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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ... ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Zu dieser Folge begrüßen Sie Dagmar Hovestädt, Leiterin der Abteilung Vermittlung und Forschung im Stasi-Unterlagen-Archiv im Bundesarchiv, und ich, Maximilian Schönherr.
Dagmar Hovestädt: Archiv-faszinierter Journalist und Autor. Meistens betrachten wir in unserem Podcast die DDR von innen heraus. Das hat den einfachen Grund, dass das Ministerium für Staatssicherheit vor allem die Menschen in der DDR ausspionierte, also die eigene Bevölkerung unter Beobachtung setzte, auch verfolgte und dann immer wieder auch inhaftierte. Der sogenannte "imperialistische Westen", also der "Feind im Westen", war allerdings - man kann sagen - für die Stasi unverzichtbar, spielte er doch eine zentrale Rolle in den operativen Tätigkeiten der Stasi: als Quelle allen Übels sozusagen, etwa, wenn jugendliche Musikfans in der DDR 1969 zu einem vermeintlichen Rolling-Stones-Konzert an die Ostseite der Berliner Mauer pilgerten, um der Band auf einem Hochhausdach auf der Westseite zuzuhören. Musik des sogenannten "Klassenfeindes" hören zu wollen und das auch noch am 20. Gründungstag der DDR, das war ein Affront. Das war der "Feind im Westen", der hier aktiv war, und deswegen wurden die eigenen Bürger in die Mangel genommen. Hunderte landeten in Untersuchungshaft. Das war das Thema unserer Folge 35.
Maximilian Schönherr: Die Grenze zwischen DDR und Bundesrepublik hatten wir auch immer wieder im Fokus, etwa aus dem Blick der Stasi-Bezirksverwaltung in Suhl. Das war Folge 54. Da ging es um sogenannte "Grenzinformationsstellen" auf westlicher Seite und die Aktivitäten im Grenzgebiet, streng beobachtet von der Stasi. Heute betrachten wir diese Grenze aus westlicher Perspektive. Unsere Gesprächspartnerin ist die Professorin für deutsche und europäische Geschichte an der Emory Universität in Atlanta, Georgia. Astrid M. Eckert hat ein Buch geschrieben, das bei Oxford University Press herauskam und inzwischen in deutscher Übersetzung erschienen ist. Titel: "Zonenrandgebiet. Westdeutschland und der Eiserne Vorhang".
Dagmar Hovestädt: Die 560 Seiten, davon ein guter Anteil höchst detailgenaue und faszinierende und erweiternde Anmerkungen - wie bei jedem gut recherchierten Buch - erzählen die politische, soziale, wirtschaftliche und auch ökologische Geschichte des deutsch-deutschen Grenzgebiets, und zwar der gesamten, fast 1.400 Kilometer langen Grenze von Schleswig-Holstein bis runter nach Bayern. Astrid Eckert nutzte 19 Archive und viele weitere Quellen, Fachliteratur und auch persönlich ersteigerte Dokumente, von denen sie uns gleich berichten wird. Eine wichtige Quelle waren die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit im Stasi-Unterlagen-Archiv.
Maximilian Schönherr: In dem Buch spielt die Berliner Mauer nur eine kleine Rolle, bestenfalls als Vergleichsobjekt. Das Zonenrandgebiet war schließlich nicht nur 40 Kilometer lang wie die Berliner Mauer. Ein breiter Streifen, der vor allem Wiesen, Wälder und Felder durchschnitt, und ansonsten nur ein paar kleine Dörfer wie etwa Mödlareuth. Ich fand Mödlareuth im Wikipedia-Artikel über die Liste geteilter Orte. Das ist eine internationale Auflistung von geteilten Orten. Mödlareuth gehört da auch dazu. Das Dorf hat heute keine Betonmauer mehr, aber die Landesgrenzen Bayerns und Thüringens verlaufen immer noch mittendurch und die Bürger und Bürgerinnen wählen auf verschiedenen Seiten.
Dagmar Hovestädt: Astrid Eckert kam netterweise für unser Gespräch in mein Büro in Berlin. Du, Maximilian, hast dich von Köln aus zugeschaltet. Ich glaube, viel mehr müssen wir vorher nicht erklären. Wollen wir starten?
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Dagmar Hovestädt: Das Buch ist ja ursprünglich auf Englisch erschienen. Woran liegt das?
Astrid M. Eckert: Nun, ich unterrichte an einer amerikanischen Universität und es war auch gleichzeitig eine Qualifizierungsschrift. Es ist mein sogenanntes "Second book", also Äquivalent zur Habilitation, und das musste ich dann natürlich auf Englisch schreiben, damit es meine Kollegen auch lesen können. Und ich bin nun einfach im amerikanischen Wissenschaftsbetrieb und schreibe neue Dinge zuerst einmal auf Englisch. Dass es überhaupt auf Deutsch dann erschienen ist, habe ich meinem wunderbaren Lektor Christof Blome vom Christoph Links Verlag zu verdanken, weil er einen sehr langen Atem hatte. Es war nicht so einfach, die Finanzierung für eine Übersetzung auf den Weg zu bringen, und wir haben dann quasi ein Jahr verdaddelt, um das aufs richtige Gleis zu setzen, und am Ende hat meine Universität, die Emory University, die Finanzierung für die Übersetzung bereitgestellt.
Dagmar Hovestädt: Wie übersetzt man denn "Zonenrandgebiet" ins Englische?
Astrid M. Eckert: Oh je. Ja, das geht gar nicht. Also, der Begriff ist unübersetzbar. Ich habe dann immer von "zonal borderlands" gesprochen und habe aber natürlich erklärt, was konkret damit gemeint ist. Das Buch hat ja auch Karten, da kann man es dann auch visuell sofort erfassen.
Dagmar Hovestädt: Es ist ja schon für die, die es nicht miterlebt haben, schwer vorstellbar, diesen Raum wieder zu schaffen, der seit 30 Jahren in dem Sinne nur noch in Erinnerungen existiert. Kann ich mir für die Amerikaner noch schwieriger vorstellen, sich irgendwie dazu in Beziehung zu setzen.
Astrid M. Eckert: Ja. Der Begriff "Zonenrandgebiet" ist jetzt auch gar nicht mehr jedem geläufig. Das kommt wirklich auf die Generation an. Also, die Leute, die in den 80er-Jahren geboren sind, haben daran keine aktiven Erinnerungen und fragen dann immer: Worum geht es hier eigentlich? Da muss man schon ein bisschen ausholen.
Dagmar Hovestädt: Ja.
Maximilian Schönherr: Und das Thema vermitteln Sie tatsächlich US-Student*innen?
Astrid M. Eckert: Na ja, also, ich unterrichte natürlich Deutsche Geschichte an der Emory University in Atlanta und mein Unterrichtsstoff reicht vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Mein eigenes Forschungsthema kommt da nur am Rande vor. Ich kann ja nun nicht erwarten, dass die Studenten sich für meinen relativ engen Forschungsbereich interessieren. Von daher flechte ich das nur so ein, aber gehe nicht davon aus, dass da ein größeres Interesse da ist. Die Themen, die immer noch sehr nachgefragt sind, sind alle mit Nationalsozialismus. Da sind die Kurse immer voll. Ich habe aber auch einen Kurs, der heißt "The History of Now", wo wir die Nachkriegsgeschichte von Europa vermitteln, und auch der Kurs ist immer sehr gut besucht.
Maximilian Schönherr: Und ist es Ihren Studierenden bewusst: diese deutsche Teilung und wie hart oder wie weich die Grenze war?
Astrid M. Eckert: Ja, da haben sie schon einen guten Eindruck. Aber in der Regel, sobald man in den USA "Iron Curtain" sagt, denkt jeder natürlich an die Berliner Mauer. Deshalb muss ich auch immer sehr viel erklären, dass diese Teilung halt nicht nur Berlin betraf, sondern das ganze Land, und dass es diese lange innerdeutsche Grenze auch noch gab. Das unterstütze ich dann natürlich auch immer mit Karten, damit die Studenten das gleich visuell umsetzen können.
Maximilian Schönherr: Ich bin im Zonenrandgebiet aufgewachsen.
Dagmar Hovestädt: Frau Eckert doch auch!
Maximilian Schönherr: Wo?
Astrid M. Eckert: Ich komme aus der kleinen Kurstadt Bad Bevensen. Die liegt in der Lüneburger Heide an der Bahnstrecke zwischen Hamburg und Hannover, also dort, wo der ICE nie hält.
