[Jingle]
Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ... ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Willkommen zu Folge Nummer 75. Ich bin Maximilian Schönherr, Freund von Archiven und vertraut mit den Originaltönen, auch hier im Stasi-Unterlagen-Archiv. Und die heutige Folge des Podcasts, die wir hören werden, spricht mir sehr aus dem Herzen, weil der Protagonist auch viele Archive besucht hat. Ich habe zum Beispiel einen Benutzerausweis vom Landesarchiv Nordrhein-Westfalen. Ich habe von der Königlichen Stadtbibliothek Stockholm eine Karte, wo ich dann reinkomme und so weiter. Ich liebe wirklich Bibliotheken und Archive. Ja, meine Co-Hostin ist Dagmar Hovestädt. Sie leitet die Abteilung Vermittlung und Forschung im Bundesarchiv/Stasi-Unterlagen-Archiv.
Dagmar Hovestädt: In dieser Folge habe ich mich mit einem langjährigen Bekannten von mir, dem Journalisten Peter Wensierski, über sein neuestes Buchprojekt unterhalten, für das er mehrere Jahre auch im Stasi-Unterlagen-Archiv recherchiert hat. Es geht um das Leben und den viel zu frühen Tod von Matthias Domaschk. Peter Wensierski, Jahrgang 1954, ist seit über 40 Jahren Journalist und blickt auf eine ereignisreiche Karriere zurück. Er hat schon viele Bücher geschrieben. Mit diesem Buch kehrt er aber auch ein bisschen an seine Ursprünge zurück.
Maximilian Schönherr: Ihr sprecht zwar in eurem Gespräch sehr ausführlich über Matthias Domaschk, aber es ist vielleicht ganz hilfreich, die Grunddaten seiner Biografie zu benennen. Matthias Domaschk, übrigens hinten mit "schk" geschrieben, wurde 1957 in Görlitz geboren. Als er 13 war, also 1970, zog er mit seinen Eltern nach Jena und dort wurde er schnell Teil einer Szene junger Leute, die nicht zu viel Lust hatten, sich den Vorgaben des SED-Staates anzupassen.
Dagmar Hovestädt: 1976 war er als 21-Jähriger an den Protesten gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns beteiligt, die auch in Jena eine größere Welle produzierten, und damit geriet er ins Visier auch der Staatssicherheit. Er reiste in die Tschechoslowakei und nach Polen, wo er sich mit den Oppositionsgruppen traf und das sehr inspirierend fand. Sein politisches Engagement und Interesse führte dazu, dass er vier Wochen vor dem Abitur von der Schule flog. 1977 bis 1979 leistete er dann seinen Grundwehrdienst ab und begann danach einen Job als Maschinist in Jena.
Maximilian Schönherr: Der April 1981 ist dann der Monat, in dem sein Leben ein tragisches Ende findet, und zwar in Stasi-Haft. Mit einem Freund fährt er an einem Freitagabend, dem 10. April, zu einer Geburtstagsfeier nach Berlin, wo er aber nie ankommt. Die Stasi hat im Hintergrund eine absurde und überdimensionierte Maschinerie in Gang gesetzt, an dessen Ende Matthias Domaschk am Sonntagfrüh, 12. April 1981, tot in der U-Haft der Stasi in Gera liegt.
Dagmar Hovestädt: Diese drei Tage bilden den Rahmen der Geschichte, die Peter Wensierski in seinem Buch erzählt. Warum und wie, das erfahren wir gleich im Gespräch. Zuvor zwei, drei kurze Erläuterungen zu Personen und Begebenheiten. Peter Wensierski erwähnt kurz Rudolf Bahro und Robert Havemann.
Maximilian Schönherr: Die beiden waren bekannte SED-Mitglieder, die aber durch ihr kritisches Hinterfragen der Parteivorgaben in Ungnade fielen. Robert Havemann wurde 1964 aus der Partei ausgeschlossen und war ab Ende 1976 unter Hausarrest gesetzt. Er starb 1982. Rudolf Bahro verfasste 1975 eine Dissertation mit einer fundamentalen Kritik am DDR-Sozialismus, die als Buch unter dem Titel "Die Alternative" einige Jahre später in der Bundesrepublik veröffentlicht wurde. Dies führte zu seiner Verhaftung und Verurteilung sowie anschließendem Gefängnis. Er wurde 1979 in den Westen entlassen, wo er weiterwirkte und 1997 starb.
Dagmar Hovestädt: Auch Roland Jahn wird erwähnt. Er war ein Freund von Matthias Domaschk. Sie kannten sich über die vorher schon beschriebene Jenaer Szene. Der Tod von Matthias Domaschk spielte auch im Leben Jahns eine entscheidende Rolle. Viele Jahre später, nach Ausbürgerung in den Westen und einer Journalistenkarriere, wurde er 2011 der dritte und letzte Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, bevor das Stasi-Unterlagen-Archiv dann 2021 ins Bundesarchiv überging. Und hier dann die Verbindung: Roland Jahn und Peter Wensierski waren lange Jahre bei der ARD-Fernsehsendung Kontraste tätig, wo ich beide als junge Journalisten kennenlernte und mit ihnen arbeitete.
Maximilian Schönherr: Peter Wensierski erwähnt in eurem Gespräch den Hausbuchführer. In der DDR wurde in jedem Haus eine Akte geführt, in der der Hausbuchführer neben den Mietern auch Besucher notieren musste, die dann länger als drei Tage zu Gast waren, auch Westbesuch, nicht nur Westbesuch. Dann ist von Entwicklungen in Prag die Rede. Damit ist der sogenannte Prager Frühling 1968 gemeint, eine Bewegung, die von sowjetischen Panzern niedergeschlagen wurde. Und Jack Kerouac war ein US-Schriftsteller, dessen Gedichte mit der Beatgeneration verbunden sind. Auch er wird in unserem Podcast heute erwähnt.
Dagmar Hovestädt: Vielleicht ganz kurz noch die Abkürzung FDJ, die erwähnt wird, die von der SED gesteuerte Jugendorganisation der DDR, die Freie Deutsche Jugend. Quasi als Alternative dazu gab es in der evangelischen Kirche die Bewegung der Jungen Gemeinden, in der junge Menschen, die sich nicht in staatlichen Jugendtreffs finden wollten, einen Ort zum Austausch fanden. Das wurde dann wiederum kritisch von der Stasi beäugt und bespitzelt.
Maximilian Schönherr: Wenn wir FDJ schon erklären, müssen wir dann SED auch noch erklären?
Dagmar Hovestädt: Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, SED.
Maximilian Schönherr: Dann starten wir mit Folge 75 des Podcasts des Stasi-Unterlagen-Archivs.
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Peter Wensierski, schon ein - wie soll man das sagen - jahrzehntelanger Nutzer des Archivs, dann immer noch begeistert oder immer noch interessiert daran, in Stasi-Unterlagen zu recherchieren, und zuletzt jetzt wieder mit einem neuen Projekt, das im März 2023 als Buch auf den Markt kommt. Wo war der Anlass, sich mit Matthias Domaschk zu beschäftigen?
