[Intro]
Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ..ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Ich bin Maximilian Schönherr, Journalist, Archiv-Fan und Co-Host des Podcast
Dagmar Hovestädt: Und ich bin Dagmar Hovestädt, die Sprecherin des Bundesbeeauftragten für die Stasi-Unterlagen und die Gastgeberin im Posdcast. Ich schaue von drinnen, wo Maximilian Schönherr die Perspektive von draußen mitbringt. In unserer Folge heute geht es um die Nutzung der Akten, dieses mal für ein spezifisches Projekt, das aus unserer Unterlagen Daten machen will.
Maximilian Schönherr: Moment. Aus Unterlagen, also Akten, Karteikarten, Tonbänder usw. einen Datensatz machen. Sind die Akten nicht eh schon Daten und wenn sie digitalisiert sind, halt digital recherchierbare Akten. Und wenn sie systematisch zusammengefasst sind, Datensätze?
Dagmar Hovestädt: [lacht] Schlau gedacht. Schon richtig. Akten sind Daten, sie sind zu digitalisieren aber ermöglicht ganz andere Zugänge und Einsichten.
Maximilian Schönherr: Also sind sie noch nicht digitalisiert?
Dagmar Hovestädt: Genau. In der Regel digitalisieren wir zur Nutzung. Also für den einzelnen individuellen Nutzer und nicht ganze Bestände. Das einzige, wo wir derzeit wirklich umfänglich digitalisieren ist im audio-visuellen Bereich, wie du weißt. Aber man braucht eben vollständige Daten, um Forschungsansätze zu finden und umzusetzen. Und dieses Projekt hat ein ganz spezifisches Ziel.
Maximilian Schönherr: Wir stellen heute also ein Forschungsprojekt vor, eine Herangehensweise an, das kann man glaube ich sagen, weitgehend unerschlossene Akten. Oder sind die Akten schon weitgehend erschlossen, jetzt geht es drum, Verknüpfungen herzustellen?
Dagmar Hovestädt: Ja, halbe-halbe. Also erstmal sind es hochpersonenbezogene Daten, deswegen sind die gar nicht offen. Es sind Karteikarten. Und das Projekt will ja aus einem spezifischen Papier digitale Daten, einen Datensatz erstellen und damit dann eine quantitative und qualitative Beschreibung der politischen Haft in der DDR zu ermöglichen. Also wie genau, dazu mass man dann schon mal etwas reinhören, in den Podcast, weil das gar nicht so einfach ist.
Maxmilian Schönherr: Das Thema passt jedenfalls zu dem, was wir hier von Anfang an in diesem Podcast vorhatten, verschiedenste Nutzungen des Stasi-Unterlagen-Archivs aufzuzeigen. Heute ein durchaus hoch angesiedeltes, nämlich vom Bund finanziertes Spezialprojekt, dass ohne zum Beispiel die zig-Tausend Karteikarten bei euch, in eurem Archiv nichts, aber auch gar nichts ausrichten könnte.
Dagmar Hovestädt: Das ist wohl richtig. Und wir sind eigentlich auch selber ganz happy darüber, was da passiert, weil es auch für uns diese Daten ja zukünftig digital zur Nutzung hinterlässt. Wir hatten das Forschungsprojekt auch auf unserer Webseite bekannt gemacht. Dort stehen dann im Foto die Projekt-Mitglieder und scannen diese Din a 4 großen Karteikarten und speichern die dann ab in einer Datenbank zur späteren Nutzung. Meinst du wir sollten hier den Link mal aussprechen, der ist aber ziemlich lang.
Maximlian Schönherr: Können wir ja mal zusammen probieren. Der Link wird aber eh in der Beschreibung hier auf der bstu-Seite direkt anklickbar sein. Magst du anfangen?
Dagmar Hovestädt: Okay. wwww Punkt bstu Punkt de
Maximilian Schönherr: Slash über minus uns
Dagmar Hovestädt: Slash Aktuelles
Maximilian Schönherr: Slash deteil
Dagmar Hovestädt: Slash Digitalisierungsprojekt minus zu minus Haft minus Unterlagen
Maximilian Schönherr: Ich bin jedenfalls jemand, der Naturwissenschaften studiert hat und sich schon seit Jahrzehnten mit Archiven vor allem der Rundfunkanstalten beschäftigt, fasziniert von dem sehr wissenschaftlichen Gespräch, was wir heute hören.
Dagmar Hovestädt: Ja, du hast nach dem ersten Hören gesagt, es zieht sich etwas, aber dass man beim Podcasten ja auch durchaus vorspulen darf. Das finde ich nämlich auch. Manchmal vergesse ich doch etwas die Zeit, wenn ich doch etwas tiefer mich in so ne Geschichte hineinbohre.
Maximilian Schönherr: Was mich bei dem Gespräch bewegt hat ist, dass aus fast jedem Satz ein unendliches Elend und Leid spricht. Das Elend hat Famlilien zerfetzt, Träume zerstört, Menschen gebrochen. Nach diesem Podcast kann niemand mehr die Frage stellen, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder nicht. Wenn die Justiz systematisch Bürger kriminalisiert, in dem sie ihnen mit oft erheblichem Spitzelaufwand irgendwas anhängt, was sie nicht getan haben, oder ihnen Fallen stellt, ist das staatliches Unrecht. Auch wenn dieser Podcast das Thema auf sehr wissenschaftlicher Ebene abhandelt.
Dagmar Hovestädt: Ja genau dafür, finde ich, sind ja so Archive, oder im besonderen hier unser Archiv da, dass man sich selbst ein Bild machen kann und das dann einordnen kann, anhand der authentischen Dokumente. Und insofern passt das Thema ganz gut in diese Woche. Es ist nämlich internationale Archivwoche, ausgerufen vom internationalen Archivrat, dem ICA und der stellt die Frage: Was ist ein Archiv? In diesem Falle eine Sammlung von Dokumenten, mit denen man Schlüsse über die Vergangenheit ziehen kann, die uns heute helfen können, einen Kompass in bewegten Zeiten zu finden.
Maximilian Schönherr: Mit Jetzt meinen wir Mitte Juni 2020, denn den Podcast kann man auch noch in fünf Jahren anhören, aber das ist eben diese Woche [Hovestädt: das stimmt!] die Woche der Archive. Übrigens trotz Schlüsselbegriff Datensatz kommt das Wort Computer niemals vor. Noch ne erklärende Frage vorweg, Dagmar. Wie nah ist eigentlich der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, dessen Sprecherin du bist, der Gedenkstätte Hohenschönhausen, wo unser Gast heute forscht.