Dagmar Hovestädt: [lacht]
Maximilian Schönherr: Und ich eher Oberfranken: Sonneberg, Neustadt bei Coburg und so weiter. Sie schreiben in dem Buch von der "Sperrzone" und vom "Zonenrandgebiet". Im Titel ist es "Zonenrandgebiet". Was ist die "Sperrzone"?
Astrid M. Eckert: Ja, also, das "Zonenrandgebiet" auf der westlichen und die "Sperrzone" auf der östlichen Seite der innerdeutschen Grenze sind wirklich zwei völlig unterschiedliche Kategorien. Die Sperrzone ist vielleicht sogar einfacher zu erklären: Das war eine fünf Kilometer tiefe Sicherheitszone auf DDR-Seite, die per Verordnung im Mai 1952 eingeführt wurde und ein integraler Bestandteil des Grenzsicherungssystems war. Bewohner wurden dort sehr engmaschig überwacht. Man konnte dieses Sperrgebiet nur mit Genehmigung betreten und angeblich unzuverlässige Personen wurden von dort ja in mehreren Schüben deportiert, also die Zwangsausweisung. Und innerhalb der Sperrzone gab es dann noch einen 500 Meter tiefen Schutzstreifen, der also direkt an der Demarkationslinie lag. An manchen Stellen befanden sich dann auch Dörfer in diesem Schutzstreifen, die dann auch noch einen sogenannten "Hinterlandzaun" bekommen haben. Also, die waren wie so ein Sandwich. Die waren von zwei Zäunen umzingelt, nämlich der eine direkt auf der Demarkationslinie zum Westen hin und dann dieser Hinterlandzaun. Diese Sperrzone ist, wie gesagt, vor 70 Jahren per Polizei-Ordnung eingeführt worden und war Teil der Grenzsicherungsanlagen. Die Entstehung des Zonenrandgebiets hingegen hat mit Grenzsicherung überhaupt nichts zu tun. Das Zonenrandgebiet spiegelt die wirtschaftlichen Folgen der Demarkationslinie wider. Also, als Zonenrandgebiet wurde ein 40 Kilometer tiefer Streifen bezeichnet, der von der Ostsee bis runter zum Bayerischen Wald reichte, und als räumliche Einheit war dieses Zonenrandgebiet also aufs Engste mit der Geschichte der Bundesrepublik verbunden. Also, es entstand mit der Teilung und verschwand mit der Wiedervereinigung. Das war in vielerlei Hinsicht eine sehr artifizielle Region und dieser Streifen bekam dann seit Mitte der 50er-Jahre Unterstützung vom Bund, damit die lokale Wirtschaft die plötzliche Grenzlage ausgleichen konnte. Wer den Begriff heute noch kennt, denkt deshalb bei "Zonenrandgebiet" oft auch an einen Subventionsraum.
Maximilian Schönherr: Ist das ein Begriff, den Sie auch im Stasi-Unterlagen-Archiv fanden, oder nannte die DDR-Führung diesen Begriff nicht? Oder nutzte sie einen anderen Begriff? "Sperrzone" kenne ich jetzt von meinen DDR-Verwandten auch nicht als Begriff. War "Zonenrandgebiet" ein DDR- und BRD-Begriff?
Astrid M. Eckert: Nein, das war auf jeden Fall nur ein westdeutscher Begriff, der von einer Gruppe von Leuten geprägt wurde, die ich in dem Buch "Grenzland-Fürsprecher" nenne. Die "Grenzland-Fürsprecher" sind alle Leute, die sich für das Grenzland eingesetzt haben, also Bürgermeister, Landräte, Vertreter der Handelskammern und so weiter. Die haben diesen Begriff bewusst geprägt, weil sie wollten, dass das Zonenrandgebiet als eine räumliche Einheit im Bewusstsein der Westdeutschen verankert wird. Also, die haben sich dieses Wort regelrecht als Teil einer Marketingstrategie, als Label, ausgedacht. Der Begriff ist ja nun wirklich sehr sperrig: "Zonenrandgebiet". Da steckt also das abwertende Wort "Zone" drin. Die DDR wurde von Westdeutschen ja sehr lange noch als "Zone" bezeichnet. Das impliziert, dass die DDR auch nach der Staatsgründung von 1949 letztendlich von der Sowjetunion regiert wurde. Also, damit wurde die Souveränität infrage gestellt. Man kann sich natürlich vorstellen, dass die DDR-Führung mit diesem Begriff nicht sehr glücklich war, eben wegen dieser abwertenden Titulierung "Zone", die in dem Wort mit enthalten war. Im Zuge der Ostpolitik, als dann der Grundlagenvertrag verhandelt wurde, hatte der DDR-Unterhändler Michael Kohl dann auch Egon Bahr darauf hingewiesen, dass man diesen Begriff als Provokation auffasst. Die Bundesregierung hat dann ab 1973 versucht, den Begriff im offiziellen Duktus in der Verwaltung und so weiter zu vermeiden. Es sollte fortan dann "Grenzland zur DDR" heißen. Das war ein netter Versuch, hat aber nicht verfangen. Also, im Alltag wurde der Begriff "Zonenrandgebiet" wirklich bis zum Ende weiter verwendet.
Dagmar Hovestädt: Dieses Zonenrandgebiet wurde - und das fand ich in dem Buch sehr interessant, das haben Sie sich als ein ganzes Kapitel angeschaut - zu einer Art touristischen Attraktion, sozusagen zu einem Ort, zu dem man hingegangen ist, der sich aber auch über die vier Jahrzehnte seiner Existenz durchaus wandelte. Wie haben Sie sozusagen diesen touristischen Aspekt aufgeschlüsselt?
Astrid M. Eckert: Ja, also, es gab tatsächlich das kuriose Phänomen des Grenztourismus, wo Westdeutsche und ihre Besucher an die Grenze gefahren sind. Die Grenze, der Zaun, die Grenzanlagen waren also die Sehenswürdigkeiten, wegen denen man dorthin gefahren ist. Also, es war weniger das Zonenrandgebiet an sich - es war ja auch, wie gesagt, eine sehr tiefe Zone -, sondern es war tatsächlich der Grenzzaun, die direkte Grenzlage. Dieser Grenztourismus - ja, wie habe ich mir den erschlossen? Ich musste mich erst mal selber ein bisschen überzeugen, dass das Phänomen, das ich da vor mir hatte, tatsächlich Tourismus war. Was mich dann am Ende überzeugt hat, waren die vielen Postkarten mit Grenzmotiven, die ich gefunden habe. Die habe ich mir zum Teil bei eBay zusammengesammelt. Da wurde eBay quasi zu meinem Archiv und ich habe mir eine kleine eigene Sammlung angelegt. Mittlerweile habe ich in vielen Grenzmuseen ähnliche Sammlungen gesehen. Die Postkarte ist natürlich wirklich ein touristisches Accessoire, mittlerweile über 150 Jahre alt, hat die Entwicklung des Tourismus zum Massenphänomen begleitet. Schon in den 50er-Jahren tauchten die ersten Postkarten mit Grenzmotiven auf. Das hatte mich wirklich überrascht, denn gerade auch in den frühen 50er-Jahren stand noch nicht viel Grenzinfrastruktur im Gelände. Also, es war dann auch gar nicht viel abzubilden. Und diese Postkarten waren visuell oft sehr anämisch, also sehr blutleer, und da musste dann mit Retusche und mit extra Elementen ein bisschen nachgeholfen werden, um herauszukitzeln, dass bestimmte Motive von der sogenannten "Zonengrenze" stammten.
Dagmar Hovestädt: Sie haben in dem Buch auch drei Beispiele genannt, die über drei Jahrzehnte hinweg die Fortentwicklung des Motivs "Grenze", der innerdeutschen Grenze sozusagen, zeigen. Das beginnt mit so einer 50er-Jahre-Familie: Vater, Mutter, zwei Kinder. Die stehen irgendwo auf der Wiese letztendlich, ne?
Astrid M. Eckert: Genau. Deshalb brauchte diese Postkarte auch unbedingt eine hinzugefügte Unterschrift, die halt den Ort identifiziert, wo genau denn diese Familie stand: im Westharz im Ort Hohegeiß. Und im Bild ebenfalls zu sehen ist ein Schild vom "Kuratorium Unteilbares Deutschland", das mahnt: Auch drüben ist Deutschland. Diese schwarz-rot-goldenen Schilder waren zu der Zeit recht bekannt. Und ohne diese beiden Elemente auf dieser Postkarte würde in der Tat diese Familie einfach nur in einer Wiese stehen und es wäre überhaupt keine Nachricht auf dieser Karte vorhanden.
