? Hat man auch abgewartet, bis seine Zeit kommt oder hat man auf andere gezeigt? Und er hat eben den Fehler gemacht, dass er diesen Comment einfach durchbrochen hat und eben dann auch in Briefen, insbesondere ans Kultusministerium, geschrieben hat: Ich weiß, dass X und Y doch viel stärker belastet waren und die sind wieder reingekommen. Und solche Dinge. Und da hat eben dann dieses System Universität mit seinen ganz eigenen Gesetzten so reagiert, dass die gesagt haben: Den wollen wir nicht mehr! Und die haben den draußen gehalten und der ist dann irgendwann erst als Lektor beim Brockhaus Verlag gelandet.
Maximilian Schönherr: In welchem Jahr ungefähr?
Dr. Karsten Jedlitschka: Er ist ja nie mehr zurückgekommen und ab den 60er Jahren war er dann beim Brockhaus tätig.
Maximilian Schönherr: Und diese Schreiben an die Regierung, wo er sagte, dass andere noch schlimmer waren?
Dr. Karsten Jedlitschka: In den 50er Jahren. Also das ist ja eine Folie, sozusagen eine Sonde, an seinem Beispiel konnte man sehr schön die anderen aufweisen. Es gab eine Lobby-Vereinigung der amtsverdrängten Hochschullehrer, da hat er sich dann auch eingebracht und da wurde er dann auch prominent zitiert. Das hat ihm dann zum Nachteil gereicht. Es gab aber andere, die weit stärker belastet waren, die waren aber geschmeidiger. Die hatten ein besseres Händchen. Und wir wissen das ja und das kann man alles übertragen auf die Ministerien. Ich habe die Dissertation 2004 abgeschlossen und da ging das auch erst so richtig los mit den ganzen Kontinuitätsfragen und jetzt sind sie ja bei den Ministerien und so und alles bestätigt diese These. Also die reine Belastung ist nur ein Teil. Es ging auch um viele andere Fragen und es ging auch um das Zwischenmenschliche und um das Verhalten. Und das finde ich eine super spannende Frage und dem kann man natürlich in verschiedenen totalitären Systemen nachgehen.
Maximilian Schönherr: Vielen Dank, Karsten Jedlitschka, Referatsleiter für Aktenauskunft beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Wir enden nicht ohne ein akustisches Schmankerl aus den Tiefen des Audio-Archivs hier im ehemaligen Zentrum des Stasi-Ministeriums.
[mysteriöse Musik]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich als Dokumentarin um die Audio-Überlieferung des MfS. Wir hören heute ein Beispiel aus dem Bestand der Bezirksverwaltung Rostock. Man kann sich vorstellen, dass 1989 vor der Wende die Demonstrationen misstrauisch beäugt worden sind. Eine Demonstration führte auch an dem Gebäude der Bezirksverwaltung des MfS vorbei und in einem abgedunkelten Zimmer stehen zwei MfS-Mitarbeiter, beobachten das Geschehen, kommentieren das Geschehen und verlesen die Losungen, die sie auf den Transparenten und Spruchbändern sehen und schreiben die auch mit. Ungefähr drei Minuten ist dieser Ausschnitt von der Kassette.
[Überspielung Anfang]
[Pfeifen und Trommeln von Demonstranten sind im Hintergrund zu hören.]
MfS-Mitarbeiter 1: Neues Transparent: "Keine Tapezierer. Wir brauchen Architekten." Neues Transparent [räuspert sich]: "Neues Forum zulassen".
[Pfeifen und Trommeln von Demonstranten sind im Hintergrund zu hören.]
MfS-Mitarbeiter 1 [telefoniert]: Meine? Ja. Ja, wir passen auf. Ist klar. Hm. [Legt den Telefonhörer auf.] Wir sollen uffpassen, die leuchten mit Taschenlampen in die Fenster. Das sehen wir da.
[Unterbrechung]
MfS-Mitarbeiter 2: [unverständlich] hiervon. Siehste!?
MfS-Mitarbeiter 1: Neues Transparent: "Einreise-Verbot für (Ehemalige) – Rache der Kanalarbeiter?"
[Unterbrechung]
[Pfeifen und Trommeln von Demonstranten sind im Hintergrund zu hören.]
MfS-Mitarbeiter 1: So, gegenwärtig wird hier unten irgendwie dat Haus im Takt bearbeitet. Offensichtlich die Tür.
MfS-Mitarbeiter 2: [unverständlich]
MfS-Mitarbeiter 1: So, dann kommt noch ein Transparent: "Führungsanspruch der SED? Volksentscheid!"
[Unterbrechung]
[Pfeifen und Trommeln von Demonstranten sind im Hintergrund zu hören.]
MfS-Mitarbeiter 1: So, Korrektur. Die haben also offensichtlich hier nicht eben mit den Fäusten im Takt die Tür bearbeitet, sondern die müssen ne Trommel mitführen. So, jetzt kommt neues Transparent. Text: "Neues Forum", dann… Joa, stilisiertes, angedeutetes Parteiabzeichen. Die beiden Hände drauf. Da drüber "Unschuld" über den beiden Händen und unter den Händen tropft es, also sich gegenseitig waschende Hände.
MfS-Mitarbeiter 2: Und ganz oben n Kreuz, ne?
MfS-Mitarbeiter 1: Und das oben drüber könnte ein Kreuz sein, ja.
[[Pfeifen und "Stasi in die Produktion"-Gesänge von Demonstranten sind im Hintergrund zu hören.]
MfS-Mitarbeiter 1: Ohne Kommentar. Stasi in die Produktion.
["Stasi in die Produktion"-Gesänge von Demonstranten sind im Hintergrund zu hören.]
MfS-Mitarbeiter 2: Um Gottes Willen!
[Unterbrechung]
MfS-Mitarbeiter 1: Neue Losung auf einem kleinen Schild: "Herr Mittag, wo bleibt Abrechnung, wo bleibt die Abrechnung? Herr Mittag, wo bleibt die Abrechnung?" So dann neues Spruchband: "Keine…"
[Unterbrechung]
MfS-Mitarbeiter 1: Neues Transparent - äh: "Keine Zwang…"
[Unterbrechung]
MfS-Mitarbeiter 1: Neues Plakat, also hier Spruchband: "Scheiden tut weh. Auch Führungsanspruch SED". Nächstes – äh – Spruchband: "Sicheres Ende Deutschlands, deshalb sehr dringende…", was heißt das? "…sehr dringend Pluralismus", joa.
[Überspielung Ende]
[mysteriöse Musik]
Sprecher: Sie hörten…
Sprecherin: "111 Kilometer Akten"
Sprecher: Den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs.