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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ...ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Dagmar Hovestädt: Ein Hallo und Willkommen zur 52. Folge. Ihre Podcast-Gastgeber: Das bin ich, Dagmar Hovestädt, Leiterin der Abteilung Kommunikation und Wissen im Bundesarchiv im Bereich Stasi-Unterlagen-Archiv, und Maximilian Schönherr, Radio-Journalist und intensiver Nutzer von Archiven.
Maximilian Schönherr: Diktaturen erzeugen Leid auf vielen Ebenen. Die heutige Folge des Podcasts erzählt von psychischen Störungen durch Haft bei der Stasi, aber auch durch andere Formen von staatlicher Misshandlung. Mir persönlich war das Thema nicht so präsent, vermutlich weil ich in der DDR Menschen kannte, vor allem Tante und Onkel, die ein ziemlich zufriedenes Leben führten. Die wären lieber im Westen gewesen, aber waren recht zufrieden. Und auf der anderen Seite aus den Akten dann wiederum Extremfälle, wie Strafprozesse, kenne ich, die mit Todesurteilen endeten. In Folge 2 unseres Podcasts sprach ich mit Anne Pfautsch, einer jungen Akademikerin aus Halle, die als Kind das Schweigen in ihrer Familie spürte und als Erwachsene nun versucht, alles aufzuarbeiten. Das heißt, die Traumata der DDR-Diktatur betreffen und bedrücken auch die nachfolgende Generation, vielleicht Generationen. Darüber hattest du Dagmar, ja auch schon mal mit drei Menschen der "Dritten Generation Ost" in der Folge 8 gesprochen. Warum sollte 30 Jahre nach Ende der DDR alles Leid begraben sein? Natürlich wird ein junger Punk, der - sagen wir mal - 1985 in Haft kam, weil er ein Punk war, heute mit vielleicht 55 oder 65 Jahren das nicht weggesteckt haben. Vielleicht verdrängt, und nun bricht es wieder hervor. Und es geht hierbei nicht um Einzelfälle. Ein signifikanter Anteil der DDR-Bevölkerung wurde von der Stasi ausspioniert oder instrumentalisiert. Die Menge an Anträgen zur Akteneinsicht spricht genau das aus: Man will auch heute noch wissen, was da eigentlich los war.
Dagmar Hovestädt: Daher eben "Die langen Schatten der Diktatur" für diese Folge als Thema. Mit dem Beispiel Punk bringst du eines der Beispiele auf den Tisch, über das im Gespräch gleich gesprochen wird. Es ist ein Gespräch mit drei Menschen, die alle einen erheblichen Anteil daran haben, dass diese Themen der langanhaltenden Folgen von staatlicher Repression weiter diskutiert werden und nicht in Vergessenheit geraten. Wir werden sie ja gleich vorstellen, damit man ihnen auch im Gespräch gut folgen kann. Wichtig ist mir noch, dass wir in einer digitalen Veranstaltung mit den dreien am 15. Januar 2022 gesprochen haben, dem Jahrestag der Erstürmung der Stasi-Zentrale. Das war vor 32 Jahren. Aber in diesem Jahr, 2022, noch wichtiger: Es ist auch eine Erinnerung an den Januar 1992, also vor genau 30 Jahren, als das frisch veröffentlichte Stasi-Unterlagen-Gesetz zum ersten Mal Anwendung fand und Menschen erstmalig in die Unterlagen der Stasi geschaut haben, um sich selbst ein Bild von deren Handlungen zu machen.
Maximilian Schönherr: Im Podcast heute geht es primär um inhaftierte DDR-Bürger und Bürgerinnen. Es fällt aber mehrmals eine andere Form der gewaltsamen Unterbringung, nämlich von angeblich schwer erziehbaren, weil nicht ins Gefüge eines wunschgemäßen sozialistischen Staatswesen passenden, Jugendlichen ab 14 Jahren Alter. Dies repressiven Umerziehungsanstalten der DDR hießen "Jugendwerkhöfe".
Dagmar Hovestädt: Ich habe in meiner Arbeit hier im Archiv die besondere Gelegenheit, viele Menschen zu treffen, die eben in diese Mühlen der Diktatur gerieten. Dazu gehört zum Beispiel Kerstin Gueffroy, die ein Buch über "Die Hölle von Torgau" geschrieben hat, also ihre Erfahrungen in der Heimerziehung der DDR in so einem - oder eigentlich in dem schrecklichsten Jugendwerkhof, denn Torgau ist dafür quasi das Synonym. Das war extrem grausam, was man jungen Männern und Frauen da angetan hat – das ganz ohne Zutun der Stasi. Die war nämlich nicht wirklich immer nötig, um staatliche Repression auszuüben.
Maximilian Schönherr: Vielleicht sollten wir den häufiger erwähnten Jürgen Fuchs kurz beschreiben. Er war ein deutscher Schriftsteller, Psychologe und Oppositioneller in der DDR. Nach der U-Haft in der Stasi warf ihn 1977 die DDR raus, nahm ihn aber auch in West-Berlin weiter durch die Stasi in die Mangel. Er hat sich sehr intensiv mit der Zerstörung des Einzelnen durch staatliche Repression beschäftigt, weil er als Psychologe sehr genau erkannt hat, wie die Stasi vorgeht. Er gehört mit zu den ersten, die im Januar 1992 in die Stasi-Akten schauen konnten. Jürgen Fuchs starb relativ jung 1999 mit 48 Jahren. Hast du ihn mal getroffen?
Dagmar Hovestädt: Leider nie direkt. Das bedaure ich sehr. Ich kenne einige seiner Bücher und auch Ton-Aufnahmen von ihm. Er war ein wirklich sehr kluger und warmer Mensch. Sehr inspirierend. Ich habe viel über seine Reflektion zur SED-Diktatur gelernt.
Maximilian Schönherr: Vielleicht sollten wir auch noch einen weiteren Begriff kurz erläutern, nämlich den der "Zersetzung".
