[Jingle]
Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ... ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Ein herzliches Willkommen zur Folge 57. Mein Name ist Maximilian Schönherr. Ich bin einer von zwei Hosts dieses Podcasts und vom Beruf Radiojournalist.
Dagmar Hovestädt: Und ich bin Dagmar Hovestädt, leite die Abteilung Kommunikation und Wissen im Stasi-Unterlagen-Archiv im Bundesarchiv und ich bin die zweite Gastgeberin hier im Podcast.
Maximilian Schönherr: Heute schweifen wir in die Ferne, in der unser Podcast auch gehört wird, nämlich nach Los Angeles. Das Gespräch ist über eine Kontaktaufnahme nach der letzten Podcastfolge des Jahres 2021 entstanden, die wir "Vorgang 2021 abgelegt" nannten. Du hattest da ein paar statistische Daten unseren Hörern und Hörerinnen erzählt und dich gewundert, wer uns außerhalb Deutschlands überhaupt zuhört. Und dann hat sich eine Frau aus Kalifornien gemeldet, die du jetzt, in deinem Urlaub in Kalifornien, für das Gespräch von heute getroffen hast.
Dagmar Hovestädt: Genau so war das und ich habe mich da sehr gefreut, von einer Nutzerin zu hören, die zudem eine aktive Antragstellerin hier bei uns im Archiv ist und ansonsten eben in Kalifornien lebt. Und weil ich dort regelmäßiger vorbeischaue, hat sich ein Gespräch mit ihr nun im März 2022 angeboten.
Maximilian Schönherr: Warum Debby Pattiz, P-A-T-T-I-Z, im Stasi-Unterlagen-Archiv recherchiert und wieso sie auf dem Podcast überhaupt gekommen ist, erfahren wir gleich. Ich würde ganz kurz die Koordinaten festziehen: Eine junge Frau aus den USA kommt zum Studium für ein halbes Jahr nach Rostock in die DDR.
Dagmar Hovestädt: Und das im Jahre 1988.
Maximilian Schönherr: Ja. Mich würde ganz banal interessieren, wie es zu diesem bemerkenswerten Ort kam, an dem ihr euer Gespräch geführt habt. Im Wende-Museum in Los Angeles, ein Museum über den Kalten Krieg, fast auf der diametralen anderen Seite des Erdballs.
Dagmar Hovestädt: Genau so ist das. In meiner längeren Zeit als Journalistin in Kalifornien bin ich über dieses Museum, das sich an einem für das Thema doch sehr außergewöhnlichen Ort - nämlich in Los Angeles unter Palmen am Pazifik - befindet, gestolpert. Genau mit dieser Frage: Wer um alles in der Welt interessiert sich über 5.700 Kilometer von Berlin und der innerdeutschen Grenze und dem Eisernen Vorhang entfernt für diese Teilung und den Eisernen Vorhang? Das Museum ist im Kern 2002 entstanden, weil ein junger Historiker namens Justin Jampol, damals 24 Jahre jung, ein großes Interesse für das Thema Kalter Krieg entwickelte. Und insbesondere davon fasziniert war, dass diese sozialistischen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang einfach verschwanden. So begann er schon in den späten 1990er Jahren als junger Mann Dinge dieser untergehenden Staaten zu sammeln.
Maximilian Schönherr: Zum Beispiel?
Dagmar Hovestädt: Dazu gehören, glaube ich, am Anfang so was wie Flaggen und Banner und diese Pokale über den Held der Arbeit, aber dann auch Gemälde, Bücher, Schriften bis hin zu Telefonzellen. Alles, was sich materiell mit dieser Zeit verbinden lässt, über Staaten, die es so nicht mehr gibt, wurden ein Teil der Sammlung.
Maximilian Schönherr: Damals über Ebay oder kam er nach Berlin?
Dagmar Hovestädt: Also am Anfang zu der Zeit, wo das mit dem Sammeln wirklich begann, war er in England, in Oxford an der Uni, und hat dort sein Geschichtsstudium fortgesetzt und ich glaube, er ist regelmäßiger hier rüber gereist und hat dann ein ziemlich beeindruckendes Portfolio von Händlern, die alle möglichen Arten von Dingen sammeln, die man auf diesem Markt an Museen, sonstige Sammler und so weiter verkaufen kann.
Maximilian Schönherr: Jetzt ist jedenfalls das Museum auch für den Publikumsverkehr geöffnet, mit wechselnden Ausstellungen und einem vielfältigen Programm vor Ort und auch online. Deine persönliche Verbindung zu dem Museum?
Dagmar Hovestädt: Also ich bin von Justin, den ich ja dann in Los Angeles öfter da getroffen habe und das Museum auch ab und zu mal vorgestellt habe in meinen journalistischen Beiträgen, gefragt worden, ob ich Interesse habe, beim Collections Committee mitzumachen. Das ist eine kleine Gruppe von - wir sind, glaube ich sechs, sieben Leute - drei Deutsche, ein-zwei Briten und zwei-drei Amerikaner, die dem Museum sozusagen mit Rat und Tat zur Verfügung stehen. Wie sie mit dieser riesigen Sammlung umgehen, wie sie sie am besten bewahren, wie sie sie digitalisieren, wie sie sie für Forscher und Publikum zugänglich machen. Und wir teilen da alle so ein bisschen unsere Erfahrungen. Wir sind Museumsleute und ich komme aus dem Archiv-Bereich und das passiert so alle drei, vier Monate über eine Videokonferenz.
Maximilian Schönherr: Und wir hören ein bisschen Hintergrundgeräusche bei eurem Gespräch. Woher kamen die?
Dagmar Hovestädt: Na, wir sitzen da im Büro und haben die Tür zugemacht. Aber draußen in der großen Halle des Museums wurde gerade umgebaut für die nächste Ausstellung. Da wird dann gemalert und gezimmert und man hört so ab und zu mal ein paar Gespräche und Geräusche. Die haben damit zu tun, dass da gerade gearbeitet wird.
Maximilian Schönherr: In welchem Stadtteil von L.A. ist das?
Dagmar Hovestädt: Das ist in einem Stadtteil namens Calvert City, in einem Gebäude, das tatsächlich doch auch mit dem Kalten Krieg zu tun hat. Das ist ein früheres Munitionslager oder ein Armory gewesen, das dazu diente, den Amerikanern zu helfen, für den Ernstfall im Kalten Krieg sozusagen da Waffen zu finden und sich sozusagen da aktiv auf die Straße zu begeben.