Peter Wensierski: Ich war Anfang der 80er-Jahre sehr viel als westdeutscher Journalist in der DDR unterwegs und kannte zwar Matthias Domaschk nicht, aber viele Jugendliche, die so wie er waren, die nicht mehr den Weg ihrer Eltern gehen wollten, die damals, so um 1980, um die 20 Jahre alt waren. Und die haben versucht auszubrechen aus dieser doch ziemlich engen und spießigen DDR-Gesellschaft, die nicht nur von der SED geprägt wurde, sondern eben auch von den Eltern, von den Mitbürgern. Und sie haben sich an vielem gestoßen, was ich auch ehrlich gesagt aus dem Westen kannte in den 70er-Jahren. Und es ist einfach eine Tatsache, dass die, ich sage mal, Eltern in beiden deutschen Staaten, die nach dem Krieg den jeweiligen Staat wiederaufgebaut haben, im Grunde genommen aus demselben Deutschland kamen, dem Hitler-Deutschland der Nazizeit, und dadurch auch traumatisiert waren durch den Krieg und durch persönliche Erlebnisse und ihre Ruhe haben wollten, ein Wirtschaftswunder genossen. Das war im Westen ganz klar, aber es gab ja auch in der DDR einen Aufbau und ein kleines Wirtschaftswunder. Die Eltern von Matthias zum Beispiel: Der Vater machte Karriere bei Meyer Optik in Görlitz, wurde leitender Angestellter. Er konnte sich mit seiner Familie allerlei leisten, zum Beispiel Autos, eine gute Wohnung, Urlaube, also vieles, was nicht alle hatten. Und dennoch musste er sich wundern, warum sein Sohn nicht in seine Fußstapfen treten wollte. Und das war in vielen DDR-Familien so. Ich war ja Westjournalist, einer der ganz wenigen, vielleicht gab es da 15, 20 Leute, die aus der DDR berichten konnten. Ich war damals selber ziemlich jung, 23/24 Jahre, und interessierte mich natürlich für Jugendliche.
Dagmar Hovestädt: Durfte man ja auch nicht. Das ging ja erst mit den Verhandlungen, die dann irgendwann 76/77 überhaupt zugelassen haben, dass bundesrepublikanische westdeutsche Korrespondenten in der DDR sein durften.
Peter Wensierski: Ja, das hing mit einer gewissen erzwungenen Öffnung der DDR zusammen. Die Konferenz für Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, KSZE, war Mitte der 70er-Jahre und die DDR hatte da auch Dinge mitunterzeichnet, nach denen sie so was erlauben musste, dass eben ausländische Korrespondenten in der DDR arbeiten können, unter strengen Regeln natürlich. Der Hintergrund war, dass die DDR ja internationale Anerkennung haben wollte. Sie wollte als Staat, als eigener Staat, endlich anerkannt werden. Das war immer so ein Trauma von Erich Honecker und schon vorher auch von Walter Ulbricht, also, dass man ein eigener deutscher Staat ist, und man wollte, indem man diese Verträge unterzeichnet hatte, ein Stück weit dieser Anerkennung durch andere Staaten nahekommen und man hatte ja auch Interesse, mit dem Westen zu handeln und Geschäfte zu machen. Und da konnte man sich nicht so leisten, das weiter wie bisher zu machen.
Dagmar Hovestädt: Und das führt dazu, dass der blutjunge Peter Wensierski, 22/23 Jahre, junger Journalist, ausgerechnet in die DDR kommt. War das damals ein interessantes Berichterstattungsgebiet? Ich meine, es war war jetzt nicht so hoch auf der Tagesordnung, oder?
Peter Wensierski: Also, in der Tat. 1978/1979, als ich hier in Berlin mein Studium an der Freien Universität beendete - ich habe Publizistik, Politik und Geschichte studiert -, da war der Traum der Leute, die Journalisten werden wollten, natürlich, über den Westen zu berichten. Ich habe das übrigens auch erst noch ein bisschen gemacht, war also beim damaligen Sender Freies Berlin, beim Radio, habe die ersten Radiosendungen gemacht über Themen, die in Westberlin eine Rolle spielten, und das war ein reiner Zufall, dass ich das Angebot bekam, einem ehemaligen Studenten zu helfen, der in einer DDR-Redaktion arbeitete. Irgendwie hat es was mit Kirche zu tun. Und das war so, dass der Dozent damals bei uns in den Flur hinaustrat und sagte: Hier ist die Telefonnummer, hat jemand Interesse, da mitzumachen? Ich stand mit einigen anderen zusammen und die wendeten sich ab. Also, Kirche und DDR ging gar nicht. Das war jetzt echt nicht der Traum. Die DDR war uninteressant für die meisten damals jungen Leute, weil die kulturell interessanten Dinge kamen aus dem Westen, aus England, aus Amerika. Die DDR hatte abschreckende Grenzen. Es war vieles nicht erlaubt. Fahrten nach drüben blieben für die meisten Leute uninteressant. Aber ich dachte mir: Hm, mal gucken. Ich hab mir die Telefonnummer geschnappt, bin da hingegangen und habe dann gemerkt: Ah, die eröffnen einen Korrespondentenbüro - es ist der Evangelische Pressedienst gewesen - und da tun sich ja ganz interessante Dinge auf. Also, ein Land, in dem Journalisten eigentlich nicht erwünscht sind, in dem über Dinge nicht berichtet werden soll. Da Transparenz und Klarheit reinzubringen und Berichte zu machen, war eigentlich viel reizvoller, als im Westen beziehungsweise Westberlin Journalist zu sein. Also, die DDR war so ein weißer Fleck auf der Landkarte und die galt es zu entdecken und darüber zu berichten. Und das war toll, weil man konnte eigentlich in einem Land, wo die Staatsführung versuchte, freie Berichterstattung zu verhindern, was in meinen Augen noch viel wichtiger ist, sozusagen, als Journalist zu arbeiten.
Dagmar Hovestädt: Das ist dir dann auch gelungen für eine Weile. Und man geht rüber nach Ostberlin und versucht, Geschichten zu finden, oder wie läuft das dann in einem Land, wo man ja auch unter Beobachtung steht? Ich erinnere mich nur daran, dass man, wenn man in der DDR berichten wollte, späte 80er-Jahre, ganz am Ende, selbst da musste man das übers Auswärtige Amt anmelden. Dann gab es jemanden, der einen da begleitete und angeblich half, aber dann weiß man auch nicht, ob der vielleicht von der Stasi war und Ähnliches. Also, so einfach war das ja nicht.
Peter Wensierski: Na ja, es war schon was Besonderes, dass ich für einen Evangelischen Pressedienst berichtet habe. Das heißt, ich stand ein bisschen auch unter diesem Schutzschirm der Kirche, genauso wie die Jugendlichen, die sich in der Jungen Gemeinde getroffen haben, und alle Umweltgruppen und Friedensgruppen, die sich am Rande der Kirche getroffen haben, auch dort ihren Schutz gefunden hatten in der DDR. Das heißt, wenn ich zum Beispiel akkreditiert war, um von einem Kirchentag zu berichten oder vom FDJ Festival, dann konnte ich das auch ohne Begleitung machen. Also, ich war akkreditiert vom Außenministerium, das musste man natürlich wochenlang vorher beantragen und es wurde auch nicht immer alles genehmigt. Aber wir bekamen viel genehmigt und ich war bei ganz vielen Treffen von Jugendlichen, bei Bluesmessen, bei Friedenswerkstätten, bei Kirchentagen, bei sogenannten Synoden, Landessynoden, Bundessynoden der Evangelischen Kirche. Das waren alles interessante Dinge, wo ich merkte: Moment mal, da ist doch unter der Decke in der DDR was ganz Spannendes, was sich entwickelt, was schwelt. Also, da gab es Kritik und Widerstand, da gab es Vielfalt. Das war nicht mehr die graue DDR, die sie von außen zu sein schien.
Dagmar Hovestädt: Das sozusagen zu entdecken, ist das eine, das zu berichten und dafür Interesse in der Bundesrepublik zu finden, das andere. Haben die Leute deine Begeisterung dafür geteilt, das Interesse dann die Decke hochzuheben, um zu entdecken, dass da doch viel mehr ist als das, was wir so von der Oberfläche wahrnehmen?