Dagmar Hovestädt: Ja das passt eigentlich ganz gut. Mit dem hat sich auch Jürgen Fuchs intensiv beschäftigt. Das ist eben eine besonders perfide Methode der Stasi, die unter anderem zu diesen langanhaltenden Folgen führt. Es ist ja nicht nur die Offenkundigkeit einer Haftsituation und der Schikane dort im Knast. Zersetzung setzt bei dem Einzelnen an, in der Regel vor der Haft und hat laut einer Stasi-Richtlinie beispielsweise die "systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer diskreditierender sowie unwahrer, aber glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben" oder die "systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens" zur Folge. Das waren also Zitate aus der originalen Richtlinie. Das heißt, man wird also in vielerlei Hinsicht sehr persönlich angegangen und wirklich fertig gemacht. Dagegen bin ich dann wehrlos, weil ich ja nicht erkenne, dass hier der Staat aktiv ist. Und dies ist viel länger anhaltend in der Seele und Psyche eines Menschen wirkend als beispielsweise eine erkennbare physische Verletzung.
Maximilian Schönherr: Nun kommen wir zu der von dir moderierten Runde. Unter dem Titel "Die Langen Schatten der Diktatur" unterhältst du dich mit der Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur Evelyn Zupke. Frau Zupke ist seit dem 17. Juni 2021 in diesem Amt. Außerdem hören wir Ulrike Poppe, DDR-Oppositionelle und von 2010 bis 2017 Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur in Brandenburg. Und den Psychologen Stephan Trobisch-Lütge, der 1998 zusammen mit dem DDR-Bürgerrechtler Jürgen Fuchs, über den wir gerade gesprochen haben, die Beratungsstelle "Gegenwind" gegründet hat und seither dort die langanhaltenden Folgen der Repression in der Diktatur hautnah erlebt.
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Dagmar Hovestädt: Der Zugang zu den Stasi-Unterlagen seit 30 Jahren, das kann man sagen, hat eine weltweite Beachtung gefunden. Er ist quasi ein Modell geworden für eine Möglichkeit, das Unrecht der Diktatur anzugehen, nämlich mithilfe der Dokumente des Repressionsapparats. Das diese Dokumente uns noch lange erhalten bleiben und der Zugang auch weiterhin möglich ist wie zuvor, das sind gute Voraussetzungen für die weitere Aufarbeitung. Aber was ist mit den Menschen, die in der Diktatur Repression erfahren haben? Haben sie den Aktenzugang wirklich als hilfreich erlebt? Brauchen sie ihn noch nach 30 Jahren? Was heißt es für sie? Und wo stehen diese Menschen heute nach 30 Jahren Aktenzugang? Unser Gespräch steht unter dem Schlagwort "Die langen Schatten der Diktatur". Evelyn Zupke, Sie sind seit einem halben Jahr im Amt, das ist noch keine allzu lange Zeit. Aber haben Sie diese langen Schatten der Diktatur schon ganz konkret erleben können?
Evelyn Zupke: Ja, mit Sicherheit. Also seit ich im Amt bin, habe ich zahlreiche Gespräche geführt mit Opfern, mit Opferverbänden, mit Landesbeauftragten, mit Beratungsstellen und dort viele Bedarfe herausgefunden, von denen sich einige herauskristallisiert haben als wichtigste, die jetzt auch Gott sei Dank in den Koalitionsvertrag Niederschlag gefunden haben. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich will mal einige Beispiele herausgreifen, zum Beispiel die gesundheitlichen Schädigungen. Also es ist ja so, dass Menschen, die Repressionen erlitten haben und heute gesundheitliche Schädigungen haben, dass diese oft erst nach Jahren oder Jahrzehnten auftreten. Und diese Menschen haben ganz große Schwierigkeiten, dies nachzuweisen, denn sie müssen den Zusammenhang zwischen dem damals erlittenen Unrecht und der heutigen Erkrankung beweisen. Und das ist oft eine Hürde, die sie gar nicht nehmen können. Und sie erleben dort oft jahrelange, bis über zehn Jahre lange dauernde Verfahren, die dann letzten Endes auch gar nicht erfolgreich sind. Das heißt, wir brauchen ganz dringend Vereinfachungen in diesem Verfahren und Veränderungen für die Betroffenen. Und eine weitere Forderung ist auch die, dass wenn Gutachter eingesetzt werden, diese unbedingt im SED-Unrecht geschult werden müssen. Und auch dafür brauchen wir natürlich die Akten, weil oft in den Rehabilitierungsverfahren die Akten ganz wichtige Belege sind für das erfahrene Unrecht. Weitere Beispiele wären, dass Menschen, deren Leben, deren Berufsbiographien gebrochen sind durch Haft, durch Zersetzung, durch den Aufenthalt im Jugendwerkhof. Manche sind nie wieder auf die Beine gekommen. Auch das können wir natürlich den Akten entnehmen. Aber diese Menschen leiden noch heute unter den Folgen, des ihnen angetanen Unrechtes. Und dafür zum Beispiel gibt es in einigen Bundesländern, in einigen ostdeutschen Ländern einen Härtefallfond. Den gibt es aber nicht in den westdeutschen Ländern, so dass meine Forderung ist: Die Auflage eines bundesweiten Härtefallfonds. Und auch dies ist zum Glück von den Koalitionsparteien aufgegriffen worden und steht im Koalitionsvertrag. Das heißt, dass Menschen, die zusätzlich vor allem auch gerade im Alter, haben wir das auch oft ja, in irgendeine spezielle finanzielle soziale Not geraten, dass wir da aushelfen können. Sei es im sozialen Bereich, Mobilität, was auch immer. Es gibt noch weitere Dinge.
Dagmar Hovestädt: Ich finde das ermutigend, dass die Politik das durchaus noch wahrnimmt. Auch sagt: nach 30 Jahren ist noch nicht Schluss. Wir nehmen das mit in den Koalitionsvertrag, in die aktuelle Politik und wollen in dem Sinne die Anliegen auch sozusagen gewertschätzt wissen.Ulrike Poppe, als Landesbeauftragte haben Sie 2010 angefangen. Das ist schon wieder ein Weilchen her. Wir haben ja eben auch schon mal von der Regierung gesprochen, dass es in der Region wichtig ist Aktenzugang zu haben. Wie haben Sie den Stand der Aufarbeitung gerade in Brandenburg erlebt? 2010, ein Land, das zwar Aktenzugang hatte, aber eben keine Beauftragte, die sich, wie auch jetzt die Bundesbeauftragte, um die Opfer direkt gekümmert hat.