Dagmar Hovestädt: Wir sind denen natürlich gedanklich-inhaltlich sehr eng verknüpft. Unsere Unterlagen unterstützen die Gedenkstättenarbeit, wie die Arbeit vieler anderer Gedenkstätten. Aber formal sind wir getrennt. Also die Gedenkstätte Hohenschönhausen, Berlin-Hohenschönhausen, ist eine Stiftung, vom Land Berlin, mit dem Bund finanziert, dort angesiedelt bei der BKM, bei der Staatsministerin für Kultur und Medien. Und wir sind quasi mit dem Bundesbeauftragten im Beirat, aber formal wirklich nicht involviert, natürlich nur ideel, und vor allem auch in der Wissenschafts- und Bildungsarbeit sehr eng verknüpft.
Maximilian Schönherr: Aber die Wissenschaftler dort müssen dieselbe Prozedur, Antragstellung undsoweiter, durchmachen wie jeder Wissenschaftler von woanders.
Dagmar Hovestädt: Genau. Also da kommt man nicht dran vorbei. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz gilt natürlich auch für Gedenkstätten, die wir aber insbesondere unterstützen sollen in ihrer Arbeit. Insofern versuchen wir schon, die Arbeitsbedingungen möglichst hilfreich zu gestalten. Und deswegen sitzt diese kleine Gruppe an Forschern, die diese Karteikarten digitalisieren, auch mit im Archiv bei uns und wir können ne gute Kooperation ermöglichen.
Maximilian Schönherr: Ja, und wir enden jeden Podcast ja mit einem Audio-Bite aus dem Ton-Archiv des BStU. Kleiner Teaser gefällig?
[Archiv-Ton] männliche Stimme: Person aufgetaucht [Klicken einer Kamera] Beobachtet Flugplatz. [geflüstert] Jetzt sind se weg.
Dagmar Hovestädt: Jetzt das Gespräch mit Dr. Michael Schäbitz, mit ä, der das Datenbankprojekt Dimensionen politischer Haft in der SBZ - DDR leitet, das an der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen angesiedelt ist. SBZ steht übrigens für den Vorläufer der DDR, die sowjetisch besetzte Zone.
Dagmar Hovestädt: Also Sie haben, wenn ich das noch mal so für den Einstieg auch mit beschreiben kann, Sie haben Geschichte studiert, Psychologie und Philosophie, haben dann auch promoviert über ein sehr spezifisches Thema nämlich die Emanzipation, Akkulturation und Integration der Juden im Kurfürstentum Sachsen von 1700 bis 1914. Also kann man sagen ein klassisches Geschichtsthema und sind dann jetzt schon seit langer Zeit immer wieder auch mit DDR-Themen und der Historie der DDR beschäftigt. Kann man das einfach zusammenfassen, wie man sozusagen aus der Beschäftigung mit dem Judentum in der längeren Vorgeschichte plötzliche zur DDR kommt?
Michael Schäbitz: Also da gibt es keinen geraden Weg sozusagen, das ist eher der Typ der spezifischen Situation geschuldet, dass es einfach viel viel mehr Möglichkeiten gibt zur Zeitgeschichte Ausstellung und Projekte zu machen. Als zum 18./ 19. Jahrhundert. Insofern hat sich das eher zufällig ergeben, dass ich sozusagen dann 15 Jahren mehrheitlich mit DDR-Geschichte beschäftigt bin. Es hat aber den sozusagen den persönlichen Hintergrund, dass ich hier in der DDR aufgewachsen bin und dadurch auch also immer ein großes Interesse an der historischen Auseinandersetzung mit der DDR gehabt habe. Insofern ist es nicht so von mir aus gesehen eben nicht so weit entfernt, aber die Doktorarbeit war unglaublich spannendes Thema und damals im Forschungsdesiderat und man hat nicht oft die Möglichkeit sich so intensiv mit einem Thema zu beschäftigen. Und ich habe ja auch ein Jahr in Israel studiert, habe da die starken Bezüge zur deutsch-jüdischen Geschichte. Also das hat mich einfach sehr stark gefesselt und mich immer noch, aber der Schwerpunkt liegt allerdings auch seit 2006 auf der DDR-Geschichte.
Dagmar Hovestädt: Wir haben uns ja eigentlich jetzt verabredet zum Gespräch, weil Sie zurzeit mitarbeiten in diesem großen Projekt "Landschaften der Verfolgung" nur so ein sehr großer Titel, der sozusagen die Vielfältigkeit der politischen Verfolgung eine DDR bisschen aufarbeiten soll und da ganz spezifisch sozusagen an dem Projekt politische Häftlinge in der DDR. Also das Datenbankprojekt des Forschungsverbundes Landschaften der Verfolgung und was genau ist der eigentliche Ansatz hier und wie ist es dazu gekommen?
Michael Schäbitz: Das Bundesministerium für Forschung und Bildung fördert seit 2019 14 große Forschungsverbünde, wo ganz viele unterschiedliche Institutionen aus ganz Deutschland beteiligt sind und wir gehören die Forschungsverbund Landschaften der Verfolgung an. Das ist ein Kooperationsprojekt mit acht teilnehmenden Institutionen und das Spannende daran ist, dass daran sowohl Universitäten als auch Gedenkstätten oder eben auch die Robert-Havemann-Gesellschaft mitbeteiligt ist.
Dagmar Hovestädt: Das ist ein zivilgesellschaftliches Archiv zur DDR-Opposition.
Michael Schäbitz: Genau und das ist schon neu, dass da auch Gedenkstätte und auch die Expertise von von Gedenkstätten zusammengebracht wird mit der Expertise von Universitäten. Also in unserem Fall ist es die Humboldt-Universität Professor Baberowski und es ist die Universität Frankfurt (Oder) also die [unverständlich] und Universität Passau. Dann eben die Gedenkstätte Hohenschönhausen, Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam.
Dagmar Hovestädt: Muss man vielleicht noch mal sagen für die Leute, die das gar nicht wissen. Hohenschönhausen ist die zentrale Untersuchungshaftanstalt der Stasi und Potsdam Lindenstraße war sozusagen die Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung Potsdam des MfS. Gedenkstätten heute die ganz besonders, ja, die politische Haft. Die Menschen die wirklich ihnen der Untersuchungshaft der Stasi gelandet sind, die daran erinnern und die Schicksale von denen am historischen Ort jeweils erzählen.
Michael Schäbitz: Genau, dann ist noch das Menschenrechtszentrum Cottbus beteiligt. Also eine ehemalige Strafvollzugsanstalt, wo eben sehr viele politische Häftlinge einsaßen und last but not least die Charité. Die machen ein Projekt zu den Folgen politischer Haft und wollen nicht nur die unmittelbaren Folgen untersuchen für die ehemaligen Häftlinge, sondern auch für die zweite Generation. Also welche Folgen hatte das für die?