Peter Wensierski: Also, das Interesse in der Bundesrepublik an der DDR war und blieb eigentlich bis zum Mauerfall eher gering. Es gab Enthusiasten, es gab DDR-Forscher, es gab Interessierte, aber es war eine kleine Minderheit, die 60 Millionen und mehr und auch die paar Millionen, die Verwandte in der DDR hatten. Also, wenn man das alles in allem sieht, war das Interesse sehr gering und ich fand das merkwürdig, weil wenn ich da unterwegs war bei diesen Treffen von Jugendlichen, die auch dem Matthias Domaschk ähnlich waren, diese Szene in Jena in den 70er-Jahren, in den 80er-Jahren, die gab es auch in anderen Städten. Ich fand das interessant, weil es natürlich ganz viele Berührungspunkte gab mit uns Jugendlichen, sag ich mal so, im Westen. Ich war ja wenige Jahre vorher selber in dem Alter, in dem jetzt die Leute waren, über die ich da berichtete, und hab ganz viele Parallelen entdeckt. Die haben dieselbe Musik gehört, die haben dieselbe Kleidung getragen, die haben dieselben Bücher gelesen.
Dagmar Hovestädt: Was für Musik? Was für Bücher?
Peter Wensierski: Na ja, was damals in den 70ern, in den 80ern eben angesagt war, ob das Frank Zappa war oder die Doors [The Doors] oder natürlich die Bekannten: Stones, Beatles und so weiter. Aber auch viel Blues. Also, in der DDR gab es eine ganz stark entwickelte Blueszene und ich war überrascht, dass es Blueskonzerte mit 1.000 Besuchern in irgendwelchen Burgruinen oder Wiesen gab. Also, wenn man unterwegs war, erlebte man wirklich oft viele Überraschungen und es war wahnsinnig spannend. Und ein bisschen war immer die Sphäre von Widerstand und Opposition da, in verschiedenster Form. Also, für mich war Opposition nicht nur Robert Havemann oder Rudolf Bahro, also die politischen Köpfe, die so exponiert waren, für mich gehörten zu diesem Konzert die ersten Punks, die schon Anfang der 80er-Jahre plötzlich nicht nur in Ostberlin, auch in anderen Städten auftraten, die totale Provokation waren in einem Land, in dem eigentlich die Leute alle so ein ordentliches Aussehen haben sollten und sich nicht daneben benehmen sollten, nicht aus der Reihe tanzen sollten. Und das war toll, dass da endlich Leute auch aus der Reihe tanzten, dass sich Jugendliche zusammenfanden in heruntergekommenen Wohnungen, sich diese hergerichtet haben und zu Treffpunkten gemacht haben, die es sonst eben so nicht gab.
Dagmar Hovestädt: Die ja auch außerhalb der staatlichen Organisation von Jungsein und Jugendlichsein stattfanden.
Peter Wensierski: Ja. Die FDJ hatte natürlich jede Menge Angebote, aber viele Jugendliche wollten das nicht mehr. Die wollten selbst bestimmen, wie sie sich treffen, was sie da reden. Für viele waren ja tatsächlich die "Junge Gemeinde"-Treffen Orte, wo sie gestaunt haben, welche Themen da angesprochen werden, dass man da frei reden kann, dass man da auf Gleichgesinnte trifft und dass es nicht um das Nachplappern von Formeln ging. Also, das Nachplappern von Formeln, das wurde ja in der Schule, manchmal schon im Kindergarten, geübt und absolviert und das reichte, um vorwärts zu kommen. Und schon wenn man was Abweichendes an der Schule sagte, konnte es sein, dass man auffiel und es Aussprachen gab, wie es hieß, oder dass im schlimmsten Fall auch, wenn Leute zum Beispiel ein Abzeichen trugen, das nicht genehm war, also "Schwerter zu Pflugscharen", das Abzeichen der Friedensbewegung zum Beispiel, dann konnte es sein, dass man auch vom Abitur ausgeschlossen wurde oder auch nicht auf eine Berufsausbildung mit Abitur ausweichen konnte.
Dagmar Hovestädt: Auf eine bestimmte Art und Weise - und da können wir jetzt in unserem Gespräch heute nicht drauf eingehen, was nach deiner beginnenden Journalistenkarriere alles passiert ist - bist du fast prädestiniert, 40 Jahre später noch mal wieder einzutauchen in die Geschichte rund um Matthias Domaschk. Trotzdem interessiert mich, warum das für dich so viel später noch mal eine Rolle spielt, da anzusetzen?
Peter Wensierski: Also, ich habe natürlich damals, 1981, als Matthias Domaschk im April gestorben ist, das wahrgenommen und ich habe auch dann im Spiegel und anderen Medien über diesen Tod berichtet und dann auch über diese peinliche Beiseiteschaffung einer Gedenkskulptur, die Freunde für ihn gemacht hatten, die vom Friedhof dann da geklaut wurde, praktisch im Wagen der VEB Stadtwirtschaft im Auftrag der Stasi abtransportiert wurde.
Dagmar Hovestädt: Also, das war eine Skulptur von dem Freund Michael Blumhagen, die da aufgestellt wurde auf dem Friedhof, wo er beerdigt wurde, was ja auch niemand wahrnehmen sollte, und der Abtransport wurde heimlich mitfotografiert.
Peter Wensierski: Ja, genau. Ich bekam diese Fotos hier in Ostberlin. Die gingen von Hand zu Hand von Jena und sollten in die Westpresse. Ich wusste nicht, wer sie gemacht hatte und wie sie zustande gekommen waren, aber ich bekam Informationen dazu und das ist damals im Spiegel auch berichtet worden, auch in anderen Zeitungen dann. Und das war wichtig, diese Westöffentlichkeit über diese Vorgänge herzustellen. Ich fand es jetzt natürlich interessant herauszufinden, dass diese Fotos damals heimlich Roland Jahn gemacht hatte, der zufällig auf diesem Friedhof war, der eigentlich nur diese Skulptur noch mal fotografieren wollte. Und in dem Moment kam der Lada der VEB Stadtwirtschaft angefahren. Er ging weg, kletterte da in so einem Haus irgendwie unter den Dachboden und hat das aus dem Fenster in allen Phasen fotografiert. Ich weiß noch, dass Jugendliche mir diese Fotos in die Hand gedrückt haben, so wie es öfters vorkam, dass mir Jugendliche auch von anderen Aktionen Material gegeben haben. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Demonstration, die in Halle stattgefunden hatte, wo ich 20 Fotos bekam, um diese Demonstration öffentlich zu machen. Sowas konnte normalerweise ja gar nicht die Öffentlichkeit erreichen. Und wenn die DDR was geschafft hat, dann Dinge zu unterdrücken, nicht an die Öffentlichkeit zu kommen und alles, was an Widerstand, an Opposition da war, das sollte möglichst unter der Decke bleiben. Das war natürlich für mich als Journalist total reizvoll, darüber zu berichten. Ich habe das damals gemacht und ich habe natürlich noch andere Gründe: Ich habe mich ja mit der Jugendszene, so wie sie in Jena, auch in anderen Städten, war, befasst und habe auch filmen können. Ich war in Erfurt, in Gotha, in Thüringen unterwegs.
Dagmar Hovestädt: Alles in den frühen 80ern?
Peter Wensierski: Ja, 1981, 1982, 1983, wo ich Leute auch interviewt habe. Walter Schilling habe ich da kennengelernt, ein wichtiger Pfarrer damals für die Jenaer Jugendszene, der so eine offene Jugendarbeit gemacht hat, also einen Treffpunkt geschaffen hat. Da fand im Sommer immer sowas wie ein kleines Mini-Woodstock statt auf den Wiesen da in seinem Dorf, rund um das Pfarrhaus, ausgebaut zum Übernachten. Da kamen Hunderte zusammen und konnten sich frei austauschen. Ist auch von der Stasi im Laufe der Zeit bedrängt worden und kurz vor dem Tod von Matthias Domaschk ist dieses Haus auch geschlossen worden. Aber ich habe auch später, als ich in der Kontraste-Redaktion arbeitete, natürlich über Jena mit meinem Kollegen gesprochen, der dann in die Redaktion kam. Das war auch Roland Jahn, der ja aus Jena zwangsweise rausgeschmissen wurde. Und wir haben uns jahrelang--
Dagmar Hovestädt: 1983.