Ulrike Poppe: Brandenburg war ja das Land, das als letzte so eine Aufarbeitungsbeauftragte installiert hatte. Und vorher war nicht allzu viel passiert. Und es war gut, dass die Landesregierung beziehungsweise der Landtag sich endlich dazu entschlossen hatte, so eine Einrichtung zu etablieren. Damit die Opfer der SED-Diktatur endlich auch eine Anlaufstelle hatten und Hilfe bekommen konnten. Und das war dann meine Aufgabe, als erste Landesbeauftragte dort tätig zu sein. Und ich muss sagen, ich war erstaunt, wie präsent das DDR-Unrecht in den Köpfen der Brandenburgerinnen und Brandenburger noch war und wie stark auch die Auswirkungen des Leids derer, die da benachteiligt waren - die verfolgt wurden, die im Gefängnis gesessen haben - wie nachhaltig das einfach noch zu spüren war. Und ich denke, fast jeder, jede, die so eine Repression erlebt hat, hat Folgen. Vor allen Dingen auch psychische Folgen. Und deshalb finde ich das so wichtig, was Frau Zupke sagt, dass sie sich darum kümmern will, dass das auch anerkannt wird, dass nach 30 oder gar nach 60 Jahren solche Folgen immer noch zu spüren sind. Und dem nachzugehen und da Hilfe zu stellen, das finde ich ganz hervorragend.
Evelyn Zupke: Wenn ich das weiter ergänzen darf: Genau, das acht bis neun von zehn Betroffenen scheitern bei der Anerkennung ihrer Gesundheitsschäden und wir befinden uns hier vor allem im Bereich der Traumatisierung.
Dagmar Hovestädt: Stefan Trobisch-Lütge, das ist ein bisschen das Stichwort auch für die Beratungsstelle "Gegenwind". Hier sind zwei sozusagen von der Politik installierte Bundes- und Landesbeauftragte, die sozusagen da auch eine symbolische Funktion haben. Aber in der Beratungsstelle - die Tatsache, dass es sie bis heute gibt, liegt ja sozusagen die in der direkten Begegnung von einzelnen Personen und Schicksalen. Können Sie das bestätigen? Warum ist es so schwer, mit der so offenen Repression in der DDR eine Anerkennung zu finden, heute hier in der Bundesrepublik?
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Ja, das ist wirklich ein sehr langer Weg, den wir jetzt beschritten haben, 30 Jahre. Ich erinnere mich an die erste Zeit, als ich Jürgen Fuchs kennenlernte. Im Grunde der Erste, der mir so sehr deutlich vor Augen geführt hat, was es eigentlich bedeutet haben muss. Ich habe ja eine Westbiografie.
Dagmar Hovestädt: Und Jürgen Fuchs gehörte zu denen, die im Januar '92 mit Ulrike Poppe bei der allerersten Akteneinsicht dabei war.
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Richtig. Genau, genau. Also, als ich Jürgen Fuchs kennenlernte, wurde für mich im Grunde sehr, sehr deutlich, was für schwere Folgen Verfolgungen in der DDR, Hafterfahrungen in der DDR, Zersetzungsmaßnahmen für einen Menschen bedeuten können. Ich habe das mit einer sehr, sehr hohen Intensität bei ihm kennengelernt und das hat mich ja eigentlich dann gleich sehr deutlich in dieses Thema eingeführt. Und die Erfahrungen, die wir jetzt über 30 Jahre machen - man kann sich das gar nicht vorstellen, dass es jetzt schon so lange her ist, dass wir das schon so lange machen. Wir dachten am Anfang, nach fünf Jahren ist das Thema vielleicht erledigt. Das wir das jetzt 30 Jahre machen und immer noch immer neue Menschen treffen. Jetzt kommen eigentlich fast diejenigen, die die schwersten Störungen haben, die sich bisher nie gemeldet haben, die nicht gesprochen haben bisher über das, was sie erlebt haben. Also man merkt einfach es ist eine Tiefe, die in diesem Thema drin steckt, die glaube ich, noch wirklich nicht umfassend aufgearbeitet worden ist.Und ich bin froh, dass es diese Akten weiterhin gibt als so eine Art sicheren Hintergrund, auf den man zurückgreifen kann. Aber die Aufarbeitung selber, auch gerade die Themen, die Frau Zupke eben angesprochen hat, damit sind wir ständig befasst, die Anerkennung von psychischen Haftfolgeschäden. Das ist etwas, was wirklich beschämend ist, dass wir nach 30 Jahren immer noch an der Stelle stehen, wo wir fast vor 30 Jahren auch waren.
Dagmar Hovestädt: Warum tut sich der Staat oder die dafür zuständigen Institutionen so schwer, das anzuerkennen, wenn man das selber auch durch das Aktenlesen als so offenkundig kausal sieht?
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Ich glaube, es gibt eine lange, lange Geschichte von Schwierigkeiten in der Anerkennung von staatlichen Folgeschäden, sozusagen. Das ist immer schwierig gewesen. Es war nach dem Zweiten Weltkrieg schwierig. Es gab damals die großen Gutachter, Auseinandersetzungen um das Thema welche Folgeschäden zum Beispiel bei KZ-Überlebenden anerkannt werden, ob das überhaupt Schäden sind, ob das nicht Dinge sind, die in der Persönlichkeit des Einzelnen liegen – und da ist man ja glücklicherweise mittlerweile doch erheblich weiter. Dass man heute wirklich sagen kann: Wenn jemand in DDR-Haft gesessen hat, wenn jemand diese Erfahrungen dort gemacht hat - erniedrigt zu werden, isoliert zu werden, Übergriffe zu haben, psychische Folter erlebt zu haben – dann ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass jemand dann nicht zum Spaß einen Antrag stellt, um dann sich mehrfach begutachten zu lassen und von drei Gutachtern dann im besten Falle auch noch drei unterschiedliche Diagnosen zu bekommen.[Dagmar Hovestädt brummt zustimmend]
Evelyn Zupke: Genau, also das ist auch meine Forderung, eben diese Kausalitätskette zu verkürzen und dafür brauchen wir die Politik. Und woran es liegt, das frage ich mich auch ständig. Denke, dass ist eine sehr komplexe Antwort. Also, im Westen ist es sicherlich so, dass die meisten sich überhaupt nicht auskennen. Was bedeutete DDR-Haft, was bedeutete Jugendwerkhof, die Heimeinweisung, die staatsrechtlichen Einweisungen in den Jugendwerkhof, Zwangsarbeit in DDR-Haft. Und die Menschen können die Akten gar nicht lesen! Ja, und die Menschen mussten ja auch unterschreiben, wenn sie aus der Haft entlassen wurden, dass sie gut behandelt werden. Also, dass i-Tüpfelchen hat mir ein Forscher aus Magdeburg erzählt. Da wurde zu einem ehemaligen Häftling gesagt: In der Haftakte steht nicht, dass Sie traumatisiert sind, also sind Sie auch nicht traumatisiert. Das ist wirklich wahr! Das ist die eine Seite. Und im Osten haben wir sicherlich auch, zumindest in den ersten Jahren, auch viel die Mentalität gehabt, dass sich zu Begutachtende oder ehemalige Opfer sozusagen ehemaligen Tätern oder zumindest Menschen, die das System mitgetragen haben, die nämlich in bestimmten Berufen tätig gewesen sind, gegenüber gesehen haben. Und viele Menschen im Osten hatten eben auch kein Interesse – aus anderen Gründen – sich mit dieser Thematik zu beschäftigen.Und diese Instrumentarien, speziell für die Gruppe der Betroffenen, über die wir hier reden, da gibt es eigentlich nichts. Deswegen glaube ich, dass wir ganz andere Verfahren brauchen, die mehr darauf zugeschnitten sind, dass das endlich mal ein Ende hat.
