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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ...ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Wir begrüßen Sie zur 39. Folge von 111 Kilometer Akten, dem offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs. Wir, das sind Dagmar Hovestädt, Leiterin der Abteilung Kommunikation und Wissen in diesem Archiv, und ich, Maximilian Schönherr, Radio-Journalist und intensiver Nutzer aller möglichen Audioarchive.
Dagmar Hovestädt: Wir hatten ursprünglich dieser Folge den Titel "Der verschlagene Mielke" gegeben, uns dann aber dazu entschieden, das dann doch ein bisschen breiter zu fassen, weil wir uns im Gespräch tatsächlich nämlich über die Anfänge des Ministeriums für Staatssicherheit austauschen und dass die Sowjets zunächst etwas gegen den später langjährigen Stasi-Ministers Erich Mielke hatten. Sie hielten Erich Mielke für "verschlagen". Warum, das wird im Gespräch dann klar.
Maximilian Schönherr: Und warum er trotz dieser Einschätzung der Sowjets Karriere machte, ist ein zentraler Punkt des Gespräches mit Roger Engelmann.
Dagmar Hovestädt: Roger Engelmann, mein Kollege aus unserem Forschungsbereich hier im Stasi-Unterlagen-Archiv, war schon Gast in Folge 33. Da er in Kürze in den Ruhestand geht, wollte ich von ihm wissen, was er als Forscher im Stasi-Unterlagen-Archiv in seinen fast 30 Jahren alles so erlebt hat, an welchen Themen er wie gearbeitet hat und was sich in der Forschungslandschaft über die Zeit verändert hat. Das hat dir, Maximilian, dann doch noch nicht gereicht?
Maximilian Schönherr: Ich sehe dein Augenzwinkern, wir sprechen ja wieder mal per Video-Konferenz. Das war ein für mich sehr aufschlussreiches Gespräch über das Arbeiten im Inneren dieses Archivs, das kenne ich ja praktisch überhaupt nicht, aber du kennst es halt gut. Wenn man sich intensiver mit der DDR- und Stasi-Geschichte beschäftigt, kommt man an einem Buch nicht vorbei, das Roger Engelmann zusammen mit Karl Wilhelm Fricke geschrieben hat. Es heißt "Konzentrierte Schläge – Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953-1956" und ist so gründlich recherchiert und gut lesbar, dass es mir den Blick in die Frühzeit der DDR erweitert hat, eigentlich von Null auf Hundert. Ich glaube, ich habe die 350 Seiten, wenn auch nicht am Stück, so doch in Happen, mehrfach komplett gelesen. Und durch dieses Buch wurde ich ein richtiger Fan von Roger Engelmann. Jetzt habe ich ihn endlich kennengelernt. Kennst du die Konzentrierte Schläge?
Dagmar Hovestädt: Den Titel kenne ich natürlich und auch worum es darin geht, aber ich habe mir noch nicht die Zeit genommen, das Buch mal in Ruhe zu lesen. Aber unser Gespräch jetzt macht mir doch viel Lust drauf. Wir sollten noch ein paar Worte zu Karl Wilhelm Fricke sagen, seinem Co-Autor. Fricke wurde 1955 als junger Journalist, der sehr kritisch über die DDR berichtete, aus West-Berlin in die DDR entführt, kam vor Gericht, und wurde dann zu vier Jahren Haft in Bautzen verurteilt. Nach der Entlassung 1959 in den Westen und ging er zum Deutschlandfunk. Hast Du ihn als Deutschlandfunkjournalist persönlich kennengelernt?
Maximilian Schönherr: Wäre eigentlich möglich gewesen, aber ich hatte vor allem in der Wissenschaftsredaktion zu tun im Deutschlandfunk und er war in der Politik. Ich wusste aber, dass er derjenige war, der eine wichtige Marke für den Deutschlandfunk erfunden hat, nämlich die Sendereihe Hintergrund. Ich habe ihn, als er schon längst nicht mehr in dem Haus arbeitete, ein paar Mal in seiner Wohnung besucht, die übrigens direkt hinter dem Funkhaus liegt. In der Wikipedia gibt es ein Foto, das ich von ihm gemacht habe und einige Dokumente seiner Gefangenschaft, die ich für die Wikipedia fotografieren durfte. Und ich habe als wir, also du und ich, diesen Podcast planten, Ende 2019, mit Frickes Tochter telefoniert, eine Augenärztin übrigens, da ging es Karl Wilhelm Fricke überhaupt nicht gut. Auch aktuell, er ist jetzt 92, konnte ich mit ihm nicht persönlich sprechen, aber seine Frau erzählte mir dieser Tage am Telefon, dass er neben ihr sitzt und beim Namen Roger Engelmann grüßend nickt.