Peter Wensierski: Ja, 1983. Das sind die Demonstrationen, auch infolge der Entwicklung in Polen, infolge des Todes von Matthias, die da passiert sind: die Jenaer Friedensgemeinschaft. Also, die Proteste haben ja danach nicht abgerissen. Und ich saß mit ihm zusammen am Schreibtisch gegenüber, natürlich haben wir über Jena geredet. Also, Jena und Matthias Domaschk, das war schon immer präsent und deshalb dachte ich jetzt, wo auch die Gelegenheit dazu war und ich auch noch mal gebeten worden bin von Freunden und Freundinnen von Matthias, mich der Sache anzunehmen: Na gut, das ist jetzt der Punkt, jetzt möchte ich das mal ganz genau wissen und alles ganz genau recherchieren, was da wirklich war.
Dagmar Hovestädt: Eine Geschichte will ich noch zu Ende bringen, nämlich die mit dem Foto. Also, du bekommst in Ostberlin oder bei einer Reise nach Jena 1981 ein paar Fotos in die Hand gedrückt von einer Skulptur, die auf einem Friedhof abtransportiert wird. Zu dem Zeitpunkt war der Tod von Matthias Domaschk schon im Westen bekannt oder noch nicht? Und wie recherchiert man dann unter den Bedingungen und sagt: Aha, das ist nicht einfach nur ein Abtransport von einer Skulptur, die jetzt in die Werkstatt geht, sondern da hängt eine ganz andere Geschichte dran.
Peter Wensierski: Na ja, ich bekam damals, als ich beim Evangelischen Pressedienst arbeitete, sehr viel Material auf meinen Schreibtisch, auch Internes der Kirchen in der DDR. Ich bekam die Kirchenleitungsprotokolle, ich bekam die Protokolle der Konferenz der Kirchenleitung, viel internes Material und hatte natürlich auch ständig Austausch und Gespräche. Ich war fast jeden zweiten Tag in der Zentrale des DDR-Kirchenbundes in der Ostberliner Auguststraße, da Ecke Tucholskystraße, wo heute das Leben tobt. Das war damals eine tote Ecke. In irgendeinem Hinterhof war die Zentrale der evangelischen Kirche und da ging ich dann vom Erdgeschoss bis unters Dach und habe da einen halben Tag verbracht, um mit Leuten zu reden, Informationen aus allen möglichen Ecken und Enden der DDR zu bekommen. Und dadurch kannte ich das natürlich. Ich hatte ein Erlebnis damals bei einer Landessynode in Halle. Da war ich der einzige zugelassene Westjournalist. Ich kam da an und ging in diesen Raum rein, also wo die Vertreter der verschiedenen Orte da waren, und so einen Kirchen-Superintendent nahm mich irgendwie an die Hand und sagte mir, man müsse mir dringend was erzählen. Wir gingen raus, er nahm mich raus und wir gingen lange um die Kirche und er erzählte mir irgendwas, wo ich mich fragte: Das ist doch jetzt alles eigentlich gar nicht so wichtig. Und so nach 20 Minuten, gut 20 Minuten, halbe Stunde, gingen wir wieder rein und dann konnte ich der Synode zuhören. Ja, was war das? Ich habe es dann später erst erfahren. In dieser Zeit wurde auf dieser Kirchenversammlung darüber gesprochen, dass zwei Minderjährige, die waren 15, 16, versucht hatten, in den Westen abzuhauen über Magdeburg, in einen Interzonenzug einfach eingestiegen sind und da sich versteckt hatten, gefasst wurden. Die waren verhaftet und eine von den beiden, ich weiß nicht mehr das genaue Alter, 13, 14 vielleicht auch, hat sich dann umgebracht nach der Verhaftung, in den Händen der Staatssicherheit. Ich war schon entsetzt darüber, dass die Kirche, also dieser Kirchenmann, auch mich als Westjournalisten da rausgeholt hat, damit ich von dieser Geschichte nichts mitbekomme. Es ging ja nicht um mich, sondern diese Geschichte sollte nicht an die Öffentlichkeit. Da hat sich jemand zum Gehilfen des Staates gemacht, der eben all diese Dinge nicht an die Öffentlichkeit bringen wollte und das auch geschafft hat.
Dagmar Hovestädt: Aber du hast es ja trotzdem erfahren.
Peter Wensierski: Ja, aber viel später, viel später erst. Das fand ich sehr perfide und ich finde es auch heute einfach wichtig, wenn wir an den Iran, China und die Türkei denken, dass Journalisten wirklich berichten können, was dort wirklich los ist. Das ist oft sehr schwierig in autoritären Regimes. Und die DDR war es eben auch.
Dagmar Hovestädt: Ein System funktioniert eben nicht nur, weil es Stasi gibt oder Partei, sondern es müssen schon auch noch eine Menge Leute mehr mit akzeptieren, dass es so funktionieren soll wie die, die an der Macht sind, es verlangen.
Peter Wensierski: Das war für mich überraschend, jetzt bei der Recherche für dieses Buch festzustellen: Dass es eben nicht nur die Stasi gab und gibt, die da schaltet und waltet, sondern dass so ein Apparat mit fast 100.000 Hauptamtlichen nur funktionieren kann, wenn er mit den sogenannten Kräften des gesellschaftlichen Zusammenwirkens zusammenarbeitet. Also, ich war überrascht, dass in Jena dann - das gilt für viele andere Städte auch - die Stasi-Leute regelmäßig Konferenzen hatten, richtige Gremien, wo sie mit denen vom Rat des Kreises, der Volkspolizei, den freiwilligen Helfern der Volkspolizei, wo auch ABV, also Abschnittsbevollmächtigte, Hausbuchführer, Kontaktpersonen aller Art, Offiziere im besonderen Einsatz und und und. Es gibt wirklich eine Heerschar von Menschen, ob die im Einwohnermeldeamt oder im Reisebüro sitzen, ob das Schuldirektoren sind oder Betriebsdirektoren, Brigadeleiter. Es haben wahnsinnig viele, ohne direkt Stasi-Mitarbeiter oder inoffizielle Mitarbeiter zu sein, praktisch zusammengewirkt, um anderer Leute Lebenswege kaputt zu machen, um andere Leute daran zu hindern, in dieser Gesellschaft mitzuwirken. Kurzum: Sie haben sich eigentlich an der Unterdrückung ihrer Mitbürger beteiligt. Das ist für meinen Geschmack in den letzten 30 Jahren seit dem Fall der Mauer kaum thematisiert worden und das geht doch erschreckend tief. Die Stasi wäre eigentlich machtlos gewesen, hätte sie nicht dieses Hinterland im eigenen Volk, im eigenen Land gehabt, mit dem sie da zusammenarbeitet. Also, das habe ich gerade bei der Recherche jetzt für dieses Buch über Matthias Domaschk gesehen.
[Jingle]
Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Es ist ja nicht so, dass nicht schon viele vorher angefangen hätten, sich mit dem Fall zu beschäftigen. Peter Wensierski kommt vor zwei Jahren noch mal hierher und sagt: Ich lege noch mal los und wir haben diese Recherche - die ist ja dann sehr aufwendig geworden - noch mal ganz neu angelegt. Was war für dich denn wichtig im Zugriff auf die Unterlagen und wie hat sich das entwickelt? Weil das ist ja ein Archiv mit Überlieferungen oder Unterlagen der Stasi, die ja nie so angelegt worden sind, dass die gedacht haben, dass das irgendwann mal jemand liest, und es ist eine Beschreibung der Arbeitszusammenhänge, der Gedankengänge, der verschiedenen Abteilungen. Wo hast du angefangen und wie hat sich sozusagen das Feld auch verändert im Laufe der Recherchen?