Dagmar Hovestädt: War das in Brandenburg auch so? Gerade auch in einem Land, was sich zumindest politisch ja gar nicht so in der Aufarbeitung positioniert hat, weil das mit der Landesbeauftragten so lange gedauert hat, dass alte Strukturen auch da waren, die es verhindert haben, sich dafür aufzumachen?
Ulrike Poppe: Ja, natürlich gab es noch viel altes Denken, alte Strukturen und wir hatten auch erhebliche Auseinandersetzungen mit einigen Behörden, die so etwas zu begutachten hatten, beziehungsweise Gutachten vergaben an Psychiater, die aber keine traumatologische Ausbildung hatten. Gerade in der Traumatologie, in der Forschung, ist in den letzten Jahren viel passiert und man weiß heute, dass manchmal diese Schäden nicht gleich nach dem Ereignis, sondern erst, wenn derjenige 20 Jahre später in Rente geht, dann plötzlich diese Schädigungen auftreten können. Aber die Fortbildung funktioniert, glaube ich, immer noch nicht so richtig. Also diejenigen, die das begutachten, müssen Fachleute sein. Und das sind sie nicht immer gewesen.
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Es geht wirklich darum. Zum einen, sich im Bereich Psychotraumatologie, das ist ja wirklich ein Forschungsbereich, der nun wirklich sehr ausgebaut worden ist. Im Grunde seit den frühen 80er Jahren, als die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung entdeckt wurde oder implementiert wurde. Also, dass zum einen dieses Feld wirklich sehr klar geworden ist und es ja auch nun mittlerweile einige Arbeiten darüber gibt, wie das spezifisch bei Menschen in der ehemaligen DDR entstanden ist. Es gibt ja Folgestudien, die sagen, dass immer noch mindestens ein Drittel der ehemaligen Insassen von Haftanstalten heute an Symptomen der Posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Ich selber denke, auch die Diagnosen haben sich weiterentwickelt. Es sind ja eher sich immer wieder perpetuierende traumatische Erfahrungen gewesen. Das fing ja häufig nicht nur mit der Haft an, sondern es gab schon im Vorfeld Probleme möglicherweise. Ich habe gerade im Moment viel zu tun mit Anhängern der ehemaligen Punk-Bewegung in Berlin. Das war ja eine der größten Herausforderungen für den DDR-Staat: die Angst vor der Jugend, vor dem Protest der Jugend. Diese Leute sind ja massiv eingeschüchtert worden und haben ganz schwere Schäden erlitten. Das ist das eine. Und man muss also sozusagen, wenn man mit diesen Menschen spricht - und ich hab das ja über Jahre auch selber gelernt, also ich weiß wovon ich rede, ich komm ja nicht aus der DDR – es ist absolut wichtig auch zu verstehen: Wie war das in der Haft? Was hat was in der Haft überhaupt bedeutet? Wie ist das zu sehen? Und wie ist natürlich auch das Verhältnis von dem, was in einer Akte steht, und dem, was tatsächlich passiert ist. Denn klar war ja, die Aktenführung, sag ich mal, in der DDR war schon so, dass man natürlich nicht sich selbst ausliefern wollte mit den Angaben, die man da gemacht hat. Sondern es sind natürlich nur ganz bestimmte verschlüsselte Angaben in den Akten zu finden. Deshalb ist auch richtig, was vorhin schon gesagt wurde: Man muss die Akten einfach auch lesen können.
Ulrike Poppe: Und wenn ich da mal eine Frage stellen kann: Also nach meiner Erfahrung haben besonders diejenigen, die damals zum Zeitpunkt der traumatischen Erfahrung - also Haft oder auch Jugendwerkhof, Spezialheim – je jünger sie waren, desto erheblicher war die Schädigung. Wahrscheinlich, weil sie da noch nicht so widerstandsfähig waren.
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Das ist richtig. Genau.
Ulrike Poppe: Ist das- -
Stefan Trobisch-Lütge: Ja, das stimmt. Das sind diese ganz vulnerablen Phasen, also gerade, wenn junge Menschen in Haft gekommen sind oder auch diesen furchtbaren Kollektivbestrafungen in den Jugendwerkhöfen oder in den Jugendheimen ausgesetzt waren. Also wenn irgendjemandem ein Knopf an der Jacke fehlte, dann wurde die ganze Gruppe bestraft. Und dann wurde sozusagen kollektiv derjenige, der das "verbrochen" hatte sozusagen von der Gruppe bestraft in der sogenannten "Blutecke" und so weiter. Das waren furchtbare Geschichten, die da passiert sind.Und das stimmt auf jeden Fall. Je jünger jemand solche Erfahrungen gemacht hat, desto tiefgreifender sind die Folgen.
Dagmar Hovestädt: Und es ist ja auch in dem Sinne nicht, ich sag mal, eine mathematische Formel, denn jeder Mensch ist ja in sich ganz individuell. Und der eine kann Dinge wegstecken, der andre kann schon bei viel leichteren Dingen komplett aus der Bahn geworfen werden, insofern ist das auch nicht über eine Formel einfach zu regeln. Die Entscheidung treffen ja dann am Ende nicht die Trauma-Experten sondern die Bürokratie, richtig?