Dagmar Hovestädt: Also, der Beleg, dass ich irgendwo war, wo es interessant war und wo du nicht bist, [belustigt: was ja diese Postkarte bedeutet,] musste sozusagen dazugefügt werden. Das wird dann aber in späteren Zeiten, auch mit der Verfestigung der Grenze, auch in dem Sinne vielleicht propagandistischer oder zugespitzter, weil dann Elemente auf eine Postkarte kommen, die das, was da gar nicht ist oder nur leicht erkennbar ist, noch mal verstärken.
Astrid M. Eckert: Na, der Grenztourismus hatte ohnehin von unten begonnen. Also, Leute sind einfach zur Grenze gefahren, ohne dass sie jemand dorthin eingeladen oder hingelotst hätte. Da war einfach ein Bedürfnis da, diesen Ort zu sehen, der medial in der frühen Bundesrepublik sehr präsent war. Und nach dem Mauerbau ist dann der Staat auch eingestiegen als ein Player im Grenztourismus. Aus diesen ungeleiteten Sonntagsausflügen sollte halt politische Bildung werden. Und in den 60er-Jahren entsteht dann auch mit staatlichen Mitteln entlang der innerdeutschen Grenze auf westlicher Seite eine regelrechte touristische Infrastruktur, also Aussichtstürme, Aussichtsplattformen, Parkplätze für die Autos, Grenzfahrten wurden bezuschusst, sofern sie Bildungsreisen waren. Der Staat gab dann auch Reisebroschüren heraus, wo man dann auch gezielt bestimmte prägnante Punkte ansteuern konnte. Das war also die Entwicklung der 60er-Jahre, wo der Staat dann versucht hat, diesen Grenztourismus mitzusteuern.
Dagmar Hovestädt: Da fällt mir unser Grenzinformationsturm ein.
Maximilian Schönherr: Genau, ja. Bad Königshofen.
Dagmar Hovestädt: Den hatten wir vor ein paar Folgen mal. Du erinnerst dich noch an den, weil der dich ja auch an deine eigene Touristenrolle an der innerdeutschen Grenze erinnert hat, ne?
Astrid M. Eckert: Mit Herrn Möbius, ja?
Dagmar Hovestädt: Ja.
Maximilian Schönherr: Als ich in die Hauptschule ging, in Neustadt bei Coburg, gab es, wenn uns Verwandte oder Bekannte besuchten, keine Attraktionen da. Nach Coburg zu fahren, war eigentlich uninteressant. Coburg, Neustadt - war eigentlich egal. Also fuhren wir Richtung Sonneberg zur Grenze. Da hörte die Straße auf. Das war schon seltsam für alle Leute, die nicht wie wir im Zonenrandgebiet wohnten. Das heißt, wir, also meine Eltern - ich war ein Kind natürlich -, haben diese Besuche immer die drei Kilometer zur Grenze gefahren oder wir sind spazieren gegangen, weil es einfach nichts anderes gab. Wenn Sie jetzt sagen: Das ist Tourismus. Das ist natürlich auf höherem Niveau Tourismus und es war natürlich willkommen für die Politik, dass die westdeutschen Zonenrandgebiet-Leute da immer ihre Verwandten hinbringen, damit die sehen, wie schrecklich dieses DDR-Regime auf der anderen Seite ist, was man nicht sehen kann. Also was man eigentlich sieht, aber nicht sehen sollte, von DDR-Perspektive aus gesehen. Für uns war es so: Wir hatten nichts anderes. Das Zonenrandgebiet war so triste, dass wir halt dann am Sonntag zur Grenze gingen.
Astrid M. Eckert: Diese durchtrennte Straße zwischen Neustadt und Sonneberg hieß "die gebrannte Brücke". Darüber hat meine Kollegin Edith Sheffer ein ganzes Buch geschrieben, das heißt "Burned Bridge" auf Englisch.
Dagmar Hovestädt: Ah. Sie haben ja dieses Buch in insgesamt 19 Archiven recherchiert. Und diese Grenzinformationsstellen, die Türme, auf die man steigt, um reinzugucken - Sie beschreiben das im Einleitungskapitel sehr gut: Die Touristen auf der Westseite sehen das, was das SED-Regime eigentlich ja den eigenen Bürgern vorenthält. Grund für Mauer und Befestigung ist ja der "faschistische Westen", der aggressiv sein soll, aber alles, was hinter dem Zaun, hinter der Grenze ist, ist gegen die eigenen Bürger gerichtet. Das sehen die aus dem Westen und das ist propagandistisch und insgesamt eher entlarvend. Da kommt die Stasi natürlich auf den Plan: Da passiert was. Und man sieht in den Stasi-Unterlagen, wie das wahrgenommen wird und wie die Stasi versucht, Pläne dagegen zu entwickeln.
Astrid M. Eckert: Ja, genau. Also, dieser Grenztourismus war wirklich eine Provokation für das SED-Regime aus den Gründen, die Sie gerade ausgeführt haben, aber man stand dem doch relativ hilflos gegenüber. Man konnte dagegen nicht viel machen. Die Leute kamen nun einmal und das war sehr ärgerlich, wenn dann zum Beispiel in späteren Jahren DDR-Rentner dabei waren, die halt reisen konnten und dann von Westseite diese Grenzanlagen gesehen haben.
Dagmar Hovestädt: Und dann wieder in die DDR zurückkehrten, um zu berichten, ne?
Astrid M. Eckert: Mit diesem Wissen. Ja, genau. Und da hat die Stasi versucht, einige Strategien zu entwickeln, wie man damit nun umgeht. In den 50er-Jahren hat man sich sehr darüber geärgert, dass Westdeutsche kamen und sich darüber mokiert haben, dass im Schutzstreifen Dörfer in einem schlechten Zustand waren, zum Teil auch verfallen sind. Wegen der Zwangsaussiedlung waren halt keine Bewohner mehr da. Und dann gab es eine Kampagne, dass solche verfallenen Gehöfte gemeldet werden sollten. Die wurden dann entweder abgerissen oder wurden gezielt verschönert, damit von Westseite halt nicht so entlarvende Fotos gemacht werden konnten. Also, die Zerstörung von gewissen Gebäuden und so weiter war nicht immer nur ein reines Sicherungsziel, sondern da ging es auch um die Optik. Das ist auch ganz deutlich in den Stasi-Akten nachzulesen. Diese Strategie hat man dann aber irgendwann aufgegeben im Zuge des Mauerbaus. Als mit dem sogenannten "pioniertechnischen Ausbau" der Grenzanlagen noch mal komplett neu angesetzt wurde und die Grenze weiter ausgebaut wurde, sind die Grenzanlagen ja auch direkt von der Demarkationslinie abgezogen und weiter ins Hinterland gezogen worden. Natürlich spielte hier der Sicherungsaspekt die Hauptrolle, aber trotzdem hat man doch diese westlichen Touristen immer gleich schon mitgedacht. Und die Strategie oder das Ziel war, einen Grenzbesuch möglichst ereignisarm [belustigt] werden zu lassen für die Westdeutschen. Also, es sollte langweilig werden, dorthin zu kommen. Da sollte nichts zu sehen sein. An einigen Grenzabschnitten durfte dann auch der vormalige Kontrollstreifen überwuchern, da konnte Gesträuch stehen, sodass man noch nicht mal mehr den Zaun sehen konnte. Ich habe sehr viele Besuchsprotokolle gelesen, wo die Besucher dann einfach sagen: Das war ja jetzt langweilig, das soll die Schnittstelle sein zwischen Ost und West, hier trifft NATO auf Warschauer Pakt - und was war los? Gar nichts. Aber das war dann tatsächlich das Ziel: Da sollte sich nichts mehr in Hör- und Sichtweite der westlichen Besucher abspielen.
Dagmar Hovestädt: Haben Sie das in den Stasi-Unterlagen gefunden? Gab es quasi Durchsetzung oder Unterwanderung von touristischen Informationsstellen, um herauszufinden, wie das ankommt und wie das wirkt?