Peter Wensierski: Also, vorhin ist ja ein Satz gefallen, dass ich mich da begeistert hätte für Stasi-Akten-Lektüre. Begeisternd ist die Stasi-Akten-Lektüre eigentlich nicht. Es ist ja schon ziemlich herbes Material und man kann sicherlich manchmal sogar lachen über die Schreib- und Tippfehler und das Unwissen, das manche Offiziere mit - sagen wir mal - mangelnder Bildung da auch demonstrieren, wenn man im Archiv die Akten liest. Also, es ist einfach ein Trauerspiel, was da liegt. Aber es ist auch sehr nützlich zur Erkenntnis und ich finde, auch 30 Jahre danach ist dieser Schatz, den wir da in Deutschland haben, und mit unserem eigenen Land und einer Diktatur, einem autoritären Regime, einer Macht, die mithilfe eines Geheimdienstes, aber vor allen Dingen auch einer Art Geheimpolizei an der Macht bleiben wollte, ein total toller Fundus, um aus der Geschichte zu lernen. Gerade heute, wo wir es zunehmend mit autoritären Regimes zu tun haben, die sich nicht gerade für Demokratie begeistern oder auch demokratische Freiheiten zerstören, abbauen, halte ich die Auseinandersetzung mit den deutschen Diktaturen, die wir hatten, für total wichtig. Also, ich habe natürlich nicht geglaubt, dass ich der Weisheit letzten Schluss aus Stasi-Akten allein ziehen kann. Das sollte man auch nicht. Für mich waren die Gespräche mit den Zeitzeugen extrem wichtig. Ich habe ja wirklich immer mehr Freunde und Freundinnen von Matthias Domaschk gesprochen und überhaupt erst mal ausfindig gemacht. Es ist natürlich so, dass Zeitzeugen allein wiederum auch problematisch sind. Jeder hat andere Erinnerungen, es wird sich durchaus auch falsch erinnert. Das ist aber mit den Stasi-Akten auch so. Da stehen richtige und manchmal auch fehlerhafte Sachen drin, weil die basieren ja oft auf Berichten von Menschen, die Zuträger der Stasi waren, und diese Menschen machen natürlich Fehler. Die sitzen da irgendwie abends in einer Wohnung und hören zu, treffen im günstigsten Fall am selben Abend oder am nächsten, übernächsten Tag einen Stasi-Führungsoffizier und erzählen ihm dann. Der versteht auch manchmal Banane und der schreibt das in seiner Sprache auf, also in der wirklich erstarrten Sprache der Macht und des Militärischen. Die Stasi war ja ein militärischer Apparat mit strenger Hierarchie. Dabei kommt eben auch nicht die reine Wahrheit heraus. Aber die Kombination - sage ich mal - von Zeitzeugengesprächen, von Stasi-Akten-- Und ich habe für diese Recherche auch noch ganz andere Akten in ganz anderen Archiven eingesehen - und das finde ich dann auch unerlässlich -: Ich habe mir Volkspolizei-Akten angeguckt, ich habe mir Akten der Transportpolizei angeguckt, ich war in Staats- und Landesarchiven, ich war im Archiv von Carl Zeiss Jena, ich habe versucht, polnische und tschechische Archive ebenfalls miteinzubeziehen.
Dagmar Hovestädt: Also alle Stationen-- Da muss man vielleicht noch mal zu einem Kern der Geschichte kommen. Das eine sind Stationen, in denen Matz und seine Freunde unterwegs waren: Tschechien, Polen. Deswegen der Versuch, dort zu lesen. Die Kerngeschichte ist ja, dass Matthias Domaschk in Stasi-Haft umgekommen ist und es bis heute nicht so richtig klar ist, unter welchen Umständen. War das ein Ehrgeiz für dich, das mit dieser Recherche noch mal herauszufinden?
Peter Wensierski: Also, ich habe das angefangen und gesagt, ich möchte über das Leben von Matthias und das Leben seiner Freunde berichten, denn das ist bisher noch zu kurz gekommen. Was war das für ein Jugendlicher, was hat er geträumt, was hat er gewollt, was hat er gemacht, was haben er und seine Freunde eigentlich gemacht? Dieser Ausbruch aus dem Reich der vorherigen Generation, aus dem Reich der Eltern, auch der Aufbruch zu neuen Ufern. Es ging ja Ende der 70er-Jahre, Anfang der 80er-Jahre im Westen wie im Osten eigentlich um eine Reform der Gesellschaft, um das Wegkommen aus dieser 50er-, 60er-Jahre-Gesellschaft. Darum ging es vielen Jugendlichen. Und Jena war so ein Kristallisationspunkt. Also, die sind im ganzen Land, in der Republik, also in der DDR, unterwegs gewesen mit Werbern an Schulen und haben junge Leute dafür geworben, zu Carl Zeiss Jena zu kommen. Da gab es Lehrlingswohnheime mit bis zu 5.000 jungen Leuten. Die sind mit 16 von ihren Eltern weg, ob das jetzt in Rostock, Greifswald, Dresden, Cottbus oder Brandenburg war. Die lebten da plötzlich munter und lustig - natürlich unter Kontrolle in gewisser Hinsicht - in diesen Studenten-, Lehrlings- und Arbeiterwohnheimen. Das ist so eine Stadt der Jugend gewesen. Und natürlich hat die Masse dieser Jugendlichen - sagen wir mal - sich damit vergnügt, in die Disco zu gehen und in den Dreibett-, Vierbettzimmern da im Studenten- oder Lehrlingswohnheim zu leben. Das ist das eine. Aber es gab eben einige Hundert, die wollten mehr. Die haben sich dann auch in Jena bemüht, in Abbruchwohnungen reinzukommen, eigene Wohnungen zu haben, weg von den Eltern auch, und Wohngemeinschaften zu bilden. Und so entstanden in Jena schon Mitte der 70er-Jahre legendäre Wohngemeinschaften. Da gab es die Schloßgasse zum Beispiel, wo das erste Hochbett - sieben, acht Meter breit soll es gewesen sein - gebaut wurde. Und wenn dann Bands im Rosenkeller spielten, haben die da teilweise übernachtet, auch bekannte Bands, die damals auftraten. Da war immer was los, da war ein Kommen und Gehen. Das waren natürlich in den Augen der Ordnungshüter unkontrollierte Treffpunkte, aber ganz wichtig für diese Jugendlichen, die da versuchten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, die Spaß daran hatten, zu den Bluesfestivals zu trampen, nach Polen zu trampen. Es ist ja auch die Zeit bei Matthias Domaschk - 1979/80 -, wo in Polen gestreikt wird, wo in Polen die ersten Demokratieforderungen mit Solidarność auftauchten, und er hat sich sehr stark für Polen interessiert, er hat sich sehr stark für die Entwicklungen in Prag interessiert. Und damit war er nicht allein. Diese Jugendlichen in Jena, die sich da sozusagen untereinander erkannten, die lange Haare hatten, Parkas und Jesuslatschen trugen, haben sich auch DDR-weit vernetzt. Das blieb ja nicht auf einen Ort bezogen, sondern wenn ein Konzert in Erfurt war, dann hat man auch dort bei irgendwelchen Leuten übernachtet, oder wenn eins in Dresden war, dort Leute kennengelernt oder gefragt. Das ging auch so. Das ist heute alles vielleicht ein bisschen unvorstellbar.
Dagmar Hovestädt: Es gab keine Telefone, es gab keinen Mobilfunk, nichts.
Peter Wensierski: Ja. Man hat es aber trotzdem - vielleicht sogar noch viel besser - geschafft, sich zu vernetzen und Leute kennenzulernen. Wenn die dann nach Jena kamen, haben die dort gepennt, wenn man nach Leipzig kam, dann da. Und so hatte jeder dieser Jugendlichen Kontakte in der ganzen DDR, wo er immer hinfahren konnte, sich austauschen konnte. Es gab ein Informationsnetz, einen Austausch von Nachrichten, natürlich manchmal auch nur Austausch von Platten und Musik und Tonbändern oder Büchern vor allen Dingen. Aber das war sozusagen eine lebendige Szene, die versuchte, unter dem Radarschirm von Stasi und Volkspolizei zu bleiben, was leider nicht immer gelang.