Maximilian Schönherr: Und nicht nur du hast eine Verbindung zu diesem Museum, sondern Debby Pattiz auch.
Dagmar Hovestädt: Genau. Debby, meine Gesprächspartnerin, war nämlich in diesem Museum im Rahmen ihrer doch umfänglichen Recherchen für ihr Buch und ihre Geschichte und erwähnt in unserem Gespräch noch eine Person aus dem Museum, nämlich Joes Segal. Das ist der Kurator der Ausstellung und der auch das Programm verantwortet.Und wir sollten unsere Hörerinnen und Hörer noch mal kurz darauf einstimmen, dass Debby eine Geschichte von vor über 30 Jahren erzählt. Damals, 1988, sprach sie sehr gut Deutsch und verbrachte eben dieses Auslandssemester an der Uni in Rostock. Lange Jahrzehnte hat sie kein Deutsch mehr gesprochen und jetzt wieder, wie ich finde, hat sie sehr hervorragend zu ihrem Deutsch aus den Uni-Tagen zurückgefunden.
Maximilian Schönherr: Finde ich auch. Wir sollten noch kurz erwähnen, dass sie in den späten 1980er Jahren Studentin der Brown University war, einer angesehenen privaten Hochschule an der Ostküste im Bundesstaat Rhode Island in Neuengland. Da kam sie auch her, familiär?
Dagmar Hovestädt: Nein. Sie ist tatsächlich in Kalifornien geboren und aufgewachsen und hat aber ihre vier Jahre erste Studienzeit an der Ostküste dort an dieser Uni verbracht.
Maximilian Schönherr: Zwei Hochschulprofessoren, die den Austausch zwischen Rostock und Rhode Island beförderten, sollen hier auch schon mal namentlich kurz benannt werden. Das ist auf der DDR Seite Dr. Günter Heidorn und auf der USA Seite Dr. Duncan Smith.
Dagmar Hovestädt: Debby erzählt von vielen lustigen und interessanten Erlebnissen in der DDR und erwähnt dabei auch den Ort Bad Schandau. Und falls man das nicht gleich präsent hat: Der liegt in der Sächsischen Schweiz an der Elbe, kurz vor der tschechischen Grenze. Und das war damals sicherlich auch heute noch ein sehr lohnenswertes Ziel für einen Ausflug.
Maximilian Schönherr: Und gegen Ende des Gesprächs fällt mehrfach die Abkürzung IM.
Dagmar Hovestädt: Die man ja eigentlich kennen sollte, wenn man diesen Podcast schon häufiger gehört hat. Sie steht aber für den Inoffiziellen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, der als Privatmensch Informationen aus seinem Lebensumfeld an die Stasi liefert und das Vertrauen im alltäglichen Umgang damit durchaus missbraucht hat.
Maximilian Schönherr: Dann legen wir mal los und tauchen ein in das Jahr 1988 mit eurem Gespräch aus dem Jahr 2022.
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Man kann sagen, Debby Pattiz, der Podcast hat uns zusammengebracht. Wie ist das passiert? Erzählen Sie den Hörerinnen und Hörern einfach, wie sie darauf gestoßen sind und warum wir heute hier sitzen.
Debby Pattiz: Also ich habe ungefähr vor fünf Jahren angefangen zu forschen, was in der DDR mit mir passiert ist, und ich hörte Ihren Podcasts zu und fühle mich ein bisschen so, als ob wir uns schon kennengelernt haben. Vielleicht fühlen Sie das nicht. Und ich habe Sie zum ersten Mal gehört bei einem Podcast von dem Wende Museum.
Dagmar Hovestädt: Zweites Stichwort: Wir sitzen jetzt hier. Ich bin zufälligerweise in Los Angeles im Wende Museum. Wende Museum des Kalten Krieges. Das heißt, das war für Sie auch eine Ressource für die Geschichte, die Sie recherchiert haben?
Debby Pattiz: Also eigentlich nicht, aber doch eine, eine- - Es hat mir geholfen zu wissen, dass es hier in Los Angeles auch ein Interesse für den Kalten Krieg gab. Und ich habe ein paar Mal mit Joes Segal gesprochen. Ich habe das Museum besucht und ich folge immer Ihren Podcasts und anderen Sachen.
Dagmar Hovestädt: Und da sind Sie dann darüber gestolpert, dass das Stasi-Unterlagen-Archiv auch selber sozusagen aktiv ist im Podcast, in der Podcast Welt.
Debby Pattiz: Ja, ja, ja.
Dagmar Hovestädt: Diese Geschichte oder das, worüber wir uns heute unterhalten, hat eigentlich zwei Teile und der eine Teil ist etwas persönliches. Da geht es um ein Kapitel in Ihrem Leben, das spielt im Jahre 1988 und danach. Und das andere ist das, was heute im Jahr 2022 passiert oder seit fünf Jahren, seit Ihre Recherche begonnen hat. Und ich würde gerne mit dem Kapitel, mit dem früheren Kapitel, anfangen. 1988. Da ist Debby Pattiz eine junge Studentin und findet sich eines Tages hinter dem Eisernen Vorhang in Rostock wieder. Wie ist das passiert?
Debby Pattiz: Also, ich war eine Studentin der Brown University in Providence, Rhode Island in den USA, und ich hatte die Gelegenheit hinter der Mauer ein Semester zu verbringen. Die Brown University hatte zusammen mit der Wilhelm-Pieck-Universität den ersten vollständigen Austausch des Kalten Krieges zwischen der DDR und den USA. Und ich könnte Ihnen gerne ein bisschen von dieser Geschichte erzählen, wenn das von Interesse wäre. Also der erste Teil meiner Forschung war: Wie ist solch ein Austausch gegründet worden oder wie ist er entstanden?
Dagmar Hovestädt: Ja. Wie kann das sein, dass eine amerikanische Universität tatsächlich einen vollständigen akademischen Austausch mit einer sozialistischen Universität in der DDR betreibt? Das ist 1988 erst entstanden. War das der erste Jahrgang?
Debby Pattiz: Nee, nee, nee. Also die Samen des Programms stammten von 1969, als ich noch ein einjähriges Kind war. Richard Nixon wurde gerade zum Präsidenten gewählt und Millionen marschieren im Protest gegen den Vietnamkrieg. Es gab einen Gastprofessor aus der Universität Rostock. Er hieß Dr. Werner Krenkel. Und ich weiß nicht genau warum, aber er hat einen Rundgang an den Elite-Universitäten der Ostküste der Vereinigten Staaten gemacht - im Jahre 1969 schon.