Astrid M. Eckert: Ja. Auf jeden Fall gab es diese Versuche, die touristischen Besuchspunkte "aufzuklären", in Anführungsstrichen. Es wurden auch gezielt Richtmikrofone gelegt, damit man die Gespräche zwischen den Zollgrenzbeamten oder BGS-Beamten und den Besuchern abhören konnte, um herauszufinden, wie eine solche sogenannte "Einweisung" in den Grenzabschnitt für diese Touristen ablief. Aber wiederum hat das ja nichts an der Sache geändert. Und was ich gerade erzählt habe, dass es Berichte gab, dass Schüler und so weiter die Grenzbesuche nicht so aufregend fanden, das fand sich dann auch oft in der lokalen Presse auf westlicher Seite, wo dann so ein Grenzbesuch mal begleitet wurde. Und da konnte man das dann nachlesen, dass gerade Schüler aus dem Ausland sich da durchaus was anderes vorgestellt haben. Manche ausländische Besucher wollten dann einfach dem Bild im Kopf auch ein bisschen nachhelfen und haben dann auch ausgesprochene Dummheiten an der Demarkationslinie aufgeführt. Da wurden Felsstückchen und Steine rübergeworfen, um eine Mine auszulösen, oder man hat versucht, den Zaun zu bewerfen, oder ist sogar hingelaufen, über die Demarkationslinie hinweg. Das konnte dann sehr schnell zu einem sogenannten "Grenzzwischenfall" führen, nämlich wurden diese Leute dann verhaftet, wurden beschossen. Also, da sind auch schlimme Dinge passiert.
Dagmar Hovestädt: Sie haben auch ein kleines Detail herausgefunden, das sozusagen in der Dynamik vorstellbar ist, aber auch eine gewisse Absurdität hat: Es gab tatsächlich mal die Idee, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, [belustigt: also von der Ostseite in den Westen rüberzugucken,] um zu sagen: Guck mal, wie es da aussieht.
Astrid M. Eckert: Ja. Das hat mich auch überrascht. Das habe ich durch Zufall gefunden. Es gab wohl in einem Jahr in den 60ern - leider fällt mir das Jahr jetzt nicht ein - das Phänomen, dass von der Ostseite eine Besuchergruppe an die Grenze herangeführt wurde - und das weiß ich aus den BGS-Unterlagen- -
Dagmar Hovestädt: Bundesgrenzschutz-Unterlagen.
Astrid M. Eckert: Ja, aus den Unterlagen des Bundesgrenzschutzes, wo die Beamten das als ein neuartiges Phänomen notiert haben und ganz klar als Besichtigung identifiziert haben. Das habe ich aber, wie gesagt, nur für ein bestimmtes Datum gefunden. Ich nehme mal an, dieser Versuch wurde schnell wieder verworfen. Es war nun mal eine Sicherheitszone. Aber die Tatsache, dass man das überhaupt versucht hat, deutet darauf hin, dass dieser Blick über die Grenze einfach auch Machtverhältnisse widerspiegelte: Wer kann gucken, wer kann reinschauen, wer wird beguckt? Das ist nicht unwichtig.
Dagmar Hovestädt: Ja.
Maximilian Schönherr: Ich würde mir mal gerne die Grenze besser vorstellen. Das ist mir tatsächlich nicht ganz klar. Sie sagten vorhin, Ihre Studierenden haben dann vor allem die Berliner Mauer im Kopf. Wie bildete sich diese Grenze eigentlich aus, am platten Land jetzt? Sie schreiben in Ihrem Buch von wirtschaftlichen Schnitten quasi: von einem Wasserlauf, aber das Wasserkraftwerk ist auf der anderen Seite dieser Grenze. Dann ist die Grenze entstanden, man konnte aber immer noch von Osten nach Westen gehen, oder nicht? Und war es in Berlin schwieriger? Waren da mehr Kontrollen? Wie muss ich mir die Grenze zum Beispiel 1950, ein Jahr nach Gründung der DDR, vorstellen?
Astrid M. Eckert: Also, die Grenze war ja ursprünglich erst mal nur eine Demarkationslinie und von denen gab es bekanntlich etliche nach '45. Es ist ja nicht nur so, dass die Demarkationslinie zwischen den Westzonen und der Sowjetischen Besatzungszone ein besonderer Ort war. Auch die Demarkationslinie zum Saarland, das unter französischer Verwaltung stand, war stark bewacht, war stark "beschmuggelt". [leichtes lachen] Auch dort gab es harte Eingriffe in das Wirtschaftsgefüge und auch viele Todesopfer unter den Kaffee-Schmugglern, die von Zollbeamten erschossen wurden im sogenannten "Loch im Westen", westlich von Aachen. Also auch das ist ein interessanter Nachkriegsgrenzpunkt. Die Grenzanlage, also die Demarkationslinie, war erst mal nur eine Verwaltungsgrenze, war quasi eine Linie auf einer Landkarte und noch nicht weiter befestigt. Was als Erstes kam, waren Schilder. Nach 1948, als die D-Mark in den Westzonen eingeführt wurde, begann diese Demarkationslinie sich langsam zu verhalten wie eine Grenze. Ich sage "verhalten". Das ist vielleicht ein seltsames Wort im Zusammenhang mit der Grenze, aber es war mittlerweile dann eine Linie zwischen zwei divergierenden Wirtschaftsräumen. Die Westzonen wurden wegen der D-Mark auch für Ostdeutsche sehr aktiv und die ganzen Phänomene wie Schmuggel und so weiter, die es ja seit '45 gegeben hatte, wurden nach 1948, als die D-Mark eingeführt war, immer einseitiger. Also, die Ostdeutschen waren jetzt quasi die Aktiven, die den Schmuggel betrieben, obwohl Westdeutsche natürlich nach wie vor davon profitiert haben. Aber der Ton änderte sich jetzt. Schmuggel war im Nachkriegsdeutschland eine Überlebensstrategie, nach 1948 wurde er dann als "Schieberei" kriminalisiert und vor allen Dingen mit Ostdeutschen assoziiert. So, hier findet also schon eine Verschiebung statt und nach '48 beginnen die Westdeutschen, ein bisschen herabzublicken auf die Ostdeutschen, als wären das die armen Verwandten. Also, da findet eine Machtverschiebung statt. Die Westdeutschen werden auch immer protektionistischer in dem Moment, als sie die D-Mark haben und auch so Praktiken wie Schmuggel gar nicht mehr nötig haben. Und nach '48 haben wir also tatsächlich die Situation, dass die Grenze manchmal von westdeutscher Seite schärfer bewacht wird als von ostdeutscher Seite. Also, da gibt es nach '48 Pushback von Migranten, von Arbeitsmigranten oder Arbeitspendlern. Und das ist im Gedächtnis eigentlich weitgehend verschwunden, dass es diesen Moment gab, wo die Grenze von westlicher Seite auch mitpatrouilliert und umgesetzt wurde. Sie fragten: Wie sah die Grenze dann konkret aus nach Gründung der DDR oder 1950? Immer noch sehr simpel. Selbst Ende der 50er-Jahre hat die Demarkationslinie in voller Länge noch keinen einfachen Drahtzaun. Es gibt immer noch Bereiche, die offen sind. Was kontinuierlich gemacht wurde, war der sogenannte "Kontrollstreifen", also ein zehn Meter breiter Streifen, der geeggt war. Der war quasi ein Fußstapfen-Archiv. Da konnte man dann halt sehen, an welchen Stellen überhaupt jemand drübergelaufen ist und solche Stellen wurden dann vermehrt patrouilliert. Aber für viele Jahre war die innerdeutsche Grenze noch relativ unbefestigt und wurde dann aber in Schüben ausgebaut. Ein weiterer Schub ist dann natürlich 1952: die Grenzabriegelung im Frühsommer '52. Richtig hart ausgebaut wird sie dann nach 1961, nach dem Mauerbau in Berlin, und viele Leute erinnern sich natürlich quasi an die letzte Phase dieser Grenze aus den 70er- und 80er-Jahren, die sogenannte "Moderne Grenze". Zu dem Zeitpunkt haben wir dann Doppelzäune, sehr hohe Doppelzäune, verzinkte Diamant-Maschendrahtzäune, Minenfelder, Selbstschussanlagen und das ganze Equipment der Grenzsicherung.
Dagmar Hovestädt: Ganz kurze Nachfrage: Was ich sehr erstaunlich fand, ist, dass die Grenze, der Grenzverlauf, eigentlich bis 1972 noch umstritten war. Der war gar nicht hundertprozentig klar, da wurde eine Grenzkommission eingesetzt im Zuge des Grundlagenvertrags.
Astrid M. Eckert: Ja, genau. Die Grenzkommission hatte dann die Aufgabe, den Grenzverlauf abzustimmen und sich darauf zu einigen. Also, hier wurde viel kartiert. Ost- und Westdeutsche haben da zusammengearbeitet, die haben quasi die Grenze "gesettled".
Dagmar Hovestädt: Gab es noch Austausche?