Dagmar Hovestädt: Na ja, ein Stück weit hast du das auch in den Akten nachvollziehen können, dass es nicht gelungen ist.
Peter Wensierski: Man muss schon Zeit haben für Archive. Ich denke, gewöhnlich haben Journalisten da andere Zeitvorstellungen. Die wollen binnen weniger Tage irgendeine Akte. So war das in der Vergangenheit oft. Wer, wenn es nicht gerade Wissenschaftler sind, hat schon Zeit, ein, zwei, vielleicht sogar drei Jahre lang Akteneinsicht zu nehmen. Ich musste zum Beispiel im Staatsarchiv ein halbes Jahr auf einen Termin warten. Nun war auch noch Corona-Zeit. Aber okay, irgendwann ist es dann soweit. Man muss schon Geduld haben. Und die Einsichtsbedingungen sind auch oft schwierig. Also, das ist ein eigenes Thema. Die Arbeit in Archiven orientiert sich nicht zuerst am politischen Ziel der Aufarbeitung, sondern in erster Linie am Datenschutz. Aber es ist unbedingt notwendig, dass man sich nicht mit einigen wenigen Akten zufriedengibt, sondern dass man auch versucht, diese Netzwerke, die es gibt, nachzuvollziehen. Das Problem ist, dass man dann aber auch die Genehmigung von vielen Leuten braucht, in ihre Akten sehen zu können. Das gelingt einem nur teilweise, weil ja die Leute in alle Welt versprengt sind oder man gar nicht erst ihre Namen erfährt. Aber es ist total wichtig, gerade bei Stasi-Akten, dass man nach Gegenüberlieferungen sucht. Also, wenn man zum Beispiel damit konfrontiert ist, dass gesagt wird, dass diese Akte gefälscht ist, dass dieses Verhör überhaupt gar nicht stimmt, dann ist es total wichtig, dass man guckt - meistens werden ja fünf Durchschläge von solchen Sachen gemacht -, wann die wo waren, wann wo etwas mit einem Fernschreiber abgeschickt worden ist und ob es auch im selben Moment angekommen ist. Das kann man mit einer aufwendigen Recherche durchaus erforschen. Das nimmt dann teilweise kriminalistische Züge an, wenn man guckt, wann wo welches Schreiben ankam und auf welchem Schreibtisch es lag. Aber das ist möglich und erst durch dieses Gesamtbild kriegt man ein Gefühl dafür, was an der Akte stimmt, wofür sie geschrieben wurde, für wen, von wem, mit welchem Inhalt und was Zeitzeugen, die dabei waren, vielleicht berichten können. Dann war es auch sehr wertvoll, dass ich eben nicht nur mit 160, 170 Freunden und Freundinnen von Matthias Domaschk gesprochen habe, sondern auch mit zwei, drei Dutzend Stasi-Leuten, die dabei waren und die eben auch Zeitzeugen sein können.
Dagmar Hovestädt: Na ja, das sind sie ja in jedem Fall. Sie haben ja die Akten geschrieben, sie haben die Zeit ja sogar festgehalten, sie haben gehandelt in der Zeit.
Peter Wensierski: Nun gelten Stasi-Leute nicht per se in der Öffentlichkeit als die Glaubwürdigsten, wenn sie was erzählen, aber wenn sie was erzählen, kann man das natürlich auch immer abgleichen mit Akten, abgleichen mit den Erzählungen anderer Zeitzeugen, abgleichen mit den Erzählungen anderer Stasi-Offiziere. Also, es empfiehlt sich auch, mit mehr als einem, zwei oder drei zu sprechen.
Dagmar Hovestädt: Das Lustige ist ja, dass das sogar eine Strategie der Stasi selbst war, dass sie an bestimmten Punkten mehrere IM eingesetzt hat, um das miteinander vergleichen zu können, ob das, was sie so mitbringen an Informationen, auch stimmt.
Peter Wensierski: Also, es ist ja so, dass man als Journalist auch bei einer Recherche immer mit mehreren Leuten und mehreren Quellen, wie es so schön heißt, sprechen muss. Es reicht nicht, wie in diesen Hollywoodfilmen, dass man zwei Quellen braucht, die irgendwas behaupten, wo man nicht mal eine schriftliche Unterlage hatte, und dann haut man das in der New York Times oder so raus, wie es in manchen Hollywoodfilmen gezeigt wird. Auch hier in Deutschland - ich bin ja nun ein Vierteljahrhundert Spiegel-Journalist gewesen - legt man Wert darauf, möglichst mit vielen verschiedenen Leuten, nicht nur den Betroffenen, sondern auch - ich sage mal - möglichen Tätern, zu sprechen, dazu noch Dokumente zu besorgen, dazu vielleicht auch noch Experten zu hören. Ich habe mich zum Beispiel auch in verschiedenen Dingen mit Experten beschäftigt. Auch jetzt bei dieser Recherche brauchte ich teilweise Experten.
Dagmar Hovestädt: Was denn für Experten?
Peter Wensierski: Na ja, Gerichtsmediziner und Polizisten. Ich habe mich viel beschäftigt mit seltsamen Themen. Man muss sich schon auch mit Themen rund um den Tod beschäftigen, wenn man einen Tod aufklären will. Trotzdem war es so, dass mein Interesse in erster Linie ist, noch mal dieses Leben, auch die Szene dieser Jugendlichen, der Freunde und von Matthias darzustellen, denn es lohnt sich, da hineinzugucken. Es ist spannend, was die gemacht haben, was sie versucht haben, wie sie versucht haben, ein aufrechtes Leben, das auch Spaß macht, auch untereinander Spaß macht, zu leben und da natürlich auch die Konflikte zu sehen, die das hervorruft, die Grenzen zu sehen, die dann gezogen werden. Das ist bitter teilweise. Man ist im Nachhinein - selbst mir ging es so, dass man da irgendwie erschüttert ist, wenn man einfach mitkriegt, was auf der einen Seite Jugendliche machen, die sich freuen, eine Feier zu machen, eine Party zu machen, und was da der Blickwinkel des MfS, der Volkspolizei und der SED auf solche Zusammenkünfte von Jugendlichen, wie es so schön heißt, ist. Wieso haben die immer diesen Blick: Das sind feindlich-negative dekadente Jugendliche. Ich habe mit großem Interesse versucht zu verstehen: Warum haben die Leute, die beim MfS gearbeitet haben, diese Ansicht, warum machen sie diesen Job? Ich bin bei dieser Recherche auch sehr weit gegangen. Ich wollte verstehen, warum es immer wieder Menschen gibt, die sich zum Werkzeug in einer Diktatur machen und dabei aber den Glauben haben, dass sie da auf der richtigen Seite sind und etwas zutiefst Gerechtfertigtes machen. Das ist ja ein Phänomen. Ich habe mich das immer bei den Bildern auch heute gefragt, wenn man in aller Welt immer diese Einsatzkräfte sieht, die da auf die Demonstranten einprügeln oder schießen, wie jetzt im Iran: Was sind das für Menschen, was ist mit denen los, gibt es da irgendwas, das man daraus lernen kann, wo man das mal durchbrechen kann? Wir haben es hier auch mit wahnsinnig vielen Leuten in der DDR zu tun, die natürlich eine bestimmte Lebensgeschichte haben. Ich bin teilweise in den Orten gewesen, wo diese Stasi-Leute aufgewachsen sind, habe mit Nachbarn, Freunden, Schülern, Lehrern geredet, auch über den Ort und das Leben, das diesen Weg sozusagen begünstigt hat. Warum sind Leute zu Tätern geworden? Ich finde es wichtig, dass man das auch erforscht.
Dagmar Hovestädt: Jetzt bist du mit dieser Recherche auf eine enorme Vielzahl an Archiven, an Überlieferungen, an Zeitzeugen gestoßen, hast Zeitzeugen, die zur Matthias-Domaschk-Familie gehören, seine Freunde, seine Freundeskreise, die Zeitzeugen, die die Akten angelegt haben, Stasi-Offiziere, vielleicht sogar Polizisten getroffen. Alles, was bislang veröffentlicht wurde, das ist ja eine riesige Menge an Material. Wie wird daraus ein Buch?