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Ich hab das Gefühl, wenn wir jetzt hier mal so ganz offen sprechen, es bräuchte mal ein deutliches Signal von ganz oben. [Dagmar Hovestädt brummt zustimmend] Es gibt mittlerweile genug gut ausgebildete Gutachter, da bin ich mir absolut sicher. Aber es gibt auch nicht unbedingt die Bereitschaft, diese Leute auch einzusetzen, beziehungsweise die werden ganz schnell diskreditiert, abgewertet, zusammen mit den Opfern. Nach dem Motto: "Die sind auf einem Auge blind" Oder "Sie machen nur noch Gefälligkeitsgutachten" und so weiter. Und das ist schon eine Umkehrung von dem, was wirklich richtig ist. Nämlich, dass wenn jemand sich wirklich auskennt und einfühlen kann in diese Menschen und nicht mit sogenannten "objektiven Kriterien" daherkommt; dass so jemand dann im Grunde abgewertet wird. Damit zeigt man eigentlich, dass man das, was diese Menschen erlebt haben, immer noch nicht begriffen hat.
Evelyn Zupke: Ja und deswegen braucht es eben eine andere politische Lösung. Damit sich das nach mehr als 30 Jahren endlich ändert. Denn es haben ja viele Menschen viel versucht. Die Landesbeauftragten mühen sich seit Jahrzehnten, die Beratungsstellen – und trotzdem haben wir keine besseren Ergebnisse zu verzeichnen. Die Forschung ist sehr weit, die muss trotzdem weitergehen, natürlich! Weil neue Opfergruppen hinzukommen. Aber das ist eben ein Zustand, den kann man absolut nicht hinnehmen und ich hoffe, dass wir durch dieses Amt die Möglichkeit haben werden. Wie gesagt, im Koalitionsvertrag steht es, dass die Politik gewillt ist, diesen Zustand zu ändern im Sinne der Opfer.
Ulrike Poppe: Die Politik müsste Standards setzen für die Begutachtung, aber sie kann auch solche Sachen durchsetzen wie zum Beispiel, dass jeder Insasse eines Spezialheimes, wozu die Jugendwerkhöfe gehören, einen Rehabilitierungsanspruch haben muss.
Evelyn Zupke: Ja! Na ja, der Rehabiliterungsanspruch, das ist ja noch das weniger schwierige, sondern der sich daraus ergebende- -
Ulrike Poppe: Aber es passiert nicht!
Evelyn Zupke: … ja, ja das das ist ein weites Feld, da könnten wir noch die nächste Sendung darüber machen. Aber das Beste wäre halt eine zweistufige Lösung: die Politik müsste, das wäre mein Wunsch, ein anderes Instrumentarium erstellen, wo einfach eine bestimmte Repressionserfahrung, die rehabilitiert ist - sei es Haft, sei es Jugendwerkhof, sei es Zersetzung – und eine heutige diagnostizierte Gesundheitsstörung, die Posttraumatische Belastungsstörung oder anderes. Und da müsste man, davon ausgehend, eine Vermutungsregel einbauen und sagen: dann ist das so. Dann kann man im Zweifelsfall vielleicht nochmal einen Gutachter einsetzen. Oder wenn ein bestimmter Grad der Schädigung, der über 30 oder 50 Grad geht, dann einen Gutachter einsetzen. Aber dann bitte geschult!
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
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Dagmar Hovestädt: Reicht denn die Anerkennung zur Rehabilitierung, reicht die aus oder braucht es auch in dem Sinne eine finanzielle Unterstützung? Weil man hat ja im Grunde genommen das Recht von der Gesellschaft erhalten zu sagen: dass das, was dir passiert ist, war Unrecht und das haben wir anerkannt und wir sehen, dass du ein Opfer bist der Umstände und die anderen waren im Unrecht und du warst im Recht. Dass, was dir geschehen ist, war nicht richtig. Reicht das für die Opfer aus? Kann man das so sagen?
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Na, also wie gesagt, viele leiden ja nun wirklich massiv an diesen gesundheitlichen Störungen. Eine etwas abstrakte Anerkennung, die von welchen Personen auch immer, immer mal wieder abgegeben wird, das reicht eigentlich nicht. Sondern die Menschen möchten gern für ihr spezifisches Leid, möchten gerne von jemandem hören: "Jawohl, du hast was, da sind bei dir psychische Störungen da und wir können mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass das Ganze auf deine Haftzeit in Bautzen, in Rummelsburg oder sonst wo zurückzuführen ist. Du hast das da und da erlebt, das erkennen wir an. Und dafür gibt es jetzt auch dieses Geld." Und das alleine ist schon hilfreich. Aber fatal ist es natürlich, wenn man von einem Gutachter zum nächsten Gutachter kommt und jedes Mal wieder sich komplett ausliefern muss. Das sind ja auch Auslieferungssituationen für die Leute. Das ist ja nicht leicht für die! Und dann erfahren muss, dass irgendwelche Spitzfindigkeiten da geäußert werden, dass Unkenntnis da ist, dass man sich gar nicht dafür interessiert, was in der Haft war, sondern viel mehr interessiert, ja was war denn vor der Haft? War vielleicht in der Familie irgendwas schwierig? Und so weiter. Könnte es nicht vielleicht daran liegen? Oder noch ganz besonders schlimm, dann vielleicht Spezialisten für Simulation und Aggravation angesetzt werden, die also nachweisen sollen: der lügt. Der lügt, der hat sich das ausgedacht.
Dagmar Hovestädt: Die haben von vornherein die Agenda zu sagen: ich will überführen, dass der da nur- -
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Nein, die haben nicht unbedingt die Agenda, aber die werden sozusagen auch eingesetzt von manchen Versorgungsämtern und es wird also geguckt, lügt der nicht eventuell, um sich etwas zu erschleichen. Es wird ja unterstellt, dass jemand sich Leistungen erschleichen will. Und wovon reden wir? Es geht um verzwei- -
Evelyn Zupke: Ja, das ist eben retraumatisierend, ja, wieder in diese Ohnmacht zu geraten.
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Natürlich! Ja, natürlich und das ist furchtbar für die Leute!
Evelyn Zupke: Und das kennen die Menschen von früher.
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Das ist zum Beispiel in der Psychotraumatologie auch nachhaltig belegt, dass das für diesen Personenkreis, aber auch zum Beispiel für Missbrauchsopfer und so weiter, ganz furchtbar ist, in solche Schleifen wieder eingebunden zu werden. Und dieses: Mir wird nicht geglaubt.