Astrid M. Eckert: Man hat sich darauf geeinigt, wo sie denn nun genau verläuft. Und der letzte Streitpunkt war dann die Elbe. Darauf konnte man sich bis zum Schluss nicht einigen. Die DDR hat behauptet, die Grenze verlaufe in der Mitte des Flusses, die Westdeutschen haben gesagt, am östlichen Ufer. Und darauf hat man sich nicht einigen können. Aber die Grenzkommission hat im Grunde genommen einen großen Beitrag dazu geleistet, die Grenze zu befrieden, und wiederum hatte man durchaus die westlichen Grenztouristen mit im Blick, die halt oft über die Demarkationslinie gelatscht sind, weil sie nicht genau wussten, wo die eigentlich ist, weil der Verlauf, wie gesagt, strittig war.
Maximilian Schönherr: "Zonenrandgebiet" ist Ihr Thema. Was für eine Rolle spielt im Zonenrandgebiet der "Interzonenhandel"?
Astrid M. Eckert: Ja, der "Interzonenhandel" ist ja auch so ein Begriff aus dem frühen Kalten Krieg. Man muss sich das so vorstellen: Deutschland war natürlich ein Wirtschaftsraum und durch die Demarkationslinien und die Umsetzung dieser Demarkationslinien - die wurden ja nicht nur als Strich auf der Karte behandelt - kam der sogenannte "Interzonenhandel" in Schwung. Man brauchte gewisse Warenausfuhrpapiere und alles musste zollamtlich geregelt werden. Der vorherige Wirtschaftsraum Deutschland wurde also quasi zerschnitten. Die Grenzlandkreise waren gerade erst wieder nach 1946/47 ein bisschen in Gang gekommen, die Demarkationslinien-überschreitenden Austausche waren gerade wieder ein bisschen in Gang gekommen, als dann halt die D-Mark eingeführt wurde, worauf die Sowjetunion ja bekanntlich mit der Berlin-Blockade reagiert hat. Das hat den "Interzonenhandel" dann wieder völlig aus der Bahn geworfen. Also, er war gerade so ein bisschen dabei, an Volumen zuzunehmen, und stürzte dann anschließend wieder ab. Das war also wirklich ein wichtiger Schritt in der forcierten Entflechtung der regionalen Wirtschaft entlang der innerdeutschen Grenze. Aber es war nicht nur die Berlin-Blockade, es war auch die weit weniger bekannte alliierte Gegenblockade, die da der lokalen Wirtschaft ins Kreuz gefahren ist. Also, beginnend mit Kohle und Stahl, sollte nichts mehr in die Sowjetische Besatzungszone geliefert werden. Selbst wenn man Warenbegleitscheine hatte, nützten die einem nichts mehr. Die Handelskammer Braunschweig hat ihre Kammermitglieder angewiesen: Versucht es gar nicht, ihr kommt da nicht rüber mit euren Waren! Und natürlich konnten sie auch nichts mehr beziehen von östlich der Demarkationslinie. Dieses Wechselspiel von Blockade und Gegenblockade hatte schon vor der eigentlichen Grenzschließung im Sommer '52 wirklich eine verheerende Auswirkung für die Wirtschaftsbeziehung, für das Wirtschaftsgeflecht entlang der Demarkationslinie. Und die lokale und regionale Wirtschaft wurde durch dieses Blockade-Geschehen wirklich massiv gestört.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
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Maximilian Schönherr: Als die Grenze noch nicht so befestigt war - ich springe wieder zurück zu 1950/51 bis 1952 -, gingen doch nach Einführung der D-Mark viele Leute aus dem Osten in den Westen. Das heißt, es gab eine "Flüchtlingsproblematik", in Anführungszeichen. Wie ging man damit um? Waren das wirklich viele Leute? Gingen die über die "Grüne Grenze"? Wurden die offiziell ausgewiesen? Was war da die Gemengelage?
Astrid M. Eckert: Also, wir sind natürlich im Nachkriegsdeutschland immer noch in einem Moment, wo Leute nach wie vor versuchen, ihre Familien wieder zusammenzuführen, die durch den Krieg zerrissen worden sind. Also, da gab es viel Bewegung, einfach, weil Leute versucht haben, ihre Verwandten wiederzufinden.
Maximilian Schönherr: In beide Richtungen.
Astrid M. Eckert: In beide Richtungen. Und es war ja auch durchaus noch nicht ausgemacht, dass diese Demarkationslinie sich mal zu so einer befestigten Grenze auswachsen würde. Aber die Verschärfung des Grenzregimes im Frühsommer 1952 veranlasste dann über 4.000 Menschen aus den Grenzkreisen auf der östlichen Seite zur Flucht über die Demarkationslinie. Diese Leute lebten genau dort, wo die Sperrzone eingerichtet werden sollte. Die sollten Haus und Hof verlieren oder sollten sogar zwangsausgesiedelt werden. In Westdeutschland nannte man diese spezifische Gruppe dann die "Sperrzonenflüchtlinge", weil sie mit dieser Grenzabriegelung im Zusammenhang standen. Und das waren zum Teil wirklich dramatische Fluchten, zum Teil durch die Werra. Manche Leute kamen nur mit dem Hemd auf dem Leib, andere brachten durchaus ihren Hausstand mit. Diesen Sommer erzählte mir ein Mann sogar von der Flucht einer Bauernfamilie im Eichsfeld, die haben sogar ihr Schwein mitgebracht. Da natürlich das Tier die Flucht wahrscheinlich verraten hätte, wurde dem vorher eine Flasche Schnaps gegeben, bevor man das im Kasten durch die Werra getragen hat. Also, 1952 war zahlenmäßig ein gewisser Höhepunkt, aber wie Sie sagten: Schon seit Kriegsende haben Leute die Demarkationslinie überschritten. Da hat eine Wanderungsbewegung stattgefunden und diese Migration war in den Westzonen nicht unbedingt willkommen bis '52. Es gab halt den Vorwurf, gerade nach der Währungsreform, dass dies ja "nur" Wirtschaftsflüchtlinge seien, die quasi in den D-Mark-Raum einwandern wollen. Und wie gesagt, es gab dann starke westliche Abwehrreflexe und erst nach der Grenzabriegelung von '52 wurden diese Leute dann als Flüchtlinge anerkannt. Jetzt konnte ihre Migration halt politisch auch verwertet werden. Ganz offensichtlich flohen sie vor dem Totalitarismus in die freie Welt. Die Flüchtlinge konnten jetzt also in der antikommunistischen Propaganda Westdeutschlands mit untergebracht werden.
Dagmar Hovestädt: Nur ein ganz kleiner Aspekt dazu: Die Stasi nennt diese Aktion 1952 ja Aktion "Ungeziefer", was ja auch sozusagen eine bestimmte Haltung zu den Menschen in der Sperrzone ausdrückt. Ich weiß gar nicht, ob das im Westen bekannt war zu dem Zeitpunkt. Vermutlich nicht, oder?
Astrid M. Eckert: Der Ausdruck kommt aus Thüringen, nicht unbedingt von der Stasi. In einem Behördendokument ist der einfach so gefallen, wurde dann aber, weil er so schockierend war, in der Literatur auch für diese gesamte Deportation der Menschen aus der Sperrzone mitverwendet. Ja, das ist ein sehr abwertender Begriff und innerhalb der DDR wussten die meisten Menschen bis '89 überhaupt nicht, dass es diese Zwangsaussiedlungen gegeben hatte. Darunter haben die zwangsausgesiedelten Menschen auch sehr gelitten. Die wurden ja ins Hinterland verbracht, kamen da an und es wurde lokal angekündigt: Hier kommen jetzt ein paar Staatsfeinde. Das ist natürlich hart dann für Kinder, die in die Schule gehen, gemieden werden und all solche Dinge. Also, deren Geschichte wurde nicht - auf keinen Fall - offen verhandelt. Erst nach '89, als sie sich auch zusammenschließen konnten zu Interessengruppen, als sie darum kämpfen konnten, dass sie ihr Hab und Gut wiederbekommen, ist diese Geschichte weiter bekannt geworden. Und wie gesagt: Auf westlicher Seite hießen sie die "Sperrzonenflüchtlinge". Da war schon deutlich, dass es hier einen Push-Faktor gab, nämlich die Einrichtung dieser Sperrzone. Und auf westlicher Seite konnten die Menschen natürlich auch berichten, dass geplant worden ist, sie auszuweisen. Ja.