Dagmar Hovestädt: Was die nächste Generation vielleicht auch einen unbewussten Langzeitschäden mit sich trägt. Das heißt all das, alle diese verschiedenen Partner hängen drin in den in dem Teilprojekt "Landschaften der Verfolgung"?
Michael Schäbitz: Also wir sind einer dieser 14 Forschungsverbünde. Also das BMBF hat nochmal gesagt: Wir wollen jetzt noch mal großflächig Forschung zu DDR finanzieren und haben das ausgeschrieben und 14 Verbünde haben den Zuschlag erhalten. Wir sind einer dieser Verbünde.
Dagmar Hovestädt: Und der Verbund hier heißt "Landschaften der Verfolgung". Und die die gerade Genannten sind alle Teile in diesen Forschungsausschuss. Es ist ein ziemlich großer Verbund.
Michael Schäbitz: Das ist der größte von den 14 und wir sind das größte Teilprojekt. Also Daten von politischer Verfolgung ist das größte Teilprojekt.
Dagmar Hovestädt: Datenprojekt hört sich dann jedoch wieder ein bisschen trockener oder distanzierte an, aber wie ist man darauf gekommen? Also überhaupt quasi quantitativ Daten erfassen zu wollen und was ist daran neu?
Michael Schäbitz: Also das Problem ist eigentlich ein altes Problem, dass man bis heute nicht weiß und das nach 30 Jahren deutscher Einheit, wie viele Menschen tatsächlich der DDR aus politischen Gründen in Haft saßen. Es gibt Schätzungen, die schwanken zwischen 180.000 und 350.000. Meistens wird die Zahl 250.000 genannt. Das ist eine grobe Schätzung. Wir werden hoffentlich rausfinden, ob das so stimmt oder nicht und zum einen geht es darum eine quantitative Bestimmung zu machen und andererseits aber natürlich auch uns ein Bild zu machen von diesen Menschen. Also in herauszufinden: Wer waren die? Wie alt waren sie? Wo kommen sie her? Welchen soziale Hintergrund hatten sie? Das kann man natürlich nicht für jeden Einzelnen machen, aber diese Datenbank, die wir erstellen, gibt die Möglichkeit dann ja auch weitergehende Forschung zu betreiben zu Einzelpersonengruppen. Die können sozusagen nach nach Regionen, nach Zeitraum, nach Verurteilungsgrund, nach Geschlecht, nach Beruf und so weiter und so weiter. Wir erarbeiten praktisch ein Tool mit dem andere weiterarbeiten.
Dagmar Hovestädt: Vielleicht so soziologische, historische, psychologische Fragestellungen und ganz unterschiedliche Fragestellungen an Datenmaterial stecken können ne? Das ist tatsächlich doch eigentlich verblüffenden und 30 Jahre sind wir jetzt schon hinter der DDR und eigentlich haben wir immer noch keine tatsächliche Zahl. Ich habe mir das immer so ein bisschen abgeleitet aus der doch belastbaren Zahl der frei gekauften Menschen. Davon sind nicht alle unbedingt politische Häftlinge, aber doch ein ziemlich großer Anteil, das war eine für mich gesicherte Größenordnung 31.000 politische Häftlinge wurden freigekauft und dann ja und dann hat man so eine Größenordnung von 250.000?
Michael Schäbitz: Also das ist jetzt nicht eine bloße Schätzung, sondern da haben sich schon Leute mit den mit den Gefangenenzahlen der DDR beschäftigt und mit prozentualen Anteilen von politischer Haft in die man halt für einzelne Jahrgänge vielleicht zählen kann, aber wenn sie sagen Häftlingsfreikauf... der hat ja erst 1963 begonnen. Davor lagen ja 14 Jahre, die zu den schlimmsten Jahren der Repression und der massenhaften politische Verfolgung gehört haben und die Zahlen sind einfach... solange nicht jemand mal wirklich mit dem vorhandenen Datenmaterial arbeitet, sind das halt Schätzungen. Also eines der großen Probleme an denen wir arbeiten ist: Wer ist eigentlich politischer Häftling? Und das ist natürlich umstritten und das wird auch weiter umstritten bleiben. Das wird auch unser unser Projekt nicht lösen, weil das einfach eine unterschiedliche Einschätzung geben kann, was ein politischer Häftling ist.
Dagmar Hovestädt: Aber Sie müssen es ja definieren, sonst können Sie nicht zählen, wenn ich es nicht definiere, dann kann ich ja keine Datenmengen bilden.
Michael Schäbitz: Wir müssen es definieren und haben da mit dem Problem zu kämpfen, dass in der DDR sehr viel, also in den 50er Jahren, aber auch den 70er und 80er Jahren, Menschen kriminalisiert wurden, die man eigentlich politisch verfolgt hat. Also die wurden nach Paragraphen verurteilt nach denen auch Personen, die der allgemeinen Kriminalität zuzurechnen sind, verurteilt worden und daher hat man das Problem herausfinden zu müssen, wie groß der Anteil derjenigen war, die aus politischen Gründen tatsächlich verurteilt worden.
Dagmar Hovestädt: Das ist ja sehr kompliziert, oder das verlangt ja quasi eine Einzelfallprüfung.
Michael Schäbitz: Na ja also das ist bei diesen großen Datenmengen natürlich nicht möglich eine Einzelfallprüfung zu machen, aber wir haben für die 70er/ 80er Jahre zwei Paragraphen § 249 asoziales Verhalten und § 215 Rowdytum, wo wir sehr viele Fälle haben und wo wir auch wissen, dass damit politischer Verfolgung betrieben worden ist. Wir wissen aber nicht wie viel und das Ziel ist es die erst einmal zu erfassen, diejenigen die nach diesem Paragraphen verurteilt worden sind und dann durch eine statistisch valide Tiefenprüfung sagen zu können: 30 Prozent der Nachfrage auf § 249 Verurteilten sind eindeutig politisch verfolgt und dann kann ich natürlich kann ich es nicht sozusagen auf den Einzelnen zurückführen, aber ich kann kann zumindest eine Zahl nennen.
Dagmar Hovestädt: Das heißt also man kann im Strafrechtskatalog bestimmte Paragraphen herauskristallisieren, die sich so ein bisschen mehr eigenen politisch gebraucht zu werden und kann dann das ein bisschen statistisch berechnen. Um zu sehen wie viele Anteile davon wirklich einfach nur politisch motiviert waren. Gab es dafür denn sogar Dokumente vielleicht vom MfS oder der SED, die gesagt haben, so diese Paragraphen eignen sich besonders politische Verfolgung nicht nach politischer Verfolgung aussehen zu lassen?