Dagmar Hovestädt: In die Zeit der "Konzentrierten Schläge" gegen die tatsächlichen und vermeintlichen Zuträger zu westlichen Geheimdiensten in der DDR gehört der Aufstieg des "verschlagenen Mielke". Euer Gespräch reißt so einiges an Themen und Facetten der DDR-Geschichte an.
Maximilian Schönherr: Für mich ist so ein Gespräch wie ein Spaziergang durch einen komplex angelegten Garten. Die DDR-Geschichte ist dermaßen komplex, dass es mich reizt, mit einem kompetenten Gesprächspartner durch diesen Garten zu streifen. Und wir hatten ursprünglich auch über die Datenträger geredet, die am Ende der DDR wichtig werden, aber wir halten uns meistens ganz vorn auf, in den Anfangsjahren der DDR, die damals bei vielen im Westen noch "Ostzone" hieß und das Thema Datenträger kommt in einem anderen Podcast vor.
Dagmar Hovestädt: Im Kern ist euer Thema also die frühe DDR und die Frage danach, wie es eigentlich genau mit dem Ministerium für Staatssicherheit losging. Es geht also um den Einfluss der Sowjets, die Strafprozesse der 1950er Jahre und die Rolle des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, sowie den Aufstieg von Erich Mielke zum Minister für Staatssicherheit ab 1957. Und ihr beginnt gleich mit dem Buch zu den konzentrierten Schlägen.
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Maximilian Schönherr: Das ist das zweite Mal, dass Sie bei uns im Podcast auftauchen. Sie haben sehr lang in diesem Archiv gearbeitet als Wissenschaftler und die ersten Jahre hat Sie dieses Buch beschäftigt?
Dr. Roger Engelmann: Na ja.
Maximilian Schönherr: "Konzentrierte Schläge – Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953-1956", das muss ich hier erzählen, weil wir sind ja kein Fernsehen, von Karl Wilhelm Fricke und Roger Engelmann.
Dr. Roger Engelmann: Ja, also, das hat jetzt nicht ganz sofort, aber ich habe ja mit den 50er Jahren angefangen. Also mein Interessengebiet bezog sich auf die frühen Jahre der Staatssicherheit. Und das deckte sich so ein bisschen auch mit dem was Karl Wilhelm Fricke machte, der ja auch als erste Publikation bei uns diese Akteneinsicht gemacht hat, dieses Buch über die eigene Akte und die eigene Biographie. Also das ist praktische eine Auseinandersetzung sowohl mit der Aktenlage, als auch mit der eigenen Biographie und dem eigenen erleben und da ergab sich dieses Buch "Konzentrierte Schläge" in gewisser Weise fast automatisch heraus, weil nämlich da sozusagen der größere Kontext beleuchtet wird. Fricke war ja bei uns ständiger Gast. Er war, glaube ich, noch beim Deutschlandfunk tätig in der Zeit, aber er war auch schon so ein halber Mitarbeiter von uns und war öfters da und dann habe ich irgendwann mal diese Akte zur sogenannten Aktion Blitz gefunden. Und als ich die dann durchgelesen hatte, merkte ich, also die Entführung von Karl Wilhelm Fricke war ein Bestandteil dieser Aktion Blitz. Also taucht auch in den Planungen auf zu dieser Aktion und gehört dann auch zu den Entführungen, die auch wirklich durchgeführt worden sind, das sind ja sehr viel mehr Entführungen noch geplant worden, als dann im Endeffekt realisiert wurden.
Maximilian Schönherr: Sagen Sie gerade noch das Jahr in dem wir gerade sind?
Dr. Roger Engelmann: Na ja, also die Entführung wurde dann im Jahr 55 durchgeführt. Die Planung reichen zurück bis in das Jahr 54.
Maximilian Schönherr: Und Fricke war bass erstaunt, dass sie Blitz gefunden hatten?