Evelyn Zupke: Genau. Aber es sind so zwei Fragen eigentlich, wenn ich das richtig verstanden habe. Aber es gibt ja finanzielle Entschädigungsmöglichkeiten, ne? Also die sogenannte "Opferrente" ist auch nochmal ein anderes Thema, aber darauf aufgesetzt kommt ja dann sozusagen diese Begutachtung, die dann meistens nicht gelingt. Und wenn man einen Grad der Schädigung von 30% erhalten würde, würde eben dort auch nochmal eine kleine Rente dazu kommen. Und das ist auch nochmal ein anderes Thema, weil es da auch noch verschiedene Probleme gibt, aber das wäre eben ein Weg, dass endlich diese Verfahren aufhören. Dass die Leute nicht kränker werden davon und das andere nicht auch noch abgeschreckt werden, um diesen Weg zu gehen. Man kann ja schon fast gar keinem Menschen mehr mit gutem Gewissen raten: "Versuche das!" Das berichten ja auch alle Beratungsstellen und auch die Landesbeauftragten.
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Ja. In der Praxis sieht es wirklich so aus, dass wir uns überlegen müssen, ob wir Leuten, die zu uns kommen, die wirklich schwer krank sind, nicht besser abraten so einen Antrag zu stellen. Weil wir sagen: "Sie gehen ein hohes Risiko ein, eventuell noch kränker zu werden." Das
Evelyn Zupke: Genau.
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Das ist Fakt.
Ulrike Poppe: Und nochmal zu materiellen Unterstützungen. Materielle Hilfen sind auch eine Form von Anerkennung, Anerkennung des Leids. Die ist Unrecht geschehen. Und das Leid kann man nicht mehr rückgängig machen, aber ihm wird geglaubt. Deshalb ist es auch wichtig, und wir haben auch festgestellt, dass diejenigen, die Repression erlitten haben, zum großen Teil also, auch sozial, Schwierigkeiten haben, geringe Einkommen haben, geringe Rente haben. Und in dieser Gesellschaft gilt derjenige, der wenig zum Leben hat, auch so als Loser, und gerade diejenigen die sich gegen die Diktatur gewehrt haben, deshalb also berufliche Einbrüche erlebt haben, danach nicht wieder auf die Beine gekommen sind, die stehen jetzt da als Loser, die mit ihrem Leben nicht zurecht gekommen sind, deshalb ist es so wichtig, also auch heute wichtig, diese Anerkennung auch deutlich zu machen.
Dagmar Hovestädt: Finanziell deutlich machen.
Ulrike Poppe: Ja, eben auch mit solchen finanziellen Hilfen.
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Und das ist auch so, die Opferrente war segensreich, dass die damals eingeführt wurde. Das sollte auch einige bisschen dazu führen, dass Menschen diese Form von Anerkennung bekommen. Und das ist natürlich fatal für viele, die zusätzlich diese Gesundheitsschäden haben, die jetzt gelten machen, und dann dort erfahren, "nee du hast eigentlich gar nichts". Das ist eben nacheinander auch eine Entwertung dieser vorher ausgegebenen Anerkennung. Das muss man auch so sehen.
Dagmar Hovestädt: Ich bin sozusagen noch ein bisschen im Hintergedanken mit dem Beispiel, dass Sie eben am Anfang erzählt haben, von einem Menschen, der 30 Jahre geschwiegen hatte oder wahrscheinlich noch länger, weil die DDR ist schon mehr als 30 Jahre vorbei. Und erst jetzt dann im etwas späteren Alter, 50ern, 60ern, vielleicht 70ern Jahren, was ist das für eine tragische Geschichte? Aber was ist es auch für zusätzliches Leid noch 30 Jahre, das in sich selber zu begraben und dann kommt es irgendwann hoch. Wie geht man damit um?
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Ja – mh – als wie wir als Behandler damit umgehen, oder?
Dagmar Hovestädt: Ja.
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Ja, also ist es natürlich erstmal, ja, positiv wenn jemand sich also diesen Schritt zutraut. Das hat dann häufig auch spezifische Bewandtnisse, dass jemand vielleicht mal gehört hat, dass es ganz gut gelaufen ist, wenn man sich Hilfe holt, wenn man drüber spricht, sind natürlich viele Jahre auch vergangen in denen auch Familien damit belastet worden sind, die zweite Generation ist belastet worden. Wir geben natürlich dann erstmals vorsichtig das Signal aus, dass hier ein guter Ort ist, sich zu öffnen, dass derjenige davon profitieren könnte, versuchen natürlich dann auch gleich ein Katalog von Möglichkeiten, was man machen könnte, vorzuschlagen. Also schon nicht nur rein erzählen zu bleiben, sondern auch zu gucken, was kann man denjenigen anbieten. Na also wir machen ja unsere Beratungsstelle nicht nur klassische Gesprächstherapie, wobei es für viele wirklich einfach überhaupt erstmal eine ganz befreiende Erfahrung ist, zu sagen, ich spreche mich jetzt ein bisschen frei. Erzähl das einfach mal und da sitzt jemand und hört mir zu und der ist offenbar in der Lage, das zu verstehen, was ich sage, und das auch einzuordnen, der hat viele gehört, die darüber gesprochen haben. Ich mache jetzt auch die Erfahrung damit, ich gehöre zu einer Kollektiv, ich bin nicht alleine, ich gehöre zu einer großen Gruppe von Verfolgten. Das ist schon mal wichtig, Gruppenkohäsion, ja dann kann man halt gucken, ob so jemand z. B. auch von einem Gruppenangebot, wo über diese Erfahrung gesprochen werden kann, profitieren kann, ob jemand eher was Körpersensitives braucht, also z. B. traumasensibles Yoga, ob jemand besser das Ganze auf einer künstlerischen Ebene unserer Malgruppe ausdrücken kann usw. Also da gibt's schon viele Möglichkeiten.