Dagmar Hovestädt: Ein DDR Professor?
Debby Pattiz: Ein DDR Professor. Und an dem Tag, an dem er in der Brown University lehren sollte, bombardiert Nixon Kambodscha. Also, der Unterricht wurde wegen Studentenprotesten abgesagt. Glücklicherweise gab es einen jungen Professor der Brown University, der den Professor Krenkel zum Mittagessen eingeladen hat, und die beiden haben lange gesprochen, vielleicht etwas getrunken, und das war '69. Also, das war die erste Verbindung zwischen Brown University und der Uni Rostock.Und dann in '72 wurde Duncan Smith, der junge Professor der Brown Universität, nach Rostock eingeladen und er ist erst '73 dorthin gefahren. Es ist interessant, weil zu dieser Zeit hatte die DDR und die USA noch keine diplomatischen Beziehungen. Die DDR - wie sagt man das? - trat der UN erst '73 bei und diplomatische Beziehungen mit den USA fangen erst '74 an. Und die US-Botschaft in Berlin, Hauptstadt der DDR, hat in auch '74 geöffnet. Und interessanterweise hat er sich mit Dr. Günter Heidorn getroffen. Dr. Heidorn war zu dieser Zeit noch der Rektor der Uni Rostock. Sie haben gesprochen, er hat sich mit anderen Professoren der Uni getroffen und er kehrt danach zur Brown University mit einer Vereinbarung zurück, für den Austausch von Bibliotheksmaterialien, und auch für die Entsendung von Brown Studenten an einem Hochschul-Ferienkurs in Rostock. Also das waren noch die 70er Jahre. Das hat langsam angefangen mit dem Austausch der Bibliotheksmaterialien. Auf der DDR-Seite bekamen Sie Fachbücher, zum Beispiel in Medizin oder Bereiche wie Technologie oder andere Bereiche, für die die Bücher zu teuer waren.
Dagmar Hovestädt: Also eher der naturwissenschaftliche Bereich, nicht so stark der der Gesellschafts- und Sozialwissenschaften.
Debby Pattiz: Ja, ja und auf der anderen Seite bekam die Brown University eine der größten Sammlungen von DDR-Literatur außerhalb der DDR.
Dagmar Hovestädt: Sehr besonders! Und daraus ist die Idee eines akademischen Studentenaustausches entstanden?
Debby Pattiz: Ja, also '79. Diese Beziehung ist ein bisschen langsam. Sie ist über Jahre ein bisschen gewachsen. '74 gab es diplomatische Beziehungen. Ich glaube, dass ist interessant: '76 wurde Günter Heidorn zum Stellvertretenden Minister für Hoch- und Fachschulwesen befördert und der neue Rektor war dann Dr. Wolfgang Brauer. Die erste Reise von Duncan Smith nach Rostock wurde von IREX unterstützt. Also er hat ein Stipendium von IREX, das heißt "International Research & Exchanges Board", die gegründet war, um kulturelle Austausche zwischen den Ländern im Osten und Westen zu unterstützen. Und er hat ein Stipendium für die Reise in die DDR, mehrmals hat er ein Stipendium für die Reise in die DDR bekommen. Ja, es gab eine gute Beziehung zwischen Duncan Smith und diesem Programm. Also, es gab Teile in der DDR, die dieses Programm erweitern wollten und andere, die es beschränken wollten. Ich glaube, Sie können erraten, wer war wer. Das US-Außenministerium war auch sehr interessiert, Initiativen wie Kulturaustausch mit der DDR aufzubauen.
Dagmar Hovestädt: Und das ist dann vielleicht mit Ronald Reagan und der größeren Entspannung in Mitte der 80er Jahre durch die Begegnung mit Gorbatschow vielleicht sogar befördert worden?
Debby Pattiz: Ja, also mit Günter Heidorn: Er wurde 1977 eingeladen von den USA, eine Kulturdelegation in den USA zu leiten und es wurden Memos des US-Außenministeriums entdeckt, dass, als er zurück nach Deutschland in die DDR kehrte, er beschrieben hatte, dass er unangenehme Erfahrungen bei den Universitäten Princeton und Columbia hatte. Und danach in '79 - also das war '77, da hat er diese Reise gemacht und er ist Minister jetzt. Und '79 ist plötzlich diese Vereinbarung von der DDR-Botschaft in Washington an die Brown Universität gesendet worden, also die Vereinbarung oder eigentlich der Vertrag. Die DDR-Botschaft hat einen Vertrag nach Brown gesendet für einen vollständigen Austausch von Wissenschaftlern und Studenten für ein ganzes Semester. Vorher gab es dieses dreiwöchige Programm während des Sommers in Rostock nur für Brown Studenten, die in die DDR reisen wollten, um Deutsch zu studieren. Das war eine Sache. Jetzt haben wir Ende '79 plötzlich einen Vertrag für die Entsendung von Studenten und Wissenschaftlern in beide Richtungen um viele, viele Fächer zu studieren. Und es gab viel Zusammenarbeit zwischen den zwei Seiten.
Dagmar Hovestädt: Und weiß man warum, das da passiert ist? Späte 70er Jahre?
Debby Pattiz: Ja, also es hat ein bisschen mit dem Helsinki Abkommen zu tun. Also das wurde '75 unterzeichnet und ein Teil des Helsinki Abkommens hatte damit zu tun, kulturelle Beziehungen zwischen den zwei Blöcken aufzubauen. Und die Kommission für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wollte auch diese Initiative unterstützen. Also das waren die Mitte 70er Jahre. Günter Heidorn ist als Teil eines kulturellen Austausches, einer Kultur Delegation, gekommen. Und dann, kurz danach, hatten wir diese Einladung, um einen Vertrag zu schließen mit den USA, mit der Brown Universität für diesen vollständigen Austausch.
Dagmar Hovestädt: Was passiert in den 80er Jahren? Das heißt, das ist ja alles noch unter Präsident Carter.
Debby Pattiz: Und in den 80er Jahren hatten wir neue Führer im Weißen Haus und im Kreml auch. Und der Kalte Krieg wurde ein bisschen kälter. [lacht] Aber es war 1980 oder vielleicht '81, da ist die erste Brown Studentin nach Rostock gegangen für ein ganzes Semester und danach in den folgenden Jahren waren es jedes Semester mindestens ein oder zwei. Als ich in 1988 ging, waren wir sechs. Und auch Wissenschaftler waren Teilnehmer in diesem Programm und es gab viel Zusammenarbeit zwischen den deutschen Wissenschaftlern und Studenten und denen von der Brown Universität, viele Wissenschaftler und Forschungsstudenten. Also von der Brown Seite waren wir ein bisschen jünger. Ich war 20 Jahre alt. Ich war noch ein Junior. So '76, nachdem Günter Heidorn zum stellvertretenden Minister für Hoch- und Fachschulwesen befördert worden war, haben sie auch - ich weiß nicht wer - den Namen von der Universität Rostock in Wilhelm Pieck Universität geändert, um den ersten Präsidenten der DDR zu ehren. Jetzt ist es wieder Universität Rostock. Als ich dort in Rostock war, hieß die Uni noch WPU - Wilhelm-Pieck-Universität.