Dr. Roger Engelmann: Ja, er kannte natürlich seine eigene Akte bereits, aber das ist eben dann doch ein Ausschnitt der Realität und da war dann eben der große Kontext dabei und dann haben wir halt beschlossen, dann schreiben wir jetzt mal über diese Phase, die das MfS selbst als die Phase der konzentrierten Schläge bezeichnet, also diese Massenverhaftungen, die sie damals durchgeführt hat oder diese demonstrativen Massenverhaftungen muss man dazu sagen. Viele Menschen verhaftet hat das MfS auch vorher schon, aber nach dem 17. Juni haben die Verantwortlichen, das waren die MfS-Führungen, das war die Führung des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes hier in Berlin und das war die SED. Die haben gemeinsam beschlossen, dass sie diese Repression sozusagen stärker an die große Glocke hängen wollen und das so richtig auch propagandistisch begleiten wollen. Und das nannten sie dann eben diese konzentrierten Schläge.
Maximilian Schönherr: Also, Ulbricht, der Chef der DDR damals, frühe 50er Jahre, der sagte ihr verhaftet zu wenig Leute, das hat er so gesagt. Das habe ich in Ihrem Buch gelesen.
Dr. Roger Engelmann: Ja, genau. Das lag ein bisschen daran, dass die die Sowjets, die das MfS der ersten Jahre stark dominierten, der Ansicht waren, man solle die Agenten und Feinde nicht zu schnell verhaften, sondern man solle sie möglichst lange beobachten, weil wenn man sie kennt und beobachtet, dann sind ja sozusagen quasi unschädlich. Wenn man sie dann verhaftet, dann sind sie zwar weg, aber dann schicken uns die westlichen Agentenzentralen Neue und die kennen wir ja dann nicht. Das war so die Argumentationslinie der sowjetischen Berater und deswegen waren sie eigentlich der Ansicht und damals hatten sie auch in dem Politikbereich auch das sagen, da konnte Ulbricht anderer Meinung sein, das hat er aber keine Bedeutung, dass man da sehr zögerlich vorgehen sollte. Also zum Beispiel Elli Barczatis wurde ja ewig lang beobachtet, bevor sie dann auch erst 55, glaube ich wars, verhaftet wurde. Also das ist ganz typisch für das Vorgehen und Ulbricht hatte halt immer bisschen natürlich auch ein anderes Interesse. Er war der Mensch der verantwortlich war für die DDR und die DDR war nicht stabil und hatte Probleme, hatte ein Aderlass. Ja, 53 war ja auch ein Hochjahr der Fluchtbewegung auch schon und es gab viel politischen Widerspruch und es gab auch durchaus, das wird man nicht in Abrede stellen können, eine systematische antikommunistische Tätigkeit von diversen politischen Organisationen, teilweise auch von westlichen Nachrichtendiensten.
Maximilian Schönherr: Und vom RIAS.
Dr. Roger Engelmann: Der RIAS war ein Teil und wahrscheinlich der populärste.
Maximilian Schönherr: Das heißt Ulbricht hatte wirklich eine berechtigte Sorge, dass man die DDR klein macht von Westen her durch diese überbordende Propaganda und Infiltration. Es gab eine Zeit, wo ich in den O-Tönen der Gerichtsverhandlungen, die ich gehört habe, dauernd raus hört, wir werden infiltriert von Westagenten oder DDR-Leute die für den Gehlendienst angeworben wurden, die machen Druck auf uns, es gibt richtig viele und wir müssen deswegen hart durchgreifen.
Dr. Roger Engelmann: Es sollte natürlich abschrecken, also die Organisation Gehlen hatte natürlich schon relativ viele V-Leute in dieser Zeit.
Maximilian Schönherr: Das wissen wir nicht genau wie viele, aber immer wieder in den Akten taucht eben dieser Kontext auf.