Evelyn Zupke: Ich find es auch an der Stelle noch mal sehr wichtig zu erwähnen, passt auch zu dem Thema der lange Schatten, ja, eben dieses Thema nach 30 Jahren das Schweigen brechen. Da war ich beim Frauenkongress Hoheneck, da wurde das Leid der Frauen gewürdigt, sozusagen, und dort habe ich auch viele Frauen kennengelernt und auch danach später. Das war relativ am Anfang meiner Amtszeit, die wirklich also nach 30 Jahren, nach 40 Jahren erst gesprochen haben, und das hat ganz vielfältige Gründe. Also einerseits passierte es durch äußere Einflüsse, entweder in der Familie, also transgenerationale Weitergabe von Traumata, die Kinder fragen, denken, "was war mit mir los?" Ich weiß es gar nicht, weil geschwiegen wurde. Man merkte aber, irgendwas ist falsch, irgendwas ist vorgefallen. Und dann kommen die Menschen oft, gottseidank, auf den Weg darüber zu sprechen. Und die anderen Sachen sind manchmal, die Leute gehen in die Rente, ja, also gerade im Westen haben wir das oft, die haben ja eine andere Biografie noch stattgefunden öfter als im Osten, weil sie konnten sich, da konnten sich noch das Leben aufbauen. Die sind-
Dagmar Hovestädt: Wenn sie nach der Haft z. B. im Westen gelandet sind-
Evelyn Zupke: Ja, ja, wenn sie im Westen, nicht im Osten [Husten im Hintergrund] weiterleben mussten, oder überhaupt. Also das sind so verschiedene Geschichten, das ist sehr komplex. Und das ist, gehört aber wieder auch zu den gesundheitlichen Themen, weil dann brechen oft auch die Symptome plötzlich los. Das ist ja total verrückt, das ist ja psychotraumatologisch generell oft so, aber für unsere Personengruppe ist das eben auch sehr spezifisch, und da hat das wieder was mit der Begutachtung zu tun, dass jemand sagt, "wie jetzt, nach 30 Jahren, was soll das denn sein? Einfach alt". Ne so. Als wüsste dass es überhaupt nicht gesehen wird.
Dagmar Hovestädt: Ist ja vielleicht auch beides, ein Stück weiter Verdrängung als Mechanismus um-
Evelyn Zupke: Schutz.
Dagmar Hovestädt: -damit klarzukommen, gleichzeitig aber auch Langzeitfolge der Behandlung, weil es ging ja darum, darüber Schweigen zu bewahren. Das hängt ja noch drin.
Evelyn Zupke: Das war auch ein Schweigegelübde.
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Die Leute mussten ja unterschreiben, wenn sie entlassen wurden, dass darüber nicht gesprochen wird.
Dagmar Hovestädt und Evelyn Zupke: Genau.
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Es galt ja sozusagen-
Evelyn Zupke: Und-
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: - natürlich erstmalig für die ehemalige DDR, aber das hat sich bei vielen wirklich absolut verfestigt und steckt richtig drin, darüber wird nicht gesprochen.
Evelyn Zupke: Und auch die Scham, glaube ich, spielt eine große Rolle. Also das merke ich immer auch gerade wieder bei den Heimkindern im weitesten Sinne, aber auch bei Haftopfern, bei Frauen noch mehr, wenn dann noch was mit den Kindern war, die vielleicht ins Heim gekommen sind, wo es dann schief gelaufen ist. Die müssen sich sehr überwinden, dann über diese Geschichte zu sprechen, weil es sehr weit in die Familien greift. Also, und da ist die Scham, das Tabu, das Schweigegelübde und andere Umstände, die denn oft wirklich Jahrzehnte brauchen bis das aufbricht.
Dagmar Hovestädt: Und die sich auch in die nächste Generation übertragen.
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Absolut.
Evelyn Zupke: Die ist ein sehr sehr langer Schatten, genau, bis in Generationen.
Dr. Stefan Trobisch-Lütge: Vor 14 Tagen klingelte bei uns der Beratungsstelle das Telefon, eine dünne Stimme am Telefon, also es tut einem richtig weh, eine dünne Stimme: "Kann ich mit meinem Vater kommen?" Dann sage ich: "Wie heißen Sie denn?" "Den Namen möchte ich nicht sagen." Da geht es los. Es gibt immer noch viele, die so verunsichert sind, Namen nicht sagen, absolutes Misstrauen, und kann man sich vorstellen, was das für einen langen Weg gewesen ist. Nachhinein haben wir jetzt erfahren, diese junge Frau ist massiv belastet, das ist sozusagen ihre Aufgabe, den Vater in unsere Beratungsstelle zu bringen, zu überführen. Heute wäre Termin gewesen – ähm – nicht untypisch, die erste Absage: Vater erkrankt. Zu groß die Hürde, probieren wir es in 14 Tagen wieder. Ja, also das ist so ein typisches Beispiel – ähm , schwerbelastet die ganze Familie. Die Mutter hat sich mittlerweile auch schon gemeldet, mit meiner Kollegin gesprochen, sagte ja, der Vater sei nicht mehr so das Problem, die Tochter ist mittlerweile das Problem, weil die extrem, ein extremes Interesse hat, dass der Vater endlich mal darüber spricht und der Vater, aus welchem Gründen auch immer, bisher vorgezogen hat, das nicht zu tun.
Dagmar Hovestädt: In dem Sinne sind die Akten dann für die Tochter auch nicht die Antwort, solange der Vater doch lebt, weil sie mit ihm zusammen das Problem lösen will. Das ist für sie dann die Herausforderung. Wenn ich jetzt abschließend noch mal betrachte, sie erzählen aus dieser praktischen Erfahrung von sehr vielen Menschen, die Hilfe brauchen, die Sie als Ansprechpartner haben. Die Stasi-Akten haben ja eine gesamtgesellschaftliche Wirkung, Aufklärung der Diktatur, die werden viel wahr genommen. Werden die Opfer ausreichend genug wahrgenommen? Oder ist das kommt es mal in Wellen und dann verschwindet das wieder? Oder ist es auch zu viel verlangt? Kann gesellschaftlich mit denen, die mutig genug waren oder die sich angelegt haben mit dem Regime und Jahrzehnte später sozusagen mit den Folgen leben müssen, geht da die Gesellschaft darüber hinweg? Kriegt man das irgendwie besser in den Griff? Wie kann man von oben Signale setzen, wie kann man die Gesellschaft insgesamt mehr auf die Menschen aufmerksam machen und nicht so sehr auf Sensation, die man wieder enttarnt hat?