Maximilian Schönherr: Ich zitiere mal aus Ihrem Buch. 1950 gab es eine Kritik an Nordrhein-Westfalen, genau wegen dieser Flüchtlingsbewegung aus der DDR. Ich zitiere wörtlich: "Ein Landrat nannte es unverantwortlich, dass ein Bundesland wie Nordrhein-Westfalen 'nur voll erwerbsfähige Facharbeiter' anwerben würde und dadurch aus dem Grenzland ein Alters- und Armenhaus machte." Prototypisch, dieses Zitat, oder? Man wollte gute Arbeitskräfte für das Wirtschaftswunder, das dann irgendwann später anlief. Also, man brauchte Arbeitskräfte, qualifizierte Leute, aber den Rest der Familie ließ man dann im Ostgebiet.
Astrid M. Eckert: Ja, also, da muss ich ein bisschen anders ansetzen. Das sind ja zwei Schritte: zum einen die Fluchtbewegung aus der Sperrzone heraus auf die westliche Seite und - was Sie jetzt beschreiben - die Abwerbung von Fachkräften aus dem Zonenrandgebiet. Ich hatte auch den Begriff "Sortiermaschine" für die Grenze verwendet. Das ist ein Ausdruck von dem Soziologen Steffen Mau, der hier an der Humboldt-Universität unterrichtet. Der hat ein Sachbuch unter dem Titel geschrieben. Die westdeutsche Seite hat nämlich durchaus versucht, Leute mit bestimmten Qualifikationen aus diesem Flüchtlingsstrom herauszupicken. Also, grundsätzlich wollte man die angeblichen Wirtschaftsflüchtlinge nicht, aber zum Beispiel Bergarbeiter waren sehr gefragt oder Leute mit anderen Qualifizierungen waren auch im Westen sehr gefragt. Das Land Hessen war froh über Kali-Bergleute, die im Sommer '52 rüberkamen. Auch Landwirte, die auf der westlichen Seite im Eichsfeld Land hatten, waren sehr willkommen und konnten bleiben. Allerdings war mit diesem Herauspicken natürlich irgendwann Schluss. Mit der Grenzabriegelung wurde dieser Strom zu einem Rinnsal und die Grenzlandkreise auf der westlichen Seite waren Anfang der 50er-Jahre noch durchweg überbelegt, auch mit Vertriebenen und DDR-Flüchtlingen. Man muss wirklich ganz klar sagen: Vor der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer durch die Bundesrepublik 1955 war das Zonenrandgebiet das Arbeitskräfte-Reservoir des Wirtschaftswunders. Da saßen also die Leute, viele von ihnen halt Vertriebene und Flüchtlinge. Die waren natürlich, als sie ankamen, nicht unbedingt willkommen. Das wissen wir aus dem Buch "Kalte Heimat" von Andreas Kossert. Die Flüchtlinge und die Einheimischen - das war ein durchaus spannungsgeladenes Verhältnis. Von daher waren die Grenzlandkreise am Anfang durchaus noch froh, dass die dann irgendwann weiterzogen. Aber irgendwann fiel ihnen auf, dass das durchaus auch die Fachkräfte waren, die sie selber zum Wiederaufbau benötigten, sodass dann Anfang der 50er-Jahre die ersten Töne dazukommen: Hallo, ihr greift hier die besten Arbeiter ab. Und in diesen Kontext gehört dann eben das Zitat, das Sie eben gebracht haben, von diesem Landrat, der sich darüber beklagt, dass Nordrhein-Westfalen die Facharbeiter mitnimmt, aber die Älteren, also die Schwachen, die auf Sozialhilfe oder staatliche Unterstützung angewiesen sind, halt zurückbleiben. Diese Menschen, die nicht im Arbeitsprozess drin sind, werden dann auch in der Behördensprache schon mal abwertend als "Sozialgepäck" bezeichnet. Und in diesem Kontext hatte dieser Landrat dann gesagt: Hey, wir werden jetzt zum Alten- und Armenhaus, wenn ihr nur die berufstätigen Männer abwerbt.
Dagmar Hovestädt: Sie haben das eben noch mal erwähnt: Vertriebene. Damit sind jetzt aber die Vertriebenen aus der DDR beziehungsweise der Sperrzone gemeint. Sie haben aber auch eine andere Gruppe an Vertriebenen, die sich mit dieser innerdeutschen Grenze identifiziert, auf eine etwas merkwürdige Art. Das hatte ich überhaupt nicht auf dem Schirm: dass auch die Vertriebenen aus dem Sudetenland, also die in der Folge des Zweiten Weltkriegs Vertriebenen, an diese Grenze herangegangen sind und dort sozusagen ihre Erinnerungen auf eine bestimmte Art und Weise manifestiert haben, ne?
Astrid M. Eckert: Ja. Also, grundsätzlich unterscheide ich immer zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen, also Flüchtlingen aus der DDR und die Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Für die hatte die Grenze in der Tat noch eine ganz andere Bedeutung: Bis man überhaupt wieder zum Beispiel nach Polen oder in die Tschechoslowakei reisen konnte, war die Grenze quasi der nächste Punkt. Nur so nah konnten sie ihrer alten Heimat kommen. Für die Sudetendeutschen war also die Ostgrenze Bayerns ein sehr erinnerungsbeladener Raum. Das war also nicht nur die Grenze zum neuen Gegner des Kalten Krieges, das war auch eng verflochten mit ihrer eigenen Migrationsgeschichte. Zum Teil konnten sie von der Grenze in manche Dörfer sogar hineinblicken. Und die Vertriebenen haben gezielt im Grenzraum dann auch quasi Erinnerungsorte gebaut. Da wurde zum Beispiel ein großes Kreuz errichtet, es wurden Gottesdienste im Freien abgehalten, es wurden Gebetsschreine aufgestellt, es wurden kleine Kapellen aus der Heimat nachgebaut. Meine Kollegin Yuliya Komska hat ein Buch geschrieben, das heißt "The Icon Curtain", also "Der ikonische Vorhang", wo sie genau diese Dinge aufgreift: wie der Grenzstreifen von westlicher Seite quasi möbliert wurde mit diesen Erinnerungsorten, die man dann auf Wanderungen angesteuert hat. Und diese Wanderungen werden dann wiederum reflektiert in den Heimatbriefen und so weiter. Also, da spielte die Grenze eine sehr große Rolle als Erinnerungsraum.
Dagmar Hovestädt: Ja. Ich will noch mal ganz kurz jetzt was Technisches reinschieben. Wenn Sie schreiben, dass Sie 19 Archive dafür konsultiert haben: Wie lange braucht es denn eigentlich, so eine Arbeit zu machen, und was gehört zu all diesen Archiven, die Sie konsultiert haben, um das Phänomen über 40 Jahre lang zu fassen und das eben auch aus dieser westdeutschen Perspektive ein Stück weit multi-facettierter sozusagen anzugehen?
Astrid M. Eckert: Also, ich habe schon recht lange gearbeitet an dem Buch. Über zehn Jahre. Das darf man sich aber nicht so vorstellen, dass ich da zehn Jahre dran gehockt hätte. Ich habe natürlich auch noch einen anderen Job. Neun Monate im Jahr bespiele ich zwei Semester. Dann hat man also die Semesterferien, um die Forschung voranzubringen, und wenn man Glück hat, kriegt man ein Freisemester oder hat ein Stipendium. Von daher werde ich der Humboldt-Stiftung ewig dankbar sein für das Jahr 2015/16, als ich hier sitzen und schreiben durfte. In den Archiven, die ich angesteuert habe, habe ich gezielt nach Material zum Zonenrandgebiet gesucht und habe mich dann auch ein bisschen von dem Material leiten lassen, welche Themenschwerpunktsetzung ich eigentlich vornehmen möchte. Das Buch ist halt nicht rein chronologisch angelegt, sondern thematisch, und ich wollte mich auch nicht nur auf einen bestimmten Ort im Zonenrandgebiet kaprizieren, sondern die Grenze komplett bespielen, also alle Orte mit aufnehmen. Den Grenztourismus gab es halt in Lübeck und den gab es auch in Neustadt bei Coburg. Von daher habe ich da meine Beispiele genommen, wo ich sie gefunden habe, um einfach dieses Phänomen gut darstellen zu können. Ja. Und die Archive, die ich benutzt habe, waren zum einen staatliche Archive - ganz normal: Hauptstaatsarchiv hier und da -, aber auch zum Teil private Sammlungen von Leuten. Ich habe schon die Postkarten erwähnt, die ich auf eBay erstanden habe. Die wurden dann ja quasi auch mein Arbeitsmaterial. Und dann gibt es natürlich zeitgenössisch auch viele Publikationen, die man mit aufnehmen kann und auch sollte, um einfach den Diskurs über die Grenze zu verstehen, also die Regierungsbroschüren: Wie wurde überhaupt über diese Grenze gesprochen? Die Bundesrepublik war natürlich der Meinung, dass sie dort Informationen geliefert hat - Propaganda macht ja bekanntlich nur die andere Seite, nicht wahr? -, aber das ist natürlich ganz klar Kriegspropaganda auch gewesen. Und so muss man das dann auch dekonstruieren, ja.