Dr. Roger Engelmann: Na ja, ob das jetzt viele oder nicht so viele sind, ist immer Ansichtssache. Es ist vielleicht sogar vierstellig gewesen. Das MfS kannte natürlich auch nur ein Bruchteil der Agenten, aber die Nachrichtendienste, also die Organisation Gehlen und auch die westalliierten Nachrichtendienste, haben natürlich sehr systematisch Informationen gesammelt über V-Leute in der DDR. Und sie haben auch, was im nachrichtendienstlichen Jargon aktive Maßnahmen heißt, sie haben natürlich auch darüber hinaus agiert, also Propaganda gemacht, also teilweise direkt, teilweise indirekt über andere Organisation und dann gab es eben auch politische Organisationen also zum Beispiel die Ostbüros der bundesdeutschen Parteien. Also SPD hatte ein Ostbüro, die CDU hatte ein Ostbüro, die FDP. Die haben also auch in die DDR hineingewirkt. Hatten auch da ihre Ansprechpartner. Also die FDP hatte zum Beispiel in der LDPD, in ihrer Schwesterpartei, damals noch durchaus noch Leute die mit ihr sympathisieren und die ihr geholfen haben dabei Propagandamaterial, Informationsmaterial könnte man auch sagen, weiter zu verteilen und das hat sich dann häufig irgendwie auch gemischt mit nachrichtendienstlicher Tätigkeit. Die Personen, die mehr politisch aktiv sein wollten, haben da eigentlich immer eher Wert daraufgelegt, dass sie eben nicht ins nachrichtendienstliche Geschäft abrutschen, aber es gab immer die Tendenz, auch der Nachrichtendienste, diese politische Arbeit nachrichtendienstlich zu instrumentalisieren, das ist durchaus geschehen.
Maximilian Schönherr: Also jemand der irgendwas aus einem Betrieb, was sowieso jeder wusste, was auch öffentlich war, dem RIAS zuträgt, war dann quasi schon Agent. Also da gibt es den RIAS-Prozess.
Dr. Roger Engelmann: Ja, genau.
Maximilian Schönherr: Gehen wir mal zurück, weil Sie sich ja da auch sehr gut auskennen: Deutschland verliert den zweiten Weltkrieg, zum Glück. 1945 ist Berlin zerstört. Das ganze Land ist kaputt. Erstaunlicherweise ist ein Gebäude noch in Kriegszeiten, obwohl da Baustopp war, gebaut worden, nämlich das RIAS Funkhaus. Das wurde 1941 fertiggestellt, ich habe es gerade noch mal nachgelesen. Und da ist dann eben der RIAS eingezogen später, das war vorher ein Gebäude für eine Chemie-Firma, die eben staatstragend war, also rüstungswichtig, relevant war, deswegen hat man auch diesen Bau zugelassen. Da kommt jetzt gleich der RIAS rein. Aber wir sind in 1945. Es gibt vier Zonen im Deutschen Reich. Nannte man das noch Deutsches Reich? Denke schon. Und die eine ist eben die Sowjetzone und die einen eigenen Sender hat, den Berliner Rundfunk, wogegen der RIAS dann angesetzt wurde. Wie bildet sich nun ein Staatssicherheitsdienst heraus? Also wo liegen die Anfänge. Also in Mielkes Biographie wahrscheinlich nicht, weil er erst der dritte Mann in dem ganzen Laden war. Wo kann man die Anfänge vom MfS spüren?
Dr. Roger Engelmann: Na ja, das stimmt nicht ganz. Mielke war zwar, er musste lange warten bis er der erste Mann wird, aber er war zu allen Zeiten eigentlich die entscheidende Figur. Er war als Vizepräsident der deutschen Verwaltung des Inneren zuständig für den Aufbau des Apparates, der dann später der Staatssicherheitsapparat wurde.
Maximilian Schönherr: Schon 45? 46?
Dr. Roger Engelmann: Nein, nein, nicht vor 45, aber eben in den Jahren 48/ 49.
Maximilian Schönherr: Aber die Basis dafür haben die Sowjets gelegt?
Dr. Roger Engelmann: Na ja gut, die Sowjets hatten natürlich ihre eigenen geheimdienstlichen Strukturen, die auch zunächst dominant waren in der sowjetischen Besatzungszone, und da haben sie die deutsche Polizeidienststellen als Hilfspolizei natürlich in Anspruch genommen. Daraus entwickelt sich dann diese sogenannte K5, also der Bereich 5 der Kriminalpolizei, der so eine Art politische Polizei ist, aber im Grunde immer sehr eng angebunden war an die sowjetischen Vorgaben. Und das ist dann genau der Bereich, der sehr stark umgeformt wurde. Also da ist auch nur wirklich nur zehn Prozent des Personals aus der K5 in das MfS übernommen worden, weil die Sowjets absolut super kritisch waren, was das Personal angeht und mit dem K5 Personal nicht zufrieden waren, die waren ihnen kaderpolitisch zu unzuverlässig, haben dann also extra hunderte von Staatssicherheitsoffizieren nach Berlin entsandt, um bei der Kaderauswahl für den Aufbau des Staatssicherheitsapparats mitzuhelfen oder den zu überwachen und die Kaderauswahl in Wirklichkeit auch vorzunehmen, das wurde wirklich ganz eng von diesen sowjetischen Instruktoren gemacht.