Dagmar Hovestädt: Das heißt, bevor wir das vergessen, es gehen nicht nur Amerikaner nach Rostock, sondern es kommen auch Rostocker von der Universität zumindest, die da Studenten sind oder Lehrkräfte, nach Brown an die Ostküste der USA, nach Rhode Island?
Debby Pattiz: Ja.
Dagmar Hovestädt: Hatten Sie Gelegenheit, dort die DDR-Studenten oder -Lehrenden auch mal zu treffen, bevor Sie selber gegangen sind?
Debby Pattiz: Ich nicht. Also ich nicht. Ich glaube ein paar andere Brown Studenten schon. Ich war kein Deutsch-Student. Mein Fokus war internationale Beziehungen. Ich habe Deutsch schon als ich ein bisschen jünger war studiert. Ich studierte auch in Hannover, im Westen in '84 und ich habe nicht viel Deutsch an der Brown Universität studiert. Also ich glaube die meisten, die kamen, waren sehr eng mit der Deutsch-Abteilung zusammen und das war nicht mein Zuhause an der Uni in Brown. Also ich kannte sie nicht, aber vielleicht andere schon.
Dagmar Hovestädt: 1988, was bringt eine 20-jährige amerikanische Studentin dazu, nach Rostock zu gehen? Die Welt ist groß, also ausgerechnet die DDR ist interessant?
Debby Pattiz: Ja, weil ich schon '84 in Hannover im Westen studierte, fragte ich mich: Wie unterschiedlich können die Menschen sein, die auf der anderen Seite in einem geteilten Land leben? Ich war auch ein Kind des Kalten Krieges und damals in Amerika, als ich aufgewachsen bin, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang lächeln und lachen konnten. Dass sie ein gemütliches Zuhause hatten, dass sie einen schönen Alltag hatten. Und gleichzeitig konnte man es sich doch vorstellen, dass auf jeden beliebigen Tag die Welt untergehen konnte. Also ich war neugierig. Ich war interessiert an der Welt und ich glaubte nicht an die, sagen wir, Propaganda oder das Bild, welches unsere Seite uns zeigte. Es konnte nicht stimmen, dass alle zu hundert Prozent unglücklich waren. Und ich wollte mit meinen eigenen Augen sehen, was dort passiert.
Dagmar Hovestädt: Und was haben Sie dann gesehen in Rostock?
Debby Pattiz: [lacht] Mein erster Eindruck ging um die Luft. Also es gab einen Sepia Himmel und so etwas hatte ich nie vorher gesehen. Man konnte den Himmel nicht nur sehen, sondern auch schmecken, riechen und so weiter, also wegen Trabi-Dämpfen und Kohle und so weiter und es war Februar, also Winter. Aber andere Eindrücke gingen um die Menschen. Normalerweise, wenn man sich in einem fremden Land befindet, kann es oft eine - wie heißt es - Flitterwochenzeit geben und also für mich war das schon so. Ich fand alles faszinierend und ich fand die Menschen freundlich. Sie waren ziemlich ordentlich und viel mehr gepflegt, als ich selber war, viel mehr organisiert, sagen wir. Es gab überall Kinder. Und ja, ich war auch von den überall hängenden Bannern vom Weltfrieden ein bisschen überrascht. Das hatten wir bei uns nicht und ich fragte mich: Warum nicht? Also Weltfrieden ist doch eine gute Idee. So, das waren meine erste Eindrücke.Es gab auch viele Eigenarten der DDR, die ich amüsierend fand. Zum Beispiel: Man konnte Dosenöffner nicht kaufen, aber ein großer Teil der Lebensmittel kamen doch in Dosen oder ich habe zum Beispiel eine in der DDR produzierte Touristen-Postkarte gekauft, aber die Post-Frau wollte die nicht stempeln, weil sie zu groß zum Versenden war. Also solche Eigenarten haben mich ein bisschen amüsiert und ich war eine sehr, sehr naive junge Frau und sehr offen und ja.
Dagmar Hovestädt: Hört sich eigentlich interessant an, auch gerade, wenn man mit so einem ganz offenen Gemüt und Geist da reingeht. Dann sind Sie in den Alltag eingestiegen, sind an die Uni gegangen und haben sich durchaus da auch einfach integrieren können. Sie haben gesagt, Sie waren sechs Studentinnen und Studenten aus Rhode Island?
Debby Pattiz: Ja.
Dagmar Hovestädt: Da gab es vielleicht auch einen guten Bezugspunkt mit anderen Amerikanern, aber konnte man auch mit den Rostockerinnen und Rostockern Kontakt aufnehmen?
Debby Pattiz: Doch, also Universitätsstudenten, Studiengruppen. Also ich wohnte alleine, also nicht mit den anderen amerikanischen Studentinnen zusammen. Ich war im Hochhaus Eins in der Albert-Einstein-Straße, andere waren in der Schlesinger Straße oder Thierfelderstraße. Also wir waren nicht zusammen. Wir haben uns natürlich ab und zu getroffen, aber hauptsächlich war ich mit meinen deutschen Freunden und anderen Studenten zusammen. Ich hatte eine sehr tolle Mitbewohnerin, wir sind sehr enge Freunde geworden während der Zeit, die wir zusammenlebten, die fünf Monate.
Dagmar Hovestädt: Es war bestimmt für die auch eine interessante Variante, mit dem - ich sag jetzt mal - Klassenfeind, dem amerikanischen Klassenfeind, dem Imperialisten, direkt in Berührung zu kommen. Konnte man das merken im Alltag oder war das irgendwann einfach irrelevant, weil man sich gut verstanden hat und man geht zusammen zur Uni und der Rest war dann gar nicht mehr so wichtig?
Debby Pattiz: Ja doch. Also als ich dort war, hatte ich nicht verstanden, dass ich ein Klassenfeind war und es gab etwas, aber man wusste nicht was und es gab auch viel Schweigen, viel Stille, viele Sachen die man nicht sagen durfte oder viele Sachen, über die man nicht fragen konnte.