Peter Wensierski: [lacht leicht] Gute Frage! Ich habe wirklich vor einem 50.000-Teile-Puzzle gesessen und musste das zusammenfügen. Das dauert seine Zeit, aber es geht. Man kommt dann auch zu einer ganzen Menge neuer Erkenntnisse. Viele Dinge sind dann, wenn man genauer recherchiert, doch anders als sie auf den ersten Blick erscheinen. Das gilt eigentlich immer, auch im Journalismus. Insofern war ich ganz dankbar, dass ich die Zeit und die Möglichkeiten hatte, all diese Recherchen zu machen und zu all diesen vielen Leuten hinzufahren. Man entwickelt ja dann auch so den Wunsch, auch noch den letzten Zeugen zu finden. Ich habe zum Beispiel Leute gefunden, die auch in diesem Zug saßen. Mir war es wichtig. Ich wusste, dass Matthias mit seinem Freund Peter Rösch, Spitzname "Blase", in diesen Zug steigt - am Freitag, den 10. April 1981, kurz nach 6 - und losfährt. Und ich habe gedacht, da muss es doch Leute geben, die da-- Und in der Tat gab es die auch, aber die muss man dann auch finden und sprechen. Es gab auch Leute, die sozusagen mit ihnen aus dem Zug rausgeholt worden sind. Das ist dann sehr wertvoll. Ich konnte das dann wirklich aus diesen vielen Puzzleteilen zusammensetzen. Es gab Augenzeugenberichte, Protokolle, Gedächtnisprotokolle von seinem Freund Peter Rösch, der damals schon drei, vier Tage danach - Gott sei Dank durch diesen Facharbeiter animiert - zu Protokoll gegeben hat, was er erlebt hat. Da ließ sich viel mehr rekonstruieren, als man dachte.
Dagmar Hovestädt: Du hast ja eine Leseprobe mitgebracht. Wenn du möchtest, vielleicht auch abschließend-- Ich glaube, so viel kann man schon über das Buch sagen, ohne zu viel zu verraten: dass es eine Art Rekonstruktion eines Lebens wird, das eben in einem Stasi-Gebäude tödlich endet, und in der einfach enorm viele verschiedene Perspektiven aufeinandertreffen, um dieses Leben auch zu würdigen.
Peter Wensierski: Genau. Ich habe das Buch so gemacht, dass es eigentlich nur an wenigen Tagen spielt, also an dem Freitag, an dem Samstag, an dem Sonntag. Dennoch sind Jahre darin enthalten, weil auch in Rückblenden ganz wichtige Sachen erzählt werden aus dem Leben von Matthias und dem Leben seiner Freunde. Es ist so, dass - wenn ich hier zum Beispiel draufschaue - die Perspektive immer wechselt. Also, Matthias und sein Freund steigen in den Zug nach Berlin, freuen sich auf die Geburtstagsfeier bei Freunden und währenddessen rödelt im Hintergrund schon ein wahnsinniger Apparat bei der Stasi. Und ich springe sozusagen einmal aus der Perspektive von Matthias und seinem Freund Peter hin zu der Kreisdienststelle in Jena und dem, was dort vor sich geht: Was macht welcher Offizier, wen ruft er an, was tritt er für einen riesigen Apparat los. Die stoppen ja einen Schnellzug, der von Thüringen nach Berlin unterwegs ist mit Hunderten von Insassen, nur um zwei Leute, die zu einer Geburtstagsfeier fahren wollen, herauszuholen, weil sie ganz andere Vorstellungen haben, was mit denen sein könnte. In Berlin beginnt da gerade der X. Parteitag und es gibt im Land schon lange eine wahnsinnige ausgearbeitete Direktive von Erich Mielke, keinerlei Störungen bei diesem Parteitag zuzulassen. Also, es ist wahnsinnig, wenn man dieses Papier von Mielke sieht. Überall wurden operative Einsatzstäbe in den Bezirken gebildet, damit bloß kein Zwischenfall da ist. Und an dem Abend, ja, fahren praktisch zwei Züge aufeinander zu. Also, das was die Stasi da erst im Verborgenen für die beiden und dann in Jüterbog, wo der Zug gestoppt werden kann, offensichtlich betreibt, ist ein Wahnsinnsapparat, der da in Gang gesetzt wird.
Dagmar Hovestädt: Und du liest uns jetzt zum Abschluss einmal eine kurze Probe aus dem Buch vor.
Peter Wensierski: Ja. Die Zwischenüberschriften sind immer wie hier zum Beispiel: Freitag, 20:40 Uhr, Schnellzug D 506.
[Auszug aus dem Buch "Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk"]
Matz ist in das Feuchtwanger-Buch vertieft und denkt über die Zeilen nach, die er gerade gelesen hat. Die Bremsen kreischen. Ein letzter Ruck und der Zug steht still. Matz schaut vom Buch auf. Selbst davon ist Blase nicht wach geworden. Eigentlich gibt es doch keinen Halt mehr bis Berlin. Weit kann es doch nicht mehr sein. Da hört Matz schwere Stiefelschritte. Immer lauter wird das Getrampel. Dann bauen sich mehrere Uniformierte direkt vor ihnen auf. Sein Freund wird wach, reibt sich die Augen und setzt sich auf. "Sind Sie Herr Rösch?" - "Ja." "Da brauchen Sie sich nicht mehr auszuweisen. Jacke anziehen und mitkommen! Und Sie? Domaschk, Matthias?" - "Ja." "Ihren Ausweis!" - "Meinen Ausweis? Moment." "Fahren noch weitere Personen mit Ihnen im Zug? Freunde, Bekannte?" - "Nein, niemand. Wollen Sie die Fahrkarten sehen? Wir wurden doch schon kontrolliert. Wir haben Fahrkarten gekauft. Hier sind..." "Brauchen wir nicht. Kommen Sie jetzt mit raus!" - "Aber warum? Was ist denn los? Warum holen Sie uns aus dem Zug?" - "Auf Anweisung einer höheren Dienststelle. Mehr können wir Ihnen auch nicht sagen. Folgen Sie uns jetzt!"
[Auszug Ende]
Also, diese Szene zum Beispiel konnte ich rekonstruieren, zum einen aus dem Gedächtnisprotokoll von Peter Rösch, "Blase", und ich habe mit Leuten gesprochen, die im Abteil schräg gegenüber saßen, die das alles mitbekommen haben und sich auch gut daran erinnern konnten. Und das geht ja dann so weiter. Ich habe selber gestaunt, wie lebendig man das alles noch mal zum Leben erwecken kann, was da passiert ist, und wie sehr da eigentlich deutlich wird, was da überhaupt passiert ist. Es ist so unfassbar, dass man eigentlich den Kopf schüttelt oder die Hand in der Tasche ballt, weil man denkt: Das kann doch alles gar nicht wahr sein! Was macht die Stasi da? Ich bin mal bei denen im D-Zug, mal bei denen in der Kreisdienststelle, mal in der Bezirksverwaltung Gera, mal bei der Bezirksverwaltung in Potsdam, dann bei der Transportpolizei in Jüterbog. Also, das läuft natürlich aufeinander zu und eskaliert immer mehr. Es ist eine lange Geschichte. Es gibt bei den Rückblenden aber auch sehr viel Vergnügliches. Ich habe zum Beispiel ausführlich rekonstruiert, was man bisher überhaupt nicht so über Matthias dargestellt oder gewusst hat: Er hat eine Band gegründet, eine Schülerband. Er hat dann selber nicht in dieser Band mitgespielt, aber er war sowas wie ein Roadie in der Band. Er ist dann mit dieser Band durch die Gegend gezogen. Das hat er schon. Ich könnte zum Schluss dann doch noch eine Sache vorlesen, damit man mal sieht--
Dagmar Hovestädt: Suchst du gerade im Handy? Das kann man ja im Radio nicht hören.