Maximilian Schönherr: Das ist jetzt 1948 ungefähr?
Dr. Roger Engelmann: Ab 1948 geht das los. Dann im Laufe des Jahres 1949 entsteht dieser Apparat und wird dann mit Gründung der DDR auch als Hauptverwaltung zum Schutze der Volkswirtschaft im Ministerium des Inneren aus der Taufe gehoben. In Wirklichkeit gehörte dieser Apparat nie real zum MdI, das war immer ein eigener Apparat, der ganz unter der Ägide des Sowjets arbeitete.
Maximilian Schönherr: Wo war der physisch? Wo war das Gebäude?
Dr. Roger Engelmann: Das war-
Maximilian Schönherr: Nicht in Lichtenberg?
Dr. Roger Engelmann: Noch nicht, es war verteilt. Es gab in jedem Land auch schon eine Landesverwaltung oder Länderverwaltung, wie es eigentlich genannt wurde. In Berlin war es auf mehrere Liegenschaften verteilt. In Pankow waren die, glaube ich, überwiegend am Anfang. Sie sind dann allerdings relativ schnell nach Lichtenberg gegangen.
Maximilian Schönherr: Nicht in vorhandene Gebäude, sondern sie haben die gebaut erst?
Dr. Roger Engelmann: Na ja, nee, sie sind natürlich erst in vorhandene Gebäude und haben dann auch gebaut.
Maximilian Schönherr: Weil dieser Komplex ist sehr riesig und der entstand eben mit dem Wachstum des MfS quasi.
Dr. Roger Engelmann: Ja genau, aber dann eben erst später also im Wesentlichen in den 60er und 70er Jahren.
Maximilian Schönherr: Und MfS hatte mit dem Innenministerium nicht viel zu tun, weil es direkt an die SED spitze angekoppelt war?
Dr. Roger Engelmann: Also formal wurde es als Hauptverwaltung des Innenministeriums bezeichnet.
Maximilian Schönherr: Aber der Innenminister hatte keinen Einfluss.
Dr. Roger Engelmann: Der Innenminister hatte überhaupt keinen Einfluss auf das, was da passierte. Nicht einmal die SED hatte da großartigen Einfluss, das war wirklich eine Sache, die war völlig in der Hand des Bevollmächtigten des sowjetischen Sicherheitsorgans der in Karlshorst draußen saß.
Maximilian Schönherr: Es war noch nicht Zaisser oder Wollweber, sondern es war noch vorher?
Dr. Roger Engelmann: Na ja, deswegen komme ich ja auf die große Bedeutung von Mielke in diesem Zusammenhang, das war eben Erich Mielke als Vizepräsident für Allgemeines, so war sein Titel in der deutschen Verwaltung des Inneren, der diesen Apparat aufgebaut hat, obwohl ihm die Sowjets nicht trauten, weil die Sowjets hatten wohl gemerkt, dass er da seinen Lebenslauf so ein bisschen rumgeschönt hatte. Also er war ja da in Südfrankreich gewesen und da war er aus der Sicht der Sowjets jetzt nicht hundertprozentig ehrlich gewesen, deswegen haben sie ihm misstraut. Es gibt direkt die Aussage von einem dieser Bevollmächtigten des MGB, so hieß das sowjetische Sicherheitsorgan damals. Jewgeni Pitowranow, der eben sagte, dass er dem Mielke nicht traut. Er sei verschlagen und nicht ehrlich und es gebe unklare Punkte in seiner Biographie. Also, das war der Grund, warum er nicht Staatssicherheitsminister wurde, sondern Vize blieb, obwohl er der Macher war von Anfang an. Er war der, der das operative Geschäft und übrigens auch die Untersuchungstätigkeit, also die strafrechtliche Tätigkeit, des MfS in der Hand hatte. Wilhelm Zaisser, sein Chef, hat sich eigentlich mehr so um die allgemeinen Fragen und die Personalpolitik gekümmert.
Maximilian Schönherr: Und fand es gut, was Mielke unten drunter an Basisarbeit geleistet hat?