Dagmar Hovestädt: Das heißt, Sie konnten merken: Wenn man eine Frage stellt, gab es keine Antwort? Oder wurde das abgeblockt?
Debby Pattiz: Ja, ich glaube, es hatte mehr mit inneren Kontrollen zu tun. Das haben wir auch gefühlt, dass man solche Sachen nicht fragen sollte. Wir haben nie gefragt: "Dürfen wir das fragen?" Aber man hat das gefühlt, dass man solche Sachen, bestimmte Sachen, nicht fragen soll. Zum Beispiel: Ich war mit meiner Mitbewohnerin sehr eng und ich habe ab und zu gefragt, ob wir das oder das oder das machen könnten. Und sie hat immer gesagt: "Ja, theoretisch ja, praktisch aber nein." Man konnte diese Sachen machen, aber man wollte diese Sachen nicht machen. Man verstand nicht genau, warum diese Sachen nicht tun wollte, aber man wusste das schon.
Dagmar Hovestädt: Haben Sie noch ein Beispiel dafür?
Debby Pattiz: Ja, sicher. Also, es war 1988, eine Zeit vor Handys, Computern, Signal, Whatsapp, E-Mail und so weiter. Kein Internet. Und bei der Brown Universität, wenn man sich - wie auf Social Media - mit Freunden treffen wollte, ging man einfach zu dem Zimmer und klopfte an die Tür und dann saßen wir stundenlang auf dem Flur. Ich war ein bisschen überrascht, dass das in Rostock niemand macht. Und eines Tages saß ich im Flur und es sind ein paar Studenten vorbeigekommen und haben gefragt: "Debby, was machst du da?" - "Ach, ich sitze auf dem Boden im Flur." Ich habe sie eingeladen mitzumachen. Sie waren ein bisschen nervös, haben ein bisschen gelächelt: "Ha ha ha [gekünsteltes Lachen], okay." Und das haben wir ein Mal gemacht. Sie haben gefragt: "Ist das ein Sit-in? Machen wir einen Sit-in?" Und ich dachte: Ja, ich bin ein Trendsetter [lacht] aus Amerika hier in der DDR, aber das war ich doch nicht. Das haben wir nie wieder gemacht.
[Jingle]
Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Das war ein halbes Jahr - ne? - oder fünf Monate in Rostock.
Debby Pattiz: Ja.
Dagmar Hovestädt: Waren Sie da auch mal in Ost-Berlin?
Debby Pattiz: Ich war ein paar Mal in der Hauptstadt. Und ich bin von Rostock nach Bad Schandau mit Freunden getrampt. Das war ein ganz tolles Abenteuer für mich. Interessanterweise sind wir auf der Rückfahrt - wir gingen von Bad Schandau nach Berlin nach Greifswald, um die Eltern meiner Mitbewohnerin zu besuchen - und unterwegs von Berlin nach Greifswald wurden wir von einem LKW abgeholt und ich glaube, die Fahrer wussten nicht, dass ich aus den USA stammte. Wir haben ein bisschen darüber gesprochen und sie waren überzeugt, weil ich hatte blonde Haare und blaue Augen, sah deutsch aus. Klar, meine Aussprache ist nicht deutsch, aber es gab zwei Fahrer und sie haben sich untereinander ein bisschen besprochen: "Woher kommt sie? Es muss Polen sein." - "Nein", sagte der andere, "aus der ČSSR." Dann endlich zeigte ich ihnen meinen Pass, um zu zeigen, dass ich aus Kalifornien stamme. Und dann sind wir plötzlich auf eine Militärbasis gekommen. Das war ein LKW, sie mussten auf die Militärbasis und hatten einen illegalen Staatsfeind mit. Und sie schoben mich auf den Boden, stellten Rucksäcke und so weiter auf mich. Also, ich wurde illegal auf eine nordöstliche DDR-Militärbasis geschmuggelt.
Dagmar Hovestädt: Das heißt, der Alltag war bisweilen durchaus etwas anders als zu Hause. Nicht nur, dass das Trampen ja vielleicht auch in den USA nicht ganz so einfach war. Das hätte man da wahrscheinlich nicht machen können.
Debby Pattiz: Nein, hätten wir nicht machen können. Also man sah die Unterschiede zwischen den zwei Systemen. Eine andere Geschichte geht um ein Gespräch, das ich mit Studenten aus der Lateinamerikawissenschaftsabteilung gehabt habe. Also, ich saß in einem Café mit Studenten von der Lateinamerikawissenschaft und wir haben über das und das und das, über Wirtschaft und so weiter gesprochen. Dann hat einer von ihnen erklärt, dass wir in den USA keine Freiheit hätten. Das hätten sie dort in der DDR. Ich war überrascht und hatte nichts dazu zu sagen. Wie ist das möglich, dass ihr hier in der DDR Freiheit habt, und wir? 'Land of the free and home of the brave' - das haben wir doch! In Amerika geht es um Freiheit. Letztendlich haben wir ihre "Freiheit" uns unsere "freedom" ein bisschen weiter erklärt. Und sie sagten: "Für uns hier in der DDR heißt Freiheit, dass jeder Arbeit hat, jeder eine Wohnung hat, jeder Medizin hat, jeder eine gute Ausbildung hat und so weiter." Und es war eine ganz unterschiedliche Bedeutung von Freiheit, als wir in den USA hatten.
Dagmar Hovestädt: Was haben Sie denen erzählt über den Freiheitsbegriff in den USA?
Debby Pattiz: Ich glaube, das wussten sie schon. Sie waren ein bisschen provokativ mit der Frage. Dies waren die Studenten der Lateinamerikawissenschaft und sie waren die zukünftigen Diplomaten in Zentral- und Südamerika für die DDR und sie mussten üben, wie man mit kapitalistischen Feinden diskutiert. [lacht] Also, ich glaube, sie wussten es schon und waren hauptsächlich neugierig, wie wir auf die DDR-Bedeutung von Freiheit reagieren würden.