Dagmar Hovestädt: Jetzt noch pro domo gefragt: Das Stasi-Unterlagen-Archiv - welche Farbe hat das sozusagen einbringen können in das Werk?
Astrid M. Eckert: Na ja, es hat mich natürlich schon interessiert, wie zum Beispiel die DDR-Seite den Grenztourismus wahrgenommen hat, wie sie versucht hat, mit ihm umzugehen. Da habe ich sehr viele Stasi-Akten verwendet. Ich habe dann auch sehr viele Stasi-Akten für das Gorleben-Kapitel verwendet. Das ist das letzte Kapitel. Hier habe ich zum ersten Mal die Rolle der DDR im Gorleben-Standortkonflikt aufgearbeitet, sehr systematisch. Da habe ich auch eine sehr schöne Entdeckung gemacht, nämlich: In der Bundesregierung gab es lebhafte Diskussionen, wann man denn eigentlich die DDR offiziell darüber in Kenntnis setzen müsste, dass Gorleben in Betracht gezogen wird als Standort für dieses Nukleare Entsorgungszentrum. Und als ich dann in den Stasi-Akten recherchiert habe, fiel mir aber sehr schnell auf, dass die Bonner Seite sich da gar nicht so viele Gedanken hätte machen müssen. Die DDR war nämlich bestens informiert - meistens auch in Echtzeit fast schon - über diese Gorleben-Pläne, denn der Bonner Entscheidungsprozess wurde sehr eng nachvollzogen, und zwar wirklich aus dem Kern, aus dem Machtzentrum heraus. Aus dem Nuklear-Kabinett von Helmut Schmidt sind offenbar Informationen abgeflossen. Ich habe da einen westdeutschen Vermerk für das Nuklear-Kabinett von Ende März '77 gefunden und der Inhalt taucht dann wortwörtlich zwei Monate später in einer Stasi-Information auf. Ich bin da jetzt nicht weiter nachgestiegen, wer das Loch war, wer die Lücke war. Das interessierte mich auch nicht. Aber die Tatsache an sich war für meine Argumentation sehr wichtig.
Dagmar Hovestädt: Das heißt also, auch die Westseite war gar nicht so gut darüber informiert, was die Ostseite alles schon wusste, wenn sie sich damit so lange schwergetan haben zu überlegen, wann sie die DDR darüber informieren.
Astrid M. Eckert: Da fand natürlich Diplomatie zwischen Bonn und Ost-Berlin statt, auch was diesen Gorleben-Konflikt anging. Auf westdeutscher Seite hielt sich lange die Mär, dass die DDR gegen Gorleben gar nicht großartig protestiert hätte. Das stimmt aber wirklich rein gar nicht. Es fand alles hinter den Kulissen statt, aber die DDR hat sehr heftig gegen dieses Nukleare Entsorgungszentrum verwahrt, besonders die Wiederaufbereitungsanlage. Die wurde dann aber 1979 aus dem Konzept genommen und damit war ein größerer Stein des Anstoßes also nicht mehr vorhanden. Und die DDR hat natürlich ihr eigenes Atommülllager in Morsleben gehabt, also auch nicht weit von der Grenze, in der Sperrzone sogar, wo man Informationen dann ja auch sehr gut kontrollieren konnte. Und Gorleben/Morsleben wurde dann auch so ein Doppelgespann im Denken der DDR, dass die beiden irgendwie zusammengehörten. Das ging so weit, dass ich in den Akten der DDR dann Vermischungen gefunden habe. Plötzlich wurde das Phänomen "Gorsleben" genannt, also fast schon eine Freud'sche Fehlleistung, dieser Tippfehler. Aber für die hing das einfach sehr eng zusammen.
Dagmar Hovestädt: Wir werden wahrscheinlich heute nicht ganz so tief einsteigen können in die zwei, drei Kapitel, die Sie in Bezug auf Umwelt/Ökologie in diesem Grenzstreifen machen und diese Spezifika oder das Spezialkapitel zu der atomaren Entsorgung und den Endlagerstätten. Aber was ich auch sehr spannend finde, ist, dass man in dem Buch an verschiedensten Stellen merkt, wie das Wissen übereinander vorhanden ist, aber auch nicht, und wie man gefangen ist in den eigenen Narrativen. Also, in Bezug auf beispielsweise Umweltbelastung und Umweltzerstörung versucht man, was zu verhandeln, obwohl man eigentlich wissen könnte, dass die DDR überhaupt keinen Spielraum hat, umweltfreundlicher zu agieren, weil sie aus dem letzten Loch pfeift - zumindest in den 80er-Jahren -, was die Industrieproduktion angeht, ne?
Astrid M. Eckert: Ja. Also, die Umweltdiplomatie kam Ende der 70er-Jahre dazu und wurde ein neuer Aspekt der bereits hochkomplexen deutsch-deutschen Beziehungen. Und Missverständnisse oder Wahrnehmungen aus anderen Aspekten spielten da dann auch sofort mit rein. Die bundesdeutsche Delegation war stets der Meinung, die DDR versuche, sie mit Umweltverschmutzung regelrecht zu erpressen, um Umwelttechnologie zu bekommen oder Förderung und so weiter, während die DDR-Führung der Meinung war, die Bundesrepublik versuche, sie international an den Pranger zu stellen. Also, das traf recht hart aufeinander und führte zu herzlich wenig Ergebnissen bis '89. Es gab natürlich das Umweltabkkommen von 1987, das war aber mehr quasi ein Arbeitsplan für die Zukunft und hatte noch keine konkreten Auswirkungen. Und wie Sie gerade sagten: Die westdeutsche Seite hat sehr genau hingeschaut, welche Umweltverschmutzung aus der DDR nach Westdeutschland kam, besonders auch über die Flüsse, die meistens in Richtung Westen entwässerten. Und da hat man also gemessen und dokumentiert und auch moniert, aber zu keinem Zeitpunkt begriffen, dass man letztendlich den Niedergang der DDR dokumentiert hat.
Maximilian Schönherr: Bei Gorleben fand ich auch erstaunlich, wie nah die Provokation, wie nah die Demonstranten an der Grenze waren und wie jetzt der Grenzsoldat der DDR darauf reagiert.
Astrid M. Eckert: Na ja, und der westliche ja auch!
Maximilian Schönherr: Der westliche auch. Jedenfalls hat die Stasi schöne Fotos gemacht.
Astrid M. Eckert: Ja, in der Tat. Genau. Also, ich habe halt in dem Gorleben-Kapitel einfach wirklich versucht zu erklären, wie die Grenze jeden Aspekt der Gorleben-Kontroverse beeinflusst hat, einschließlich des Anti-Gorleben-Protestes. Die Demonstranten haben also die Grenze aktiv in ihren Protest eingebunden. Es gab 1983 diesen berühmten Grenzprotest, wo man über die Demarkationslinie geschritten ist in das sogenannte "Niemandsland". Das war natürlich kein "Niemandsland", das war bereits Territorium der DDR. Damit war man dem westlichen BGS entzogen. Man war aber vor dem Zaun und hat Transparente mitgeführt und halt auch erklärt: Wir sind nicht hier, um die DDR zu ärgern, sondern wir wollen von beiden Seiten wissen: Was ist hier eigentlich das Notfallprotokoll, wenn es mal einen Störfall geben sollte in diesem neuen Zentrum? Das hat aber letztendlich die Grenzsoldaten auf beiden Seiten sehr geärgert. [lacht kurz] Die westdeutschen konnten nicht eingreifen, weil sie nicht über die Demarkationslinie durften, und die ostdeutschen Grenzer hatten, ehrlich gesagt, keine Ahnung, was sie tun sollten. Die waren völlig überrumpelt davon. Das habe ich dann in den Protokollen der Grenztruppen nachvollzogen. Man hat dann also nach oben gemeldet, dass man ganz gezielt nichts getan hätte, um auf die Provokation nicht hereinzufallen. Aber, ehrlich gesagt, wussten die auch gar nicht, was sie tun sollten. Also, das war sehr eindeutig in diesem Dokument. Und die DDR-Grenztruppen haben auch immer sehr genau protokolliert, welche Demonstranten aus West-Berlin ins Wendland eingereist sind. Da wurde quasi Buch geführt an den Grenzübergangsstellen, welche Gruppen da jetzt reingefahren sind. Ich würde auch fast annehmen, dass die Stasi Informanten in dem Kreis hatte. Aber wie gesagt: Das hat mich so konkret dann nicht interessiert.