Evelyn Zupke: Also ich glaube da, es gibt schon noch Potenziale, ich denke, die werden nicht genug gesehen, und das kann man wahrscheinlich gesamtgesellschaftlich, wird das nie das Thema Nummer eins sein. Das muss man einfach ganz realistisch sehen. Aber um es auch in die nächste Generation zu tragen, können wir natürlich einiges tun. Nämlich es als Lehrstoff fest verankern, Prüfungsrelevant, nicht als "Ich behandele das" oder "Ich behandele das nicht", also auch die zweite deutsche Diktatur muss in der Lehrplänen relevant sein. Und darüber, glaube ich, kann man dann auch dieses Wissen, die zwangsläufige Beschäftigungen, vielleicht bei vielen, mit dem Thema, aber dann lernt man doch etwas darüber, das wäre z. B. eine Sicherung dessen. Und es gibt es sicher noch viele andere Möglichkeiten, aber das sehe ich als das Relevanteste an, um das Wissen weiter zu tragen, und das auch erfahrbarer zu machen dann durch z. B. Besuche. Ich finde jede Klasse, passiert ja schon ganz viel, jede Schulklasse sollte einen Ort der Diktaturen besuchen, so wie es auch in eine NS-Gedenkstätte geht, so muss man auch an eine SED-Diktatur-Gedenkstätte gehen. Das wäre auch ein weiterer Schritt z. B.
Dagmar Hovestädt: Zum Stasi-Unterlagen-Archiv?
Evelyn Zupke: Oder auch ins Stasi-Unterlagen, beides am besten.
Dagmar Hovestädt: Na gut, es ist ja auch ein Ort-
Evelyn Zupke: Natürlich!
Dagmar Hovestädt: -an den man sich mit dem Wirken der Diktatur durch Dokumentation ganz konkret konfrontieren kann.
Evelyn Zupke: Auch das ist mir natürlich ein Ort. Ganz sicher.
Dagmar Hovestädt: Gut, dann danke ich Ihnen dreien für das Gespräch, für Ihre Zeit, und vor allem für Ihre Arbeit. Das ist eine sehr wichtige Geschichte für die Gesellschaft, deswegen ist es auch für uns wichtig, daran zu erinnern, es ist nicht immer Thema des Tages, das muss man sagen. Aber Sie erleben eben täglich, was passiert, wenn ein Staat eben das Individuum nicht respektiert und das aus politischen Gründen und wie lange dann die Schatten der politische Repression der SED-Diktatur sind. Ich danke auch für Ihr Interesse am Bildschirm. Schauen Sie auf unserer Webseite vorbei, wenn Sie mögen für die nächsten Veranstaltungen, wenn Sie sich dafür interessieren mit Stasi-Akten, sich einfach mal zu konfrontieren, gibt es eine Stasi-Mediathek bei uns. Wir haben diese Ausstellung hier am historischen Ort "Einblick ins Geheime" und wenn Sie einen Antrag stellen wollen, gibt es dafür auch Information noch auf unserer Webseite, auf bald wieder.
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Das war zuletzt Evelyn Zupke, die seit dem 17. Juni 2021 Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur beim Deutschen Bundestag ist. Sie hatte 1989 aktiv an der Aufdeckung des Wahlbetrugs durch die SED mitgearbeitet. Wir hörten außerdem Ulrike Poppe, von 2010 bis 2017 die Landesbeauftragte für die Folgen der kommunistischen Diktatur in Brandenburg und die in der DDR aktive Bürgerrechtlerin und Oppositionelle. Und Stefan Trobisch-Lütge, Psychologe, der seit 1998 in der Beratungsstelle "Gegenwind", Opfer der SED-Repression betreut und den langen Schatten der Diktatur täglich erlebt.
Dagmar Hovestädt: Unser Podcast endet immer mit einem akustischen Einblick in den riesigen Audio-Pool des Stasi-Unterlagen-Archivs, wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zudem was wir vorher besprochen haben.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Pawel Beljajew und Alexej Leonow waren zwei sowjetische Kosmonauten, die im März 1967 einen 26-stündigen Raumflug mit der Woschod 2 absolvierten. Leonow unternahm dabei als erster einen Weltraumspaziergang. Auf einem Empfang des MfS für die sowjetischen Kosmonauten im Wachregiment, 1965 in Berlin, bringt Erich Mielke voller Begeisterung und sehr pathetisch am Ende einen Trinkspruch aus, lobt wie üblich die deutsch–sowjetische Freundschaft, die Parteien und ihre Vorsitzenden und verabschiedet sich mit "Auf Wiedersehen in der DDR oder in Moskau oder im Kosmos". Zitat. Allerdings verstehen meine Kolleginnen, Kollegen und ich immer "Auf die komische Partei der UdSSR", doch hören Sie selbst. Von 32 Minuten hören wir drei.
[Erich Mielke]: Genossen, ich bitte, füllt die Gläser. Wir wollen jetzt anstoßen – äh – zum Abschied mit einem Pokal Champagner. Es soll mal so im Leben, wenn es am schönste, da muss man aufhören. Und selbst im, mit den besten Freunden kommt es vor im Leben, dass man schei- , dass man sich trennen muss, mal scheiden muss. Man geht, man geht zwar in verschiedene Richtungen auseinander, aber wir bleiben immer und auf ewig zusammen, weil die deutsch-sowjetische Freundschaft unsterblich ist. Genossen, lasst uns diesen Pokal leeren bis zum Grunde, auf die führende Kraft unseres Lebens, auf die Partei Lenins und auf die marxistisch-leninistische Partei der Deutschen Demokratischen Republik. Die Parteien, die uns erzogen und stillt und uns führt, die uns inspiriert zu neuen Taten. Wir verabschieden uns von unseren sowjetischen Kosmonauten. Eben in dem Sinne, dass wir Kommunisten sind, ob wir Deutsche, Ukrainer, Russen oder Armenier, Staatsangehörige der UdSSR oder Staatsangehörige der DDR, in erster Linie sind wir Kommunisten. Und das ist es, was uns eint. Und das ist das Programm unserer Partei. So hat uns die Partei erzogen und so werden wir unser Leben beenden. Genossen, ich bitte das Glas zu heben und zu trinken, auf die komische Partei der UdSSR, auf ihr Zentralkomitee, ihren ersten Sekretär, Genossen Breschnew, auf die soziale Partei Deutschlands, ihrer Zentralkomitee und den ersten Sekretär, Genossen Walter Ulbricht, auf das Wohl der führenden Kräfte unserer beiden Länder und Völker. Zum Wohle, liebe Freunde!
[Applaus]
Genossen, erstmal zum Wohle. Also Genossen, unsere sowjetischen Helden, unsere beiden Kosmonauten, sie leben: Hoch, hoch, hoch! Auf Wiedersehen in der Deutschen Demokratischen Republik oder in Moskau oder im Kosmos!
[schnelles Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."