Dagmar Hovestädt: Sehr interessante Begegnung. [lacht]
Debby Pattiz: Ja! [lacht]
Dagmar Hovestädt: So, jetzt sitzen wir drei Jahrzehnte später - noch ein bisschen länger als drei Jahrzehnte - zusammen und es gibt den Versuch von Ihnen, diese Geschichte, Ihre Zeit in der DDR, viele viele Jahrzehnte später noch einmal aufzuarbeiten und ein Buch zu schreiben. Und das bringt uns zum zweiten Teil, nämlich auch, warum Sie über den Podcast gestolpert sind: weil Sie auch im Stasi-Unterlagen-Archiv angefangen haben zu recherchieren. Setzen Sie mal ganz kurz den Rahmen: Warum war das irgendwann wieder interessant für Sie, sich mit dieser Geschichte zu beschäftigen? Und dann natürlich die zweite Frage: Was haben Sie im Archiv gefunden, was Ihnen die Zeit in Rostock vielleicht auch noch mal in ein neues Licht gesetzt hat?
Debby Pattiz: Eines Tages saß ich in einem Café, im "Café Rostock", meinem Lieblingscafé.
Dagmar Hovestädt: Damals noch? 1988?
Debby Pattiz: Damals, 1988. Es geht um Ihre Frage, aber das ist der Hintergrund: Also, ich saß in einem Café - im "Café Rostock" - mit einer Amerikanerin, einer anderen Brown-Studentin. Wir wurden von einer DDR-Studentin befreundet und haben uns ein paar Mal getroffen. Sie war sehr schön und lieb und ich kannte sie nicht sehr gut, aber sie hat uns eines Abends in ihre Wohnung eingeladen. Wir sind dorthin gelaufen, haben uns ein bisschen unterwegs verloren, aber wir haben es geschafft. Wir gingen hoch und sprachen über, wer was weiß, und dann plötzlich hat sie die Musik sehr laut gemacht. Sie ging zur Tür und guckte durch die Tür, ob jemand da draußen ist. Sie ging zum Fenster und schaute runter auf die Straße. Dann machte sie die Musik noch lauter, dann hat sie angefangen zu flüstern. Sie hat uns von ihrer Kirche ein bisschen erzählt, von ihren Aktivitäten mit der Opposition der DDR, und sie hat uns illegale Flugblätter gezeigt. Die andere Amerikanerin und ich wussten nicht, was wir damit zu tun hatten und wie wir das - also, es war wie ein Spion-Film, als ob wir in einem Spion-Film waren. Aber wir wussten nicht, was unsere Rollen sein sollten. Dann ist Duncan Smith nach Rostock gekommen, eine Woche später ungefähr. Es war Ende März und wir hatten einen Abend mit ihm. Ich hatte immer das Gefühl, dass noch ein Mann dabei war. Wer er war, weiß ich nicht, aber ich hatte auch das Gefühl, dass er einen - wie heißt das? - Aufnahmeapparat mit hatte. Also, wir haben uns auch viel Wein mitgebracht, wir haben getrunken und erzählt von unseren Abenteuern in der DDR und so weiter. Und ich glaube, sie haben uns gefragt, ob wir irgendwelche jungen Menschen getroffen haben - außerhalb von unseren Studiengruppen.
Dagmar Hovestädt: Also, bei dem Abendessen mit Duncan Smith war noch jemand mit dabei?
Debby Pattiz: Ich glaube. Ich dachte, ich erinnere das. Aber wer er war, wusste ich nicht mehr. Ob ich das zu der Zeit wusste, weiß ich auch nicht mehr. Ich glaube, sie haben gefragt, ob wir von jungen Menschen außerhalb unserer Studiengruppen befreundet wurden. Wir haben etwas von unseren Freunden erzählt, aber dann hatte ich ein schreckliches Gefühl und wir haben aufgehört, über sie zu reden. Dann, eine Woche später - oder ich weiß nicht, wie viel später -, gingen wir sie wieder besuchen und sie war verschwunden. Ich habe sie nie wiedergesehen. Ich war 20 Jahre alt, das war zu viel für mich, das zu verstehen. In meinem Tagebuch beziehe ich mich auf eine dunkle Zeit. Ich habe mich immer gewundert, was mit ihr passiert ist. Hat es etwas mit uns zu tun? Hat es etwas mit der Stasi zu tun? Ja, und 30 Jahre lang war das immer in meiner Erinnerung. Ich wollte endlich wissen, ob ich herausfinden konnte, was da war: Wer war sie, was ist passiert, hat das etwas mit der Stasi zu tun, hat das etwas mit Duncan Smith zu tun, warum gab es überhaupt diesen Austausch? Wir hatten keine Vorbereitung von der Brown University, wie man mit so was umgeht.
Dagmar Hovestädt: Also hat Brown Sie auch nicht in dem Sinne vorbereitet, zu sagen: "Da gibt es so etwas wie ein Ministerium für Staatssicherheit, die achten besonders auf Ausländer, die können euch auch irgendwo einfangen."? Das hat man alles nicht erzählt?
Debby Pattiz: Das hat man ganz kurz erklärt. Klar, wir wussten, es gab eine Stasi, aber auch die DDR-Bevölkerung wusste damals nicht besonders viel darüber. Also, sie wussten es schon. Ich kannte nur ihren Vornamen und ich hatte nur ein Foto von ihr, wo sie auf meinem Bett in meinem Zimmer saß. Und das war alles. Also, mit einem Namen und einem Foto wollte ich diese junge Frau aus meiner Vergangenheit vor 30 Jahren finden. Das war mein Ziel. [lacht]
Dagmar Hovestädt: Das war der Beginn der Reise? Das war vor ungefähr fünf Jahren, haben Sie gesagt, ne?
Debby Pattiz: Ja.
Dagmar Hovestädt: Sie sind auf dieser Reise ein ganzes Stückchen vorangekommen. Dazu haben Sie etliche Archive und Zeitzeugen und viele Dinge gewälzt. Haben Sie die Geschichte dieser jungen Frau ein bisschen weiter aufklären können?
Debby Pattiz: Ja, also, dann müssen Sie das Buch lesen, um diese Seite der Geschichte zu lernen. [lacht] Ich habe ein Buch darüber geschrieben. Der erste Schritt war für mich, einen Antrag auf Akteneinsicht zu stellen, und das habe ich gemacht. Aber in der Zwischenzeit hatte ich ganz wenig Deutsch gesprochen und nie gelesen. Natürlich, wenn man beim Stasi-Unterlagen-Archiv forscht - man kann den Antrag auf Englisch stellen, aber danach ist alles auf Deutsch. Also, ich musste Deutsch wieder lernen, wieder aufwecken. Es geht auch darum, wie die Berichte in Stasi - also die Sprache von Stasi-IMs und Hauptamtlichen Mitarbeitern der Stasi und so weiter ist. Also, das ist kein normales Deutsch! Um die Berichte zu lesen, musste ich auch Stasi-Deutsch lernen. Und es ging auch darum, dass - mir wurde gesagt, ich weiß nicht, ob es stimmt, vielleicht können Sie das erklären -, dass die Handschrift, die in der DDR in den Schulen gelehrt wurde, anders war als die Handschrift von Deutschen aus dem Westen. Weil die Partei oder die Stasi nicht wollte, dass das alles ganz einfach zu lesen war. Für mich war die DDR-Handschrift sehr, sehr schwierig zu verstehen. Und diese IM-Berichte sind alle mit DDR-Handschrift geschrieben. Also, es war schwierig für mich, muss ich sagen, die Akten, die ich aus dem Archiv bekam, zu lesen. Aber ich habe das geschafft. [lacht]
Dagmar Hovestädt: Das heißt, Sie haben in Rostock wahrscheinlich Einsicht nehmen können oder die Rostocker Unterlagen gesehen und haben tatsächlich zu Ihrer Person auch etwas in den Unterlagen gefunden?