Michael Schäbitz: Da gibt es eine Stasi-Anweisung, wie man zum Beispiel hartnäckige Ausreisewillige oder Übersiedlungsersuchende, wie die Stasi es genannt hat, wie man die kriminalisiert und da gibt es also § 214 Beeinträchtigungen staatlicher oder gesellschaftliche Tätigkeit zum Beispiel, das ist der Klassiker, nach denen diese hartnäckigen Übersiedlungsersuchenden.
Dagmar Hovestädt: "Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit."
Michael Schäbitz: Die haben sozusagen irgendwelche Plakate an ihren Fenstern angebracht oder haben sich durch weiße Fähnchen gekennzeichnet oder sind praktisch bei den Behörden sehr aggressiv aufgetreten und haben gesagt: "Wenn ihr das und das nicht macht, dann... Also wenn mein Ausreiseantrag nicht bewilligt wird, dann mache ich das und das."
Dagmar Hovestädt: Was ja eine Drohung ist oder ein Fähnchen ist ja nur eine Fahne, dass dadurch beeinträchtigt wird, liegt an dem Auge des staatlichen Ermessen.
Michael Schäbitz: Ja gut, aber sie sind halt ganz gezielt kriminalisiert worden und dafür hat man bestimmte Paragraphen genutzt und die Stasi hat ein Katalog aufgestellt, wie man das machen kann und was mir auch sehr am Herzen liegt, sind diese 50er Jahre, weil da gab es wirklich massive Repressionen und gerade über die das ganze Wirtschaftsstrafrecht hat man praktisch das sozialistische Projekt durchgesetzt, indem man massenweise Leute kriminalisiert hat und dann um sie enteignen zu können. Also es hat zwei Effekte einmal sozusagen wurden sie kriminalisiert und wenn sie bestraft wurden, konnte man sie enteignen und der andere Effekt war das ganz viele eben geflohen sind und ihre kleinen Unternehmen oder Landwirtschaft, Hotels, Pensionen, Gaststätten und so weiter und so weiter, dass diese an den Staat fielen und damit hat man praktisch den Umbau über die politische Justiz vorangetrieben. Als der Sozialismusprojekt ist massiv durch die politische Justiz vorangetrieben worden und da gibt es natürlich Zahlen wie viele dann wieder entlassen worden sind, als man nicht ganz so repressiv war, aber die genauen Zahlen kennen wir bisher nicht.
Dagmar Hovestädt: Auch bei mir jetzt, merke ich gerade, man hängt so ein bisschen stärker daran, was heißt politische Repression, man wird irgendwann ins Visier genommen, verhaftet, landet im Knast,dann ist sozusagen die politische Repression relativ simpel definiert, aber natürlich ist es eine politische Verfolgung, wenn einem Haus und Hof genommen wird und man aus dem Land verschwindet, ohne dass man irgendwo eine Entschädigung oder eine Wahrnehmung der Rechte auch am Eigentum zum Beispiel erfährt.
Michael Schäbitz: Es geht jetzt nicht um den klassischen Oppositionellen, der verhaftet wird und dann im Urteil steht, dass er sich gegen die Staatsordnung ausgesprochen hat. Um die geht es natürlich auch, aber für uns ist das eine viel breitere Begriff. Uns geht es um politische Verfolgung. Also um das staatliche Handeln das eine politische Intention hat, die über das normale rechtsstaatliche Verständnis von Justiz weit hinausgeht.
Dagmar Hovestädt: Aber den Aspekt der Justiz muss es nämlich schon haben, weil die die Repressionen, die Verfolgung ist sehr vielfältig das Versagen von Zugang zu Universitäten oder Lebensläufe, die sich nicht so entfalten können, wie man das selber eigentlich möchte und wie ein Staat das auch gewähren sollte, dass ein Mensch sich individuell zu entwickeln darf, sondern es ist schon festgemacht an der Dokumentation im Justiz-Apparat auch um vielleicht eine Datenmenge herzustellen.
Michael Schäbitz: Ja so wir haben uns entschieden um auch um das auch abzugrenzen oder um es einzugrenzen und ums überhaupt operationabel zu machen, dass wir wirklich uns auf politischer Haft wir beschränken. Also das ist Untersuchungshaft als auch Strafhaft und alles andere ist nicht Teil unseres Projekt. Teil unseres Projektes ist natürlich die politische Verfolgung in der DDR, aber man muss so ein Projekt auch eingrenzen sonst zerfasert es am Ende.
Dagmar Hovestädt: Und man muss auch noch ein paar Fragen für die übrig lassen, die danach kommen und die nächste Frage dann beantworten wollen. Aber jetzt konkret sozusagen wie soll man sich das vorstellen? Was genau zählt zur politischen Haft und wie kann man die dann in den Dokumenten finden und wie wird daraus ein Datensatz?
Michael Schäbitz: Wir haben aus der Literatur und aus den Unterlagen die in Hohenschönhausen schon vorhanden sind einen Katalog von Paragraphen und Gesetzen erarbeitet, die nach dem jetzigen Kenntnisstand, also Forschungsstand, häufig und immer wieder zur politischen Verfolgung benutzt worden sind.
Dagmar Hovestädt: Das heißt die Definition sind die Strafrechtsparagraphen.
Michael Schäbitz: Genau. Wir mussten uns überlegen wie wir uns dem nähern und in den Unterlagen findet man eben die Verurteilung nach Paragraph so und so und das ist dann sozusagen der Anhaltspunkt für uns jemanden erst mal in die Datenbank aufzunehmen und, also mit den vorhandenen Daten, dann wird sozusagen also gibt es in diesem Katalog Paragraphen, die sind in der Regel, also fast immer politisch verwendet worden, die würden wir einfach so übernehmen und würden sagen: Okay nach diesem Paragraphen wissen wir, das ist sozusagen in dem mit wenigen Ausnahmen abgesehen, das ist politischer Verfolgung, also für uns zum Beispiel Paragraph 213 Republikflucht. Da ist eine klare Verfolgungsintention des Staates dahinter, Republik verhindern, Republikflüchtlinge bestrafen, hat natürlich damit zu tun, dass das praktisch die Existenz der DDR in Frage stellt und das Selbstverständnis als Staat und das ist für uns zumindest ein klarer politischer Paragraph und die würden wir praktisch eins zu eins zählen.
Dagmar Hovestädt: Es gibt Strafrechtsparagraphen, die kann man in den Unterlagen ja wiederfinden. Auch da sollte das ja so aussehen, als hätte man ordnungsgemäß anhand von Strafrechtsparagraphen strafbare Handlungen sanktioniert oder verfolgt. Und da kann man das rausziehen, aus den Unterlagen des MfS beispielsweise.