Dr. Roger Engelmann: Ja, ich meine, es war ihm wohl ganz recht. Wilhelm Zaisser war ja eigentlich vom Hintergrund kein Geheimpolizist, sondern er war eigentlich Militärexperte. Als solcher ist er von den Sowjets auch gehandelt worden und er war halt einer der Top Militärkader der Sowjetunion, der ausländischen gewesen und deswegen hatten sie hundertprozentiges Vertrauen zu ihm. Er hatte ja auch schon andere Auslandseinsätze gemacht. Er war in China gewesen im Auftrag der Sowjetunion. Es war nicht sein erster wichtiger Auftrag da den Minister für Staatssicherheit zu führen.
Maximilian Schönherr: Ok, Mielke war ja auch bei den Sowjets zuerst gewesen, dann ist er in den Bürgerkrieg nach Spanien gegangen, da war er sicherlich auf der Seite der Antifaschisten?
Dr. Roger Engelmann: Ja, ja.
Maximilian Schönherr: Und hat die Faschisten verhört auch schon, las ich in ihrem Buch. Das heißt, er hat sich eigentlich schon bewährt und dann ging er nach Südfrankreich. Da waren einige Sachen unklar und als er dann 1945 direkt nach Berlin zurückkam, hatte er zu Ulbricht gesagt: Da bin ich wieder. Und Ulbricht sagt: Super, dass du da bist. Und jetzt sage ich das frei formuliert aber nach ihrem Buch und das heißt, er hatte schon ein gutes Eintrittsticket direkt gehabt.
Dr. Roger Engelmann: Ja, also Ulbricht hat ihm wohl vertraut. Er hat ja auch immer im Gegensatz zu den jeweiligen Chefs, also Wilhelm Zaisser und Ernst Wollweber, mit denen ist Ulbricht nicht gut klargekommen. Mit Ernst Wollweber hat er sogar einen alten Zwist aus Zeiten der Weimarer Republik sogar am Laufen gehabt. Also das war nicht so einfach das Verhältnis. Das waren auch politisch auch andere Kaliber. Die konnten sich mit den sowjetischen Beratern im Rücken auch gegen Ulbricht durchsetzen. Wilhelm Zaisser hatte ja sogar in gewisser Weise so ein bisschen die Machtfrage gestellt. Als dann der neue Kurs im Juli 1953 ausgerufen wurde und das ist ihm dann schlecht bekommen. Als der Wind sich dann wieder ein bisschen gedreht hatte.
Maximilian Schönherr: Und in diese Lücke ist dann Mielke nach ganz oben gekommen?
Dr. Roger Engelmann: Also erst noch nicht, also Mielke dachte natürlich, er könnte jetzt vielleicht den Wilhelm Zaisser nachfolgen, aber die Sowjets haben eben auf Ernst Wollweber bestanden. Der war auch so ein alter NKWD Super-Agent gewesen in der Zeit vor 1945. Er hatte diese Sabotageunternehmen auf den Weltmeeren organisiert bzw. eher Nord- und Ostseebereich. Und er war so der Oberschiffssaboteur des NKWD, kann man sagen. Und als solcher war er wahrscheinlich auch sowjetischer Staatsbürger gewesen. Er hatte auch ein extrem enges Loyalitätsverhältnis zu den Sowjets und dem haben sie natürlich mehr getraut als dem Mielke, der da so ein komisches biografisches Intermezzo in Südfrankreich hatte, wo keiner genau wusste, was er gemacht hat.
Maximilian Schönherr: Wie kam Mielke dann nach oben? Was ist dann passiert?
Dr. Roger Engelmann: Na ja, nachdem es dann zum Konflikt zwischen Ulbricht und Wollweber gekommen ist, ist er sozusagen auf der Gunst von Ulbricht nach oben gespült worden. Der Dienstantritt von Erich Mielke im Herbst 1957 ist praktisch die Zäsur an der Walter Ulbricht wirklich die Staatssicherheitspolitik in seine Hände nimmt, da konnten dann selbst die sowjetischen Staatssicherheitsoffiziere, die immer gebremst haben, konnten dagegen nichts mehr machen. Das hängt damit zusammen, dass Ulbricht recht behalten hat, als er gewarnt hat vor den ungarischen Umtrieben. Also die dann eben in diesen Aufstand im Herbst 1956 geführt hatten, da konnte dann Ulbricht sagen: Ja, ich war der Einzige, der gewarnt hat damals und wir hätten damals keine Fehlerdiskussion machen sollen und überhaupt nicht solche komischen Leute da an die Macht lassen, die nicht genau wissen, was man machen muss in so einer machtpolitischen schwierigen Situation und das man da keine handbreiten Konzessionen machen darf und so weiter und sofort. Und dann war er enorm gestärkt, auch innerhalb des Ostblocks, und da konnte dann Chruschtschow ihm nicht mehr verwehren, dass er sagte: Okay, ich nehme politisch dieses Politikfeld auch in die eigene Hand und ich bestimme auch diesmal wirklich den Chef der Staatssicherheit selbst.