Debby Pattiz: Also, erstens habe ich zu meiner Person etwas gefunden. Dann habe ich auch einen Medienantrag gestellt und das gibt mir einen breiteren Zugang zu meiner Geschichte.
Dagmar Hovestädt: Da haben Sie dann auch Unterlagen gefunden über Ihr Studien-Dasein? Das hat mich ja interessiert: Hätten Sie gedacht, dass die Stasi Sie wichtig genug findet, um Unterlagen über Sie anzulegen?
Debby Pattiz: Eine interessante Geschichte, um diese Frage ein bisschen zu beantworten - also, ich möchte nicht zu viel darüber sprechen, bis das Buch veröffentlicht ist -: Das Interesse der Stasi an meinen Briefen, meinem Briefschreiben, leitet dazu, dass einer von meinen frühesten Briefen und seine deutsche Übersetzung mir von Ihrem Archiv zurückgegeben wurden. Das war sehr interessant. Wie sie meine Briefe übersetzt haben, ist ganz komisch.
Dagmar Hovestädt: Ach, es waren Briefe, die Sie auf Englisch nach Hause geschickt hatten und die die Stasi abgefangen hatte?
Debby Pattiz: Ja. Dann haben sie ihn übersetzt in Deutsch und das war ein ziemlich unterschiedlicher Brief zu dem, den ich zuerst geschrieben habe.
Dagmar Hovestädt: Der Brief hat aber seinen Adressaten in den USA erreicht?
Debby Pattiz: Ich weiß es nicht. Ich glaube schon.
Dagmar Hovestädt: Es ist interessant, dass man seine alten Briefe, von der Stasi übersetzt, in den Unterlagen gefunden hat. [belustigt]
Debby Pattiz: Ja. [lacht]
Dagmar Hovestädt: Hat das Ihre Erinnerung an die Zeit in Rostock verändert, zu wissen, dass da im Hintergrund jemand war oder ein paar Menschen damit beschäftigt waren, Sie zu beobachten und was Sie tun, und das einzuordnen?
Debby Pattiz: Ja, schon. Klar. Und durch meinen Medienantrag habe ich viel mehr über das Programm verstanden. Es gab Kräfte innerhalb der Universität und innerhalb der Bezirksverwaltung in Rostock, die gegen den Austausch waren. Es gab andere Kräfte, die für den Austausch waren. Und am Ende mussten natürlich die Leiter in Berlin entscheiden, ob es weitergeht oder nicht. Und sie haben beschlossen, dass wegen dem "access" [Zugang] zur Technologie, besonders Computing, war- -
Dagmar Hovestädt: Ja, der Zugang zu Computern, Technologietransfer, ne? Das war ja die Möglichkeit, die drinsteckte in dem Austausch.
Debby Pattiz: Ja, das war sehr wichtig für sie. Und deshalb haben sie erlaubt, dass dieses Programm weitergeht. Aber 1988 gab es eine Aufruhr in den Akten und es war interessant für mich zu lesen, wie die IMs die ersten Berichte - Also, bei der Aufruhr ging es um ein Buch, das Duncan Smith geschrieben hatte. Sie waren sicher, das war von der CIA geplant und es war gegen die DDR. Wir waren wütend, wütend auf Duncan Smith wegen dieses Buches.
Dagmar Hovestädt: Worum ging es in dem Buch?
Debby Pattiz: Es heißt "Walls and Mirrors". Es ging um real existierenden Sozialismus in der DDR und wie er es beobachtet hat. Von unserer Seite, also wenn die CIA das Buch gelesen hätte, dann hätten sie gesagt: "Das ist ein Kommunist. Das ist gegen die USA." Aber die Stasi und die Partei haben gesagt, dass das Buch gegen den Sozialismus war. Nach diesem Buch und auch nach meiner Gruppe - wir waren 1988 da - gibt es sehr interessante Berichte am Ende 1988, wie die Stasi die Brown-Studenten und ihre Betreuerinnen und Mitbewohnerinnen stärker unter Kontrolle bringen könnten. Zum Beispiel wollten sie Wanzen in den Zimmern verstecken und so weiter und uns besser kontrollieren. Aber es gab auch Probleme, weitere IMs zu gewinnen, weil sie auch sehr mit den Kirchen beschäftigt waren und mit den anderen Studenten der Universität, die unter Bewachung bleiben mussten. Und um genügend junge Menschen anzusprechen, die sie für die Stasi wollten, hatten sie am Ende der 80er-Jahre Schwierigkeiten und mussten zwischen den verschiedenen Abteilungen ein bisschen die IMs untereinander teilen. Ich habe das auch sehr interessant gefunden.
Dagmar Hovestädt: Das heißt, Sie haben schon so einiges gefunden, das für Ihr Buch und für Ihre Suche nach dem Geheimnis um diese verschwundene junge Frau, die Sie kennengelernt haben, eine Rolle spielt. Sie haben aber auch außerhalb des Archivs noch Zeitzeugen gefunden und mit vielen anderen Leuten gesprochen. Das heißt, das Buch ist noch in einer letzten Phase, noch nicht ganz fertig. Wann wird es ungefähr fertig? Und vor allen Dingen: Gibt es schon einen Titel?
Debby Pattiz: Ich habe mit vielen Zeitzeugen gesprochen. Also, ich bin zurückgegangen und habe alte Freunde gefunden. Ich habe auch mit Professoren, Geschichtlern und Ihren Kollegen in Rostock und auch in Berlin gesprochen. Ich habe mit Pfarrern aus Rostock gesprochen - in Psychologie [lacht wegen Schwierigkeiten mit der Aussprache] -
Dagmar Hovestädt: Psychologen, ja.