Peter Wensierski: [lacht leicht] Ich gucke mal. Diese Geschichte mit der Band hat mich sehr interessiert. Die beginnt damit, dass er eine Schülerband in seinem Ort Neulobeda gründet, die dann zu einer richtigen Band namens "Ulla" wird und mit der er dann über die Dörfer gezogen ist.
Dagmar Hovestädt: Wie alt ist er da?
Peter Wensierski: Na ja, das ist so etwa 1976. Da ist er gerade 19, 20. Er hat dann mitgeholfen, in so einem Dorfsaal, der rappelvoll ist, alles aufzubauen, die Lautsprecher hin- und hergerückt, den Verstärker überprüft, die Gitarren verkabelt. Gerade das hat mich interessiert: wie die Band da über die Thüringer Dörfer fährt. Das ist so ein bisschen dieses "on the road"-Gefühl.
[Auszug aus dem Buch "Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk"]
Die Besucher egal ob Männer oder Frauen, rauchen, was das Zeug hält im Dorfsaal. Sie blicken durch den Dunst erwartungsvoll Richtung Bühne. Gleich geht es los! Die meisten der um die 20-Jährigen haben sich an der Theke am anderen Ende des Saals schon ihr zweites Bier geholt, einige sind beim dritten oder vierten vielleicht. Die Jungs mit den Schlaghosen halten ihre Freundinnen mit den Strickpullis fest im Arm. Die begehrlichen Blicke der anderen Jungs ohne weibliche Begleitung sind unübersehbar. Es wird gerufen, geschwatzt, geflirtet, getrunken, gequalmt und gleich wollen sie endlich lostanzen. So viel Zeit bleibt ja nicht mehr. Um halb zwölf ist Schluss, dann müssen alle raus. Wer kein Moped hat, um halb besoffen nach Hause zu fahren, oder sonst nicht mehr heimkommt, wird vielleicht in der nächsten Scheune schlafen. Matz hockt am Rand der Bühne auf einer Holzkiste, ein Bier in der Hand, eine Karo im Mundwinkel, lässig. Links und rechts von der Wand zwei DDR-Fahnen im Ständer. Pflichterfüllung. Direkt über der Theke am anderen Ende des Saals ein Stoffbanner mit der Losung "So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben". Direkt darunter holen sich die Leute ihr Bier nach. Matz muss grinsen. So wie wir heute trinken, Moment! Wo sind wir heute noch mal? Im Dorfsaal, aber in welchem? In Mellingen, Kahla, Stadtroda? Egal. Ein wilder Sommer 1977, in dem er mit "Ulla" über die Dörfer zieht: von Thüringen bis ins Erzgebirge. Nächste Woche fahren sie an die Ostsee mit Billy, Jens, Jochen, Moses, Ecki. Er liebt dieses Rumturnen "on the road", unterwegs. Sie haben es alle gelesen in Jena, dieses Buch von Jack Kerouac.
[Auszug Ende]
Ja. Es nimmt noch ein wildes Ende in diesem Dorfsaal, aber das kann man dann lesen, wenn das Buch "Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk" am 15. März erscheint.
Dagmar Hovestädt: Vielen Dank, Peter Wensierski, für Einblicke in ein sehr aufwendiges Projekt mit einer sehr spannenden Geschichte. Ich freue mich drauf.
Peter Wensierski: Danke für die Einladung.
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Das war Peter Wensierski, mit dem du über sein Buch über Matthias Domaschk sprachst. Es erscheint im März 2023 und wird heißen "Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk".
Dagmar Hovestädt: Unser Podcast endet wie immer mit einer akustischen Begegnung mit dem riesigen Audio-Pool des Stasi-Unterlagen-Archivs, wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben.
[Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audioüberlieferung des MfS. 1978 wurde in der Schule die Wehrerziehung für Schüler der 9. und 10. Klassen obligatorisches Schul- und damit Pflichtfach. Es konnte nicht verweigert werden, weil in der DDR der Wehrdienst nicht verweigert werden konnte. Eltern, die dennoch versuchten, für ihre Kinder eine Freistellung zu erreichen, gerieten sehr schnell auch in das Visier der Stasi, wenn sie es nicht schon längst waren. Im Bestand der Bezirksverwaltung Dresden findet sich der Bericht des IM "Hans Martin" aus Görlitz über die Probleme bei der Einführung des Fachs Wehrerziehung an seiner Schule. Einerseits war es schwierig, pädagogisch geeignete Lehrer zu finden, andererseits hatte die Übernahme der Aufgabe weitreichendere Konsequenzen, als sich nur mit dem neuen Lehrstoff zu beschäftigen. Von der Kassette, die über 102 Minuten lang mehrere Berichte verschiedener IM aus dem Raum Görlitz enthält, hören wir 3 Minuten 20. An zwei Stellen habe ich einen Namen anonymisiert. Welcher Auffassung die Mitgenossen waren, erfahren wir am Ende leider nicht, weil die Aufnahme abbricht.
[Archivton Beginn]
[IM Hans Martin:] Es machte große Schwierigkeiten, überhaupt die Kader für diesen Unterricht zu finden. Es wurden in unserem Kreis zwei Kader zunächst aus dem Haus der Pioniere dafür gewonnen. Das waren Pädagogen, die in einer außerunterrichtlichen Einrichtung arbeiteten, aber da keine anderen Lösungen - äh - vorlagen, wurden, wurden diese Kader, die auch sofort bereit waren, dafür gewonnen. Der dritte Kader, Genosse [anonymisiert], wurde uns über die Bezirksabteilung zugewiesen. Die Direktive sagt, dass länger dienende Offiziere, Berufsunteroffiziere, dafür infrage kommen, und damit sind objektiv die Probleme deutlich gemacht, dass in den meisten Fällen die Genossen ohne pädagogische Erfahrung, ohne vorherige Unterrichtsarbeit in diese Aufgabe hineinkommen und es ein längerer Prozess sein wird, sie für einen qualitativ hohen Unterricht zu befähigen. Die augenblickliche Belastung der Lehrer für Wehrerziehung ist noch relativ gering, da in diesem Jahr wir mit dem Unterricht nur in den 9. Klassen beginnen und erst im nächsten Schuljahr die 10. Klassen dann einbezogen sind und auch die Aufgabenstellung des Ministeriums über den Unterricht hinaus von uns erst noch richtig in Griff bekommen werden muss und die Genossen sich den weiteren Aufgaben außer dem Unterricht, wie zum Beispiel die Organisierung der Lager für Zivilverteidigung, des Wehrerziehungslagers, der DRK-Ausbildung und anderer Aufgaben, mehr sich hinwenden müssen. Die kadermäßige Absicherung war auch verbunden mit einer Bereitschaftserklärung der Lehrer für Wehrunterricht, die Beziehungen zu Bürgern der BRD abzubrechen. Diese Erklärung unterschrab - unterschrieb auch Genosse [anonymisiert]. Es wurde jetzt deutlich, dass er diese Erklärung unterschrieben hatte zum gleichen Zeitpunkt, in dem er die Einladung für die Mutter aus der BRD bei der VP eingereicht hatte. Dieses Verhalten spielte in den Parteiversammlungen, Parteileitungen, in den letzten Wochen in der Abteilung Volksbildung eine Rolle. Person [anonymisiert] äußerte, dass er das feste Ziel hatte, bei dem Besuch der Mutter die Beziehungen abzubrechen. In der Parteiversammlung unserer APO gab es zu diesem Sachverhalt heftige Diskussionen. Viele Genossen erläuterten ihm, dass er a) unterlassen hat, das offen und ehrlich mit den Genossen der Parteileitung zu besprechen, und b) ihm auch gesagt wurde, dass man die Auffassung haben muss, da er die Unterschrift so schnell leistete, dass das [Abbruch der Aufnahme].
[Archivton Ende]
[Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."