Michael Schäbitz: Ich meine, wir werden in der Regel zunächst mit Karteikarten arbeiten. Also der erste Bestand, den wir im Moment bearbeiten, ist halt eine Karteikarte. Die ist von der HA IX, also der Untersuchungsabteilung des MfS, geführt worden. Das sind im Prinzip kurze Zusammenfassungen ihrer Ermittlungsunterlagen. Die haben sie wahrscheinlich für ihre eigenen Zwecke, um schnellen Zugriff auf ihre eigenen Ermittlungen zu haben und damit sie nicht immer die großen Akten ziehen müssen, haben sie das praktisch auf- -
Dagmar Hovestädt: Aha, also praktisch so ein Substrat auf einer DIN A4 Karteikarte, ne? Also, wo sie sozusagen den gesamten Untersuchungsvorgang – Ermittlungen, Beweismittel, Paragraphen und Personen dazu – kurz zusammengefasst haben. Damit hat man ein gutes Datum, weil konzentriert die wesentlichen Punkte von so einem Fall da drauf stehen, ne.
Michael Schäbitz: Genau, also bei so einer Erfassung von Massendaten muss man einfach auch sehen, dass man das irgendwie effektiv macht und da bieten sich diese Karteikarten an. Und da ist bei diesen Karteikarten der Vorteil, dass hinten noch eine Beschreibung der Tat aus Sicht der Stasi drauf steht.
Dagmar Hovestädt: Ah!
Michael Schäbitz: Das ist so eine Zusammenfassung in zum Teil nur zwei, drei Sätzen, aber zum Teil auch eine ganze DIN A4-Seite, wo eben zusammengefasst wird, was diese Person gemacht hat. Daran glauben wir dann in der Masse auch erkennen zu können und dass wir diesen Paragraphenkatalog auch noch mal schärfen können.
Dagmar Hovestädt: Hmhm.
Michael Schäbitz: Anhand der Unterlagen, die wir untersuchen. Dass man eben sehen kann: in der Tat, § 214 ist immer oder zu 90% politisch verwendet worden.
Dagmar Hovestädt: Das heißt, diese Kurzbeschreibung lässt durchscheinen, was die Stasi denkt was hier eigentlich das Delikt war versus den offiziellen, was der Paragraph sagt?
Michael Schäbitz: Das sind interne Unterlagen, die sie für ihre eigenen Zwecke haben wollten. Insofern wird da relativ klar ihre eigene Sicht sein. Also, dass man natürlich quellenkritisch mit den Sachen umgehen muss ist klar.Also zum Beispiel die Karteikarte zu Werner Teske, einem zu Tode verurteilten und hingerichteten MfS-Mitarbeiter, enthält als Urteil nicht die Todesstrafe sondern lebenslänglich. Also da haben sie sich tatsächlich selber belogen, aus welchen Gründen auch immer.
Dagmar Hovestädt: Ich glaube, wir haben 66.000 Karteikarten in dieser Untersuchungsabteilung, die digitalisiert werden vom Projekt und dann werden alle Daten, die von und hinten drauf stehen, quasi so versucht zu kodifizieren, dass sie in einer Datenbank abgreifbar sind.Also erst mal intern im Projekt. Klar, Stasi-Unterlagen-Archiv: Wir müssen ja die Personendaten nach Stasi-Unterlagen-Gesetz schützen. Niemand hat dem unbedingt zugestimmt. Aber die sind im Zweifelsfalle ja auch nicht entscheidend, sondern entscheidend sind eben die Paragraphen, vielleicht die Jahre der Geburt, die Verurteilung, Geschlecht, wo die herkommen – all die Daten, die Sie vorher genannt haben, die kann man ja auch ohne Personenbezug erst mal sozusagen abstrahieren und damit arbeiten.
Michael Schäbitz: Also wir müssen natürlich den Datenschutz beachten und alle Mitarbeiter im Projekt sind auch nochmal nach Stasi-Unterlagen-Gesetz verpflichtet. Das heißt, wir dürfen diese Namen nicht öffentlich machen und das machen wir natürlich auch nicht und wollen wir natürlich auch nicht machen.Es gibt da Ausnahmen: Also, wenn die Leute schon 100 Jahre Tod sind - äh, Quatsch. Wenn sie 30 Jahre Tod sind.
Dagmar Hovestädt: Oder 110 Jahre nach Geburt.
Michael Schäbitz: Inzwischen sind es 100 Jahre nach Geburt.
Dagmar Hovestädt: Ah, gut okay.
Michael Schäbitz: Beziehungsweise wenn sie Personen der Zeitgeschichte sind, beziehungsweise wenn sie uns eine Genehmigung gegeben haben.
Dagmar Hovestädt: Ja oder eben Werner Teske zum Beispiel. Sowas ist ein zeithistorisch Bekannter.
Michael Schäbitz: Werner Teske ist eine Person der Zeitgeschichte.
Dagmar Hovestädt: Mhmh, genau.
Michael Schäbitz: Für die große Masse trifft das nicht zu. Wir wollen auch nicht die Namen veröffentlichen, aber wenn man jetzt weitergehende Forschung machen will, braucht man die Namen natürlich. Also wenn ich mir jetzt angucken will: wer wurde nach § 214 verurteilt und ich will herausfinden, ob die jetzt wirklich alle politisch waren. Dann muss ich natürlich die Namen wissen, um mir die Urteile angucken zu können.Aber das ist der interne wissenschaftliche Gebrauch und der ist auch nach Datenschutzgrundverordnung und nach StUG auch möglich. Aber natürlich werden wir das nicht veröffentlichen. Also, wir werden die Namen nicht veröffentlichen.
Dagmar Hovestädt: Nee, aber das Ziel ist ja erst mal, die Daten überhaupt in eine elektronische Form zu bringen und dann mit der Menge auch arbeiten zu können. Und im spezifischen kann man dann auch wieder als Forscher einen Antrag stellen und dann gelten die ganz normalen Regularien, wenn man hier nach StUG arbeitet.Und es ist aber nicht die einzige Kartei, ne. 66.000 wäre zwar viel – [dreimaliges, leises Piepsen im Hintergrund] - jetzt klingelt grad mein Telefon. [Michael Schäbitz schnaubt belustigt] Das muss ich mal kurz ausstellen. [kurzes Telefonklingeln, Stille, Dagmar Hovestädt lacht] Kann man mal sehen. Ich stelle mal kurz den Filter ein hier. Na, will er nicht? [weibliche Computerstimme: Ihre Eingabe- -] So.Aber das ist tatsächlich nicht die einzige Kartei, die dafür ausreicht. Obwohl 66.000 – da kann man ja davon ausgehen, das sind 66.000 Fälle, die dahinter stecken. Oder auch noch mehr Namen.