Debby Pattiz: Psychologen und so weiter, um alles besser zu verstehen. Und dann habe ich eine ganz neue Gruppe von Menschen, die 1988 Jugendliche in Rostock waren - die Menschen, die ich nicht kennenlernen sollte, und ich habe die dort damals nicht kennengelernt. Das war auch sehr interessant, ihre Perspektive. Also, wir wussten nicht, als wir dort waren, dass die einzelnen Menschen waren nicht ausgewählt waren für uns, aber die Gruppe von Universitätsstudenten war schon ausgewählt. Sie wollten, dass wir innerhalb dieser Studiengruppen und dieses Universitätssystems blieben und uns nicht mit kirchlichen oder andersdenkenden Menschen und so weiter treffen. Und das hatte ich damals nicht richtig verstanden, wie kontrolliert unsere Begegnungen waren. Deshalb war es auch so ungewöhnlich, dass wir diese junge Frau kennenlernten. Sie hatten eine weitere Frage dazu.
Dagmar Hovestädt: Zu viele Fragen in einem gestellt. [lacht]
Debby Pattiz: [lacht]
Dagmar Hovestädt: Ob das Buch einen Titel hat und wann es denn vielleicht fertig ist?
Debby Pattiz: Ja, also, es gibt einen Titel, es ist ein "working title". Mal sehen, ob das der Titel bleibt. Ich hoffe, es wird bald veröffentlicht werden.
Dagmar Hovestädt: Noch im Jahr 2022?
Debby Pattiz: Mal sehen.
Dagmar Hovestädt: Dann wünsche ich jedenfalls viel Kraft, Energie, noch gute Begegnungen, viel Sitzfleisch - Schreiben ist eine lange, anstrengende Arbeit -, und dann freue ich mich, wenn das Buch draußen ist. Ich freue mich sehr, dass wir uns heute hier treffen konnten und dass Sie die Zeit hatten, uns von Ihrer Geschichte in Rostock 1988 und Ihrer Recherche zu erzählen. Vielen Dank, Debby Pattiz!
Debby Pattiz: Ich danke Ihnen auch, Dagmar! Es war sehr interessant für mich und ich bin auch Ihren Kollegen, die sehr geduldig mit mir waren, als ich mein Deutsch ein bisschen aufweckte - vielen Dank für die Gelegenheit, meine eigenartige Geschichte Ihren Zuhörern, Ihrem Publikum, mitzuteilen.
Dagmar Hovestädt: Gerne!
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Das war die Buchautorin und ehemalige Austauschstudentin Debby Pattiz. Ihr habt über ihre Recherchen zu ihrem Buch über ihre Zeit als amerikanische Studentin an der Uni in Rostock im Jahr 1988 gesprochen. Es ist ihr erstes Buch und sie hofft, es im Laufe dieses Jahres veröffentlichen zu können.
Dagmar Hovestädt: Kein Ende des Podcasts ohne eine akustische Begegnung mit dem riesigen Audiopool des Stasi-Unterlagen-Archivs, wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben.
[Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Im Bestand der Bezirksverwaltung Erfurt fand sich der Ton zu einem Diavortrag zu Schulungszwecken, erarbeitet durch die Abteilung XIV, die für Gefangenentransporte, Sicherung und Unterbringung Gefangener, den Betrieb der Haftanstalten und die Organisation des Strafvollzugs verantwortlich war. Der sperrige Titel: "Möglichkeiten, Erscheinungsformen und Zielstellung der Nachrichtenübermittlung Beschuldigter im Untersuchungshaftvollzug an Dritte". Kurz: Es geht um Kassiber - um den Begriff, Mittel und Methoden der Herstellung, Ziele der geheimen Mitteilungen und natürlich um Maßnahmen der Verhinderung. Und es geht auch um die persönliche Verantwortung des Wachpersonals für die innere und äußere Sicherheit. Von 40 Minuten hören wir jetzt drei.
[Archivton]
[männlicher Sprecher:] In den Untersuchungshaftanstalten versuchen Inhaftierte mit vielfältigsten Mitteln und Methoden Verbindungen untereinander sowie zu Personen außerhalb der Untersuchungshaftanstalt herzustellen. Die Praxis der politisch-operativen Arbeit, die Wach-, Sicherungs- und Kontrolltätigkeit zeigt, dass die Inhaftierten zur Anfertigung von Kassibern in der Regel solche Hilfsmittel benutzen, die ihnen im Rahmen der Hausordnung zugänglich sind. Dazu missbraucht werden zum Beispiel: Streichhölzer (nach Anfeuchten der Kuppen oder Abbrennen), Marmelade (nach dem Eindicken), Zahnpasta sowie Zahnpasta-Tuben, Bleistift (durch Zurückbehalten von Minenresten), Tabak (nach Aufweichen von Resten), Tagespresse (nach dem Abreißen oder Trennen von Teilen und Fragmenten), in Seife eingeritzter Text oder ein Neueinkneten eines Schriftträgers, Bücher (durch Einschreiben, Einritzen, Markieren von Wörtern oder Zahlen). [Piepton]In besonderen Fällen nutzen Inhaftierte auch Möglichkeiten der geheimen Nachrichtenübermittlung, [elektrisch knisternd: die bei entsprechender Sachkenntnis] auch mit einfachen Mitteln angefertigt werden können, weil sie häufig latent bleiben oder relativ schwer erkennbar sind. Dies sind vor allem Geheimschriften, angefertigt durch Urin, Milch, sympathetische Tinte, verschiedenartigste Lösungen und Emulsionen, Kosmetika und Medikamente. Geheimschriften dienen vor allem der geheimen Nachrichtenübermittlung. [Piepton]Es ist zwischen sichtbaren und unsichtbaren, latenten sowie zwischen verschlüsselten und nicht-verschlüsselten Geheimschriften zu unterscheiden. Diese Geheimschriften können durch spezielle chemische und physikalische Verfahren sichtbar gemacht werden. Zur Verschlüsselung von Schriften werden die verschiedensten Systeme angewandt. Am häufigsten solche, bei denen die normalen Schriftzeichen durch Zahlen, besondere Zeichen oder andere Buchstaben ersetzt werden. Latente Spuren sind mit bloßem Auge nicht sichtbar. Durch die Beschaffenheit des Spurenträgers, Farbe, Oberflächenstruktur und der verwendeten Substanz kann teilweise schon mit einfachen Licht- und Temperaturveränderungen eine Auswertung des Kassibers möglich sein.
[Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."