Dagmar Hovestädt: Dann würde ich abschließend noch mal die ganz große Frage stellen, die Sie am Anfang auch aufgeworfen haben, was ich super interessant finde: Das Buch versucht ja sozusagen, den Erinnerungsort des Zonenrandes westlicher Seite mit diesen östlichen Perspektiven zu finden, und Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie versuchen, in dem Buch aufzuzeigen, wie man die Zäsur, also das Jahr 1990 als End- oder Anfangspunkt historischer Darstellung, zu akzeptieren, wie man darüber hinwegschreiben kann. Wie kann man sich das vorstellen und warum, glauben Sie, ist es wichtig, dass diese Zäsuren, die man im Nachhinein ansetzt, die natürlich eigentlich offenkundig erscheinen - die Mauer fällt -, wo ein Zeitabschnitt beginnt. Warum muss ich darüber hinwegschreiben? Was ist für Sie da wichtig gewesen?
Astrid M. Eckert: Na ja, nun sind wir natürlich schon 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Das ist dann bald ein Zeitraum, der so lang ist wie das Bestehen der DDR und der alten Bundesrepublik. Mir war es wichtig, über die Zäsur von 1990 hinauszuschreiben, um einfach auch diese thematischen Stränge, die ich da aufgemacht hatte, einfach mal weiterzuverfolgen, also nicht nur: Wie hat sich das Wirtschaftsgeflecht entlang der Demarkationslinie entflochten?, sondern auch: Wie hat sich dann der Fall der Grenze auf die lokale Wirtschaft ausgewirkt im Grenzland? Wie ist diese Wirtschaft dann auch wieder zusammengekommen? Nicht nur: Wie sind da Touristen an den Zaun gegangen und haben Informationsorte besucht?, sondern: Was wurde dann aus diesen Informationsorten? Das waren dann oft die frühen Grenzmuseen in den 90er-Jahren, wo dann quasi umgeschaltet wurde von Informationsort über die stehende Grenze zum Erinnerungsort über die gefallene Grenze. Das wollte ich nachvollziehen und nicht einfach dann 1990 hart aufhören.
Dagmar Hovestädt: Nicht so: Da hört es auf, weil die Mauer weg ist und alles wieder normal ist. Sondern es geht ja im Grunde genommen dann weiter. Es wirkt ja fort und nach. Sie haben das bei dem Grenztourismus, der mich besonders fasziniert hat, ja auch geschrieben: dass die Erzählungen und die Perspektiven dann einfach weitergehen. Da ist ja die Kontinuität eigentlich. Man sagt ja nicht plötzlich: Wie war es eigentlich vom Osten? Wir bauen ein Grenzmuseum auf der Ostseite, um mal die Geschichte, das Narrativ anders zu machen. Sondern: Wir sind an den gleichen Orten, an denen Türme oder ganze Informationsstellen waren.
Astrid M. Eckert: Also, was Sie beschreiben, ist quasi die Fortsetzung des westlichen Blicks in der Erinnerungskultur. Darauf hatte Maren Ullrich als Erste schon hingewiesen in ihrem wunderbaren Buch über die Grenze als Erinnerungslandschaft. Und dieser westliche Blick muss wirklich historisiert werden, der muss wirklich auch mal kritisch hinterfragt werden. Das habe ich auch in dem Tourismus-Kapitel versucht.
Dagmar Hovestädt: Das ist Ihnen sehr gut gelungen. Ein spannendes Buch, wenn man noch viel mehr wissen möchte, auch über Umweltthemen, Ökologie, Wissen, Wirtschaft, über die frühen Jahre und alles, was so insgesamt passiert ist. Sehr empfehlenswert. Vielen Dank für die Zeit!
Astrid M. Eckert: Vielen Dank!
Maximilian Schönherr: Vielen Dank!
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Das war die Historikerin Professor Dr. Astrid M. Eckert. Sie hat intensiv das Zonenrandgebiet erforscht, nachzulesen in dem gleichnamigen Buch, das im Frühjahr 2022 auf Deutsch erschienen ist.
Dagmar Hovestädt: Unser Podcast endet auch dieses Mal mit einer akustischen Begegnung mit dem riesigen Audio-Pool des Stasi-Unterlagen-Archivs, wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben.
[Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Was ist eine Operative Kombination? Diese Frage steht am Anfang unseres heutigen Tonausschnitts aus Cottbus und sie wird im folgenden Diktat auch gleich beantwortet. Sehr kurz und nüchtern werden hier Zielstellung, Mittel und Methoden genannt, die, wenn sie zum Einsatz kamen, für die Betroffenen weitreichende Folgen hatten. In diesem Zusammenhang kann ich auch den Podcast Nr. 10 zur operativen Psychologie empfehlen. Doch hören wir jetzt erst mal drei von 60 Minuten einer Kassette aus dem Bestand der Bezirksverwaltung Cottbus, leider ohne Angaben zum Entstehungszeitraum.
[Archivton Beginn]
[Sprecher:] Was ist eine Operative Kombination?
Stabstrich [Anmerkung: gemeint ist ein Aufzählungszeichen]. Sie ist ein Komplex politisch-operativer Mittel und Methoden, die zeitlich und räumlich koordiniert sind und durch ihr wechselseitiges, optimales Zusammenwirken in ihrer Gesamtheit die Lösung politisch-operativer Aufgaben ermöglichen.
Frage: Welche Zielstellungen werden mit Operativen Kombinationen verfolgt.
Stabstrich. Zielstellungen können sehr vielfältig sein, unabhängig unter ande'm-- unna-- abhängig vom Stand der Bearbeitung des Operativen Vorganges.
Stabstrich. Zielstellungen können sein: Einengung des Kreises der VerdächtigenStabstrich. Überprüfung uffgestellt'r [aufgestellter] Version'nStabstrich. Aufklären des Persönlichkeitsbildes eines VerdächtigenStabstrich. Schaffung von BeweisenStabstrich. Einführen von IM in die operative BearbeitungStabstrich. Gewährleistung wirkungsvoller operativer BeobachtungenStabstrich. Durchführung konspirativer Durchsuchung' und FestnahmenStabstrich. Herla-- Herauslösen der IM bei Abschluss des Vorganges und so weiter. [Blättern von Papierseite]
Frage: Worin besteht die Bedeutung des Einsatzes der operativen Beobachter im Rahmen Operativer Kombinationen?
Stabstrich. Feststellung, Kontrolle und Dokumentieren von möglichen Reaktionen des VerdächtigenStabstrich. Absicherung anderer operativer Maßnahmen - in Klammer - zum Beispiel konspirative Durchsuchungen - Klammer zu -Stabstrich. Konsequenz daraus: Konspiration wahren, keine Lücken in der Kontrolle und Überwachung zulassen
Frage: Worin bestehen die Möglichkeiten der operativen Beobachtung zur Unterstützung der Arbeit mit IM im Operativen Vorgang?
Stabstrich. Ergründung von Möglichkeiten für die Blickfeldarbeit - in Klammern - zum Beispiel Freizeitinteressen des Verdächtigen - Klammer zu -Stabstrich. Überwachung der Kontaktuffnahme [Kontaktaufnahme] und der Entwicklung des Vertrauensverhältnis' zwischen IM und VerdächtigemStabstrich. Überprüfung des IM auf Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und so weiterStabstrich. Erarbeitung von Beweisen, die ein spät'res komplikationsloses Herauslösen des IM aus dem Operativen Vorgang ermöglichen.
Frage: Welche Möglichkeiten zum Abschluss Operativer Vorgänge gibt es?
Stabstrich. Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit UntersuchungshaftStabstrich. Anwendung von Maßnahmen der ZersetzungStabstrich. Anwen-- An- oder Überwerbung des VerdächtigenStabstrich. Verwendung der Ergebnisse als kompromittierendes Material [Blättern von Papierseite]Stabstrich. Übergabe an die VP, an Konflikt- oder SchiedskommissionStabstrich. Öffentliche Auswertung beziehungsweise Übergabe von Material an die Partei oder staatliche und wirtschaftsleitende Organe.
Frage: Wovon ist bei der Festlegung der Abschlussart auszugehen?
Stabstrich. Es ist die Abschlussart anzuwenden, mit der die Politik von Partei und Regierung entsprechend der jeweiligen politischen Situation am wirkungsvollsten unterstützt wird.
[Archivton Ende]
[Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten –
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."