Michael Schäbitz: Also, in diesen 66.000 sind zum Beispiel auch die drin, die bei Reisen im Westen geblieben sind. Also denen die Stasi gar nicht habhaft geworden ist oder in den seltensten Fällen, also nur wenn sie zurückgekommen sind. Insofern werden wir sie erfassen als Fotos, werden sie aber nicht in die Datenbank aufnehmen.Für uns ist das Kriterium für die Datenbank die Haft und vermutlich waren etwa 60.000 in U-Haft. Also, da geht es jetzt erst mal um U-Haft, aber auf den Karteikarten sind auch die Verurteilungen zu Strafhaft vermerkt. Teilweise wo sie hingekommen sind, in welche Haftanstalt. Bis dahin. Die Amnestierungen sind vermerkt und auch die Entlassungen bei Freikauf in den Westen.
Dagmar Hovestädt: Oder auch die Entlassung aus der U-Haft direkt in die DDR, ne. Ist ja nicht jeder aus der U-Haft in die Strafhaft gekommen.
Michael Schäbitz: Ja, natürlich. Auch dann, wenn die Ermittlungen eingestellt worden sind. Für uns ist aber das Kriterium "Haft". Dann werden sie in die Datenbank aufgenommen. Sofern sie in U-Haft waren, werden sie in die Datenhaft- - äh!
Dagmar Hovestädt: Werden sie in Datenhaft genommen. [lacht]
Michael Schäbitz: Werden sie in Datenhaft genommen, werden sie in die Datenbank aufgenommen. Wenn sie das nach einem politischen Paragraphen waren, dann zählen sie sozusagen auch zu denen.Man muss dazu sagen: Am Ende werden wir nicht eine große Zahl haben, sondern wir werden das nach Kategorien unterteilen. Man kann es natürlich am Ende dann zu einer großen Zahl zusammenfassen, aber wir werden sagen können: soundso viele sind nach § 213 verurteilt worden, soundso viele nach anderen Paragraphen.
Dagmar Hovestädt: Soundso viele haben in U-Haft gesessen, soundso viele haben von denen aus U-Haft dann wieder in Strafhaft gesessen; frühzeitig entlassen oder freigekauft, ne. Also das wird sozusagen doch ein etwas mosaikartigeres Bild werden.
Michael Schäbitz: Es wird ein eher mosaikartigeres Bild und es ist am Ende doch ein wenig komplizierter als nur die reine Verurteilung. Weil wir auch sehen müssen, dass vielfach Verurteilungen zustande kamen, auch wo sozusagen die verwendeten Mittel nicht rechtsstaatlich waren. Also das, was in Stasi-U-Haft häufig passiert ist, die Isolation, der psychologische Druck, die Erpressung, die Drohungen die da erfolgt sind und so weiter. In den 50er Jahren bis hin zur Folter, also physischer Gewalt, massiver physischer Gewalt – die in der Zeit eher die Regel waren als die Ausnahme bis Mitte der 50er Jahre. Das sind ja alles sozusagen erpresste Geständnisse und wir haben Beispiele auch in den 70er und 80er Jahren, dass aus völlig Unschuldigen wirklich am Ende auch Geständnisse erpresst wurden. Was einfach zeigt, mit welchen Methoden da gearbeitet worden ist.Und deshalb ist sozusagen ein weiteres Kriterium für uns natürlich, ob das Verfahren rechtsstaatlich war und wir würden auch diese Personen als "politisch Verfolgte" aufnehmen. Selbst wenn sie Straftaten begangen haben, aber der Weg der Straffindung und der Strafzumessung, also der Weg hin zur Verurteilung kein rechtsstaatliches Verfahren war, dann ist das für uns auch ein Kriterium für jemanden, der politisch verfolgt worden ist.
Dagmar Hovestädt: Rechtsstaatlich gemessen an dem, was die DDR für rechtsstaatlich hielt oder gemessen an dem, was man nach heutigen Grundsätzen für rechtsstaatlich hält?
Michael Schäbitz: Also, ich meine Folter ist auch nach DDR-Rechten kein rechtsstaatliches Kriterium. Insofern machen wir das erst mal an der DDR-Gesetzgebung fest, natürlich. Aber im Grunde ein abstraktes rechtsstaatliches Verständnis. Auch in den 50er Jahren gab es Prozesse, wo die Verurteilten keinen Rechtsanwalt hatten.
Dagmar Hovestädt: Ja, sowas.
Michael Schäbitz: Das war auch damals nicht rechtens.Es kommt noch ein drittes Kriterium hinzu: In vielen Fällen ist in der DDR ein Strafmaß verwendet worden, das völlig unverhältnismäßig ist. Ich komme immer wieder auf die 50er Jahre zu sprechen, aber da gab es das sogenannte Gesetz zum Schutz des Volkseigentums, das Volkseigentumsschutzgesetz. Danach wurden Bagatelldelikte mit horrenden Strafen belegt. Auch mit einer politischen Intention einfach. Die wollten die Leute erziehen.
Dagmar Hovestädt: Abschreckende Wirkung auch.
Michael Schäbitz: Abschreckung. Ja gut, abschreckende Wirkung soll ja jedes Strafgesetz haben. Also jedes Strafgesetz zielt ja darauf ab, abschreckende Wirkung zu haben.
Dagmar Hovestädt: Aber wenn ich es politisiere und das Bagatelldelikt mit einer massiven Strafe belege, dann will ich auch normales oder mir zustehendes Verhalten quasi weithin sichtbar als verfolgbar definieren. Das hat schon nochmal erzieherische Wirkung in dem Sinne, ne.
Michael Schäbitz: Genau. Aber sozusagen über das normale Maß hinaus mit einer politischen Intension. Man wollte den sozialistischen Menschen und der darf da halt dann nicht zwei Schachteln Zigaretten aus dem Konsum klauen, dann hat er dafür 1 Jahr Zuchthaus bekommen. Was ja eine völlig überdimensionierte, unverhältnismäßige Strafe ist.Und das ist politische Verfolgung.
Dagmar Hovestädt: Okay.
Michael Schäbitz: Es heißt also, wenn man sich ernsthaft mit diesen Dingen beschäftigt, wird es natürlich kompliziert und man muss differenzieren. Nichts desto trotz sind wir der Meinung, dass wir Kriterien entwickelt können, nach denen wir politische Haft definieren können. Was aber nicht bedeutet – aber das ist immer so in der Wissenschaft – dass nicht andere Wissenschaftler eine andere Position haben. Aber man muss dazu sagen, diese Datenbank bietet dann eben auch die Möglichkeit, das eben anders auszurechnen.Das ist ja eben das. Wir zählen ja nicht anonyme Akten sondern wir haben dann eine Datenbank, wo sehr viele Informationen drinstehen und mit diesen oder anhand dieser Informationen kann man dann auch seine eigene Meinung und seine eigene Definition bilden; was politische Haft der DDR war.
Dagmar Hovestädt: Und wie weit sind wir jetzt? Oder wie weit sind Sie jetzt mit der Digitalisierung? Und ist mit den MfS-Karteikarten schon der Datensatz komplett?
Michael Schäbitz: Wir haben gerade angefangen und waren mitten in der Optimierungsphase unseres Prozesses, als wir Corona bedingt aufhören mussten zu arbeiten.Also, wir sind sehr weit bei diesem genannten Paragraphen-Katalog. Also wir wissen ziemlich genau, welche Paragraphen und Gesetze verwendet worden sind. Wir haben dazu zu jedem einzelnen Paragraphen eine Untersuchung gemacht, unsere Einschätzungen und haben das auch mit dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz abgeglichen und so weiter. Also da sind wir relativ weit.Was die Digitalisierung betrifft und die Datenerfassung sind wir am Anfang und leider im Moment sozusagen- -
Dagmar Hovestädt: Ein bisschen gehandicapt?
Michael Schäbitz: Ein bisschen? Na ja. Also massiv gehandicapt.
Dagmar Hovestädt: [lacht] Die Kollegen versuchen, glaube ich, den Publikumsverkehr auch wieder zu beginnen und vielleicht auch da die entsprechenden Auflagen zu finden. Sie sind ja bei uns im Archiv und haben da eine kleine Digitalisierungsstrecke aufgebaut. Also um einfach zu gucken, dass die Abstände gewahrt sind, dass die regelmäßig desinfiziert sind. Das ist ja heutzutage das übliche. Aber Karteikarten mögen es nicht so gerne, desinfiziert zu werden [lacht] insofern ist das glaube ich noch nicht so. Deswegen muss da noch ein wenig extra darüber nachgedacht werden, wie man das auf die Reihe kriegt.
Michael Schäbitz: Ja, das ist ja auch völlig okay. Es ist ja nicht so, dass wir uns jetzt langweilen. Wir haben durchaus zu tun. [lacht]
Dagmar Hovestädt: Aber es gibt doch noch eine zweite Kartei, dachte ich, ne?
Michael Schäbitz: Genau, das spannende ist dann die zweite Kartei und das ist ein Bestand im Bundesarchiv. Das ist die Gefangenenkartei des Ministeriums des Innern der DDR von 1950 bis 1989. Und das sind also sämtliche Personen die in der DDR in Strafhaft waren. Das sind 835.291 Karteikarten [Dagmar Hovestädt lacht] und nach Aussagen der Kollegen im Bundesarchiv sind die vollständig. Diese Karteikarten enthalten weniger Informationen als die Karteikarten, die wir jetzt bearbeiten. Aber sie umfassen den ganzen Zeitraum und sie haben den Straftatbestand.
Dagmar Hovestädt: Also die Kongruenz ist in den Paragraphen, richtig?
Michael Schäbitz: Genau.
Dagmar Hovestädt: Also den Paragraphen-Katalog, den Sie jetzt sozusagen definiert haben, den Sie anlegen an die MfS-U-Haft – und das haben wir noch gar nicht erwähnt – die sind nur von '62 bis '89, richtig?
Michael Schäbitz: Genau, die vom MfS sind nur von '62 bis '89.
Dagmar Hovestädt: Aber da kriegt man sozusagen die Brücke dann zu den kompletten Haftkarteikarten aus dem MdI, Ministerium des Innern, in dem die Paragraphen sozusagen abgeglichen werden könnten. Sie würden dann aus diesen 835.000 plus dann die entsprechenden Paragraphen nur rausziehen?
Michael Schäbitz: Genau, wir werden die nicht alle in die Datenbank aufnehmen.
Dagmar Hovestädt: Aha, okay.
Michael Schäbitz: Sondern nur, wenn sie bei unserem Paragraphen-Katalog auftauchen. Also "staatsfeindliche Hetze", "Republikflucht" – also nur die werden aufgenommen. Und das ist gerade für die 50er Jahre extrem spannend, weil eben da diese vielen Wirtschaftsstrafbestände verwendet wurden. Dann aber natürlich die Verfolgung von Religionsgemeinschaften, Zeugen Jehovas, massenweise angebliche Spionage oder auch tatsächliche Spionage.
Dagmar Hovestädt: Ja, frühe 50er. Genau.
Michael Schäbitz: Und so weiter und so weiter. Also das geht aber dann bis dahinein, dass wir sozusagen auch noch das alliierte Strafrecht, was dann in der SBZ DDR eben auch massenweise für politischer Verfolgung benutzt worden ist. In vielen Fällen war es zur Verfolgung von Nazi-Kriegsverbrechern, also Nazi-Verbrechen, wurden diese Paragraphen missbraucht um politisch zu verfolgen.
Dagmar Hovestädt: Um jemanden als NS-Verbrecher zu diffamieren, der eigentlich politisch unliebsam war.
Michael Schäbitz: Ja ja, nicht nur. Es ging dann tatsächlich auch darum, wer praktisch die DDR ablehnte. Der war ein Feind des Friedens. Und damit konnte er als Friedensfeind und damit sozusagen als "Kriegstreiber" verurteilt werden. Also es waren ganz abstruse Konstruktionen, die da gewählt wurden, um sie dann quasi als Nazi zu verurteilen. Es ging gar nicht darum, was sie in der Nazi-Zeit gemacht haben. Sondern es ging darum, sie als Feind der DDR und des Sozialismus zu brandmarken und zu verurteilen.
Dagmar Hovestädt: Gibt es schon eine Vorstellung davon, wie viele von den 835.000 Karteikarten tatsächlich dem Katalog zuzuordnen sind?
Michael Schäbitz: Nee. Ich konnte mir mal ein paar angucken.
Dagmar Hovestädt: Mhmh.
Michael Schäbitz: Man muss dazu sagen, dass eine Karteikarte einer Person zugeordnet ist, dass eine Person aber ja auch mehrfach verurteilt werden konnte. Da hat man dann auch ganz viele Leute, die haben kriminelle Straftaten begangen und dann ist halt sozusagen eine Verurteilung wegen "Republikflucht" oder "versuchter Republikflucht".
Dagmar Hovestädt: Ah. Ja, ja.
Michael Schäbitz: Und dann interessieren uns die anderen Straftaten nicht, aber das ist sozusagen ja etwas, das wir suchen.
Dagmar Hovestädt: Ah! Aber es wird immer wieder nur auf einer Karteikarte vermerkt? Also, es bleibt tatsächlich bei der einen Person? Wenn es da, was weiß ich, Diebstähle gibt oder was auch immer,ein Auto geklaut und dann kommt die "Republikflucht" – das ist alles auf einer Karteikarte?
Michael Schäbitz: Das ist alles auf einer.
Dagmar Hovestädt: Mhmh.
Michael Schäbitz: Es mag auch Leute geben, die irgendwie zwei Karteikarten haben.
Dagmar Hovestädt: Na ja, gut.
Michael Schäbitz: Aber in der Regel.
Dagmar Hovestädt: Aber man kann sich nicht vorstellen, was der Prozentsatz ist, ne? Also, wie viele dann sozusagen daraus gehen. Oder ist das schwer zu sagen.
Michael Schäbitz: Na das ist ja aber genau das, was wir sozusagen herausfinden wollen. [beide lachen]
Dagmar Hovestädt: Ja gut, genau.
Michael Schäbitz: Also, das muss man abwarten.
Dagmar Hovestädt: Alles klar.
Michael Schäbitz: Also, uns ist ja der Vorwurf gemacht worden, wir wollten einfach die Zahlen erhöhen. Was wir ja gar nicht wollen! Wir wollen ja sozusagen- -
Dagmar Hovestädt: Klarheiten schaffen.
Michael Schäbitz: Wir wollen Klarheit schaffen – endlich. Aber das Leben ist eben nicht so schwarz und weiß, wie man das gerne hätte, nech. Wir werden ganz viele Leute haben, die eben dem kriminellen Strafrecht zuzuordnen sind und die trotzdem in dem einen Fall oder manchmal haben sie auch zwei Mal versucht zu fliehen – zwei Mal sind sie eben auch politisch verfolgt. Wir haben ja auch keine moralischen Kriterien.
Dagmar Hovestädt: Ja und die Motivation?! Ja.
Michael Schäbitz: Da muss man einfach auch- -
Dagmar Hovestädt: Also die Perspektive ist: Was wollte der Staat? Nicht was wollte die Person!?
Michael Schäbitz: Genau. Das ist unsere Perspektive. Das wir da den Blick des Staates haben, nehmen wir sozusagen billigend in Kauf. Das ist dann so.Wir wollen auch keine Heldenverehrung. Das ist gar nicht unser Punkt. Wir wollen klären: Was hat die DDR mit den Leuten gemacht, die sie für ihre politischen Gegner gehalten hat?
Dagmar Hovestädt: Ja, genau. Aber ist ja auch einfacher, man kann ja nicht alles gleichzeitig bedienen. Das ist eine klare Position, das ist eine klare Definition. Daraus wird – das hört sich super spannend an – eine größere Datenmenge entstehen, aber das dauert jetzt noch. Wie lange ungefähr?
Michael Schäbitz: Also unser Projekt geht noch bis Ende 19- - äh, 2022.
Dagmar Hovestädt: Äh, ja. Zwei Jahre. Gute zwei Jahre noch. Zweieinhalb Jahre noch, ja.
Michael Schäbitz: Zweieinhalb Jahre noch. Ich fürchte, wir werden nicht ganz ans Ende kommen. Aber es gibt in diesen Forschungsverbünden noch die Möglichkeit, Projekte um zwei Jahre zu verlängern. Vielleicht kriegen wir nochmal eine Corona-Verlängerung.
Dagmar Hovestädt: Ja, so was.
Michael Schäbitz: Also wir hoffen, dass wir das im Rahmen dieses Projekts fertigstellen. Ansonsten kann man sich vorstellen, dass das eben durch eine andere Finanzierung auch fortgesetzt wird. Weil das ist wirklich – man betreibt ja Grundlagenforschung!
Dagmar Hovestädt: Genau,das ist ja so ein richtiger erster Meilenstein in dem Versuch der etwas konkreteren Beschreibung, nicht nur der Zahlen sondern auch der Qualität der politischen Verfolgung und damit einfach mal auch, ich sag mal durchaus zukunftsorientiert. Digitale Geschichtswissenschaften, digitale Geisteswissenschaften - da kann man sich auch anderer Meinung drüber sein, aber es ist ein Zweig, mit dem weiter auch Geschichte vermessen wird und auch einfach neue Ansätze möglich sind. Insofern ist so eine größere Datenbank, eine große Datensammlung zur politischen Verfolgung erstmal ein riesiger neuer erster Meilenstein. Also insofern.Super spannendes Projekt. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, das mal sehr ausführlich zu erklären. Dann wünsche ich erstmal alles Gute. Hoffe, dass wir das bald hinkriegen, dass Sie im Archiv wieder arbeiten können und dann bin ich gespannt, wenn es dann auch quasi erste Ergebnisse geben sogar könnte schon mal. Zumindest aus der einen Digitalisierung.
Michael Schäbitz: Sehr gern. Vielen Dank.
Dagmar Hovestädt: Ja, alles gut.
Und wie immer zum Abschluss der Podcastfolge ein kleines Hörbeispiel aus den Audio-Unterlagen im Stasi-Unterlagen-Archiv.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach. Ich kümmere mich mit meinen Kollegen um die Audio-Überlieferung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Und wir hören heute einen Ausschnitt aus einer Personenobservierung an einem Flugplatz. Da sind zwei Mitarbeiter zu hören, mit ihren Kommentaren, Zeitansagen, man hört auch den Auslöser einer Kamera. Es gibt davon auch Filmaufnahmen im Bestand. Das Band ist aus einer Akte von 1979. Es ist nur 5 Minuten lang und unser Ausschnitt heute ist knapp drei Minuten.
[MfS-Mitarbeiter:] ... 15 Uhr 30. Zwei weibliche Personen. Null drei aufgenommen. [Kameraklicken] 15 Uhr. 15 Uhr 32 [wiederholtes Kameraklicken] Person aufgetaucht. Beobachtet Flugplatz. Jetzt sind se weg. ... Geht hinter die Sträucher. Steht hinter den Sträuchern und beobachtet den Flugplatz. Ist von hier aus nicht einzusehen. ... 15.32.10 steht immer noch auf dem Bahnkörper und beobachtet den Fluplatz. [entferntes Geräusch eines startenden Flugzeugs] Person können nicht identifiziert werden. Stehen hinter den Bäumen. Ist aber die verdächtige Person. Will nicht erkannt werden. ... 15.32.50 bewegen sich, stehen immer noch am Bahnkörper ... Und blicken Richtung Flugplatz. 15.34 Stehen weiterhin auf den Schienen ... 15.35 verlassen die Schienen, kommen wieder Richtung [mehrfaches Kameraklicken und Filmtransport] ... 15 Uhr 35 und 16 Sekunden haben den Bahndamm verlassen und gehen wieder in Richtung OP 1.
[Outro]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."