Maximilian Schönherr: Das heißt aber, dass die Sowjets - Stalin stirbt, dann kommt Chruschtschow - und es ist ein bisschen von Tauwetter die Rede, immer wieder - das spielte da keine Rolle, das war eine Kontinuität: den Mielke wollen wir eigentlich nicht. Der hat eine dubiose Vergangenheit, der gefällt uns nicht so gut wie Wollweber, den wir gerne behalten würden. Da hat die Chruschtschow-Übernahme der Macht in der Sowjetunion quasi nichts bewirkt?
Dr. Roger Engelmann: Na ja, der Chruschtschow mochte den Ulbricht ja auch nicht. Also so richtig warm sind die nie miteinander geworden.
Maximilian Schönherr: Und Stalin mochte Ulbricht schon?
Dr. Roger Engelmann: Ja, eher schon. Also es ist zumindest nicht - ich weiß nicht ob Stalin überhaupt jemanden mochte - aber es ist jedenfalls nicht kolportiert, dass er irgendeine Ulbricht-Abneigung hatte. Aber bei Chruschtschow ist das tatsächlich kolportiert. Dem war das nicht angenehm, dass Ulbricht Recht behalten hat 1956 und dadurch natürlich auch an Renommee gewonnen hat innerhalb des kommunistischen Lagers. Er hat den Wollweber richtig fallen lassen, das kann man daran ersehen, dass er zu seinem Sturz beigetragen hat, indem er dem Ulbricht bei einem Treffen in Moskau eine Indiskretion berichtet hat. Nämlich, dass Wollweber versucht hat in dieser Situation 56, wo es auch wieder in der SED Auseinandersetzungen gab im Politbüro - jetzt diesmal mit Herrnstadt vor allen Dingen - dass die Sowjets, so wird es kolportiert, zur Klärung der Lage beitragen sollen. Und das ist dann Wollweber vorgeworfen worden, dass er zugunsten seines Freundes Herrnstadt interveniert habe in Moskau. Und das wäre nicht nötig gewesen, dass Chruschtschow ihn so richtig demontiert mit dieser Indiskretion, hat er aber gemacht. Und das wird ja dann auch genüsslich auf einem ZK-Plenum diskutiert, dieser angebliche Putschversuch von Wollweber.
(Korrektur zur Aufnahme: Die an dieser Stelle gemeinte Person ist nicht Rudolf Herrnstadt, sondern Karl Schirdewan)
Maximilian Schönherr: Das ist alles 1957?
Dr. Roger Engelmann: Ja, 58. Das ragt dann ins Jahr 58 rein.
Maximilian Schönherr: 57 gab's noch eine interessante Entwicklung, steht auch in Ihrem Buch "Konzentrierte Schläge". Und zwar hat es mich ein wenig gewundert: Ulbricht forderte das MfS auf sich zu dezentralisieren, das heißt in die Provinz zu gehen. Damit schwächt man doch eigentlich Lichtenberg, wo der Chef saß, oder?
Dr. Roger Engelmann: Na ja, das ist ein wirklich durchgehend konstantes Anliegen von Ulbricht. Er hat das MfS als ein Organ angesehen, dass primär dazu da war, die interne Macht, die interne Herrschaft zu sichern. Während die Sowjets und auch Wollweber natürlich dann - weil für Wollweber das was die Sowjets sagten, das A und O war - der Ansicht war, dass man sehr viel Kraft in die Westspionage investieren sollte. Es gibt diesen berühmten Satz: Die Chefs der Bezirksverwaltung, 50 Prozent das Gesicht nach Westen. Das ist so ein Ausspruch von Wollweber, der dann kolportiert wird und der ihm dann auch immer vorgeworfen wird, dann auch vom Mielke und natürlich von Ulbricht ganz besonders, weil er dadurch, dass er so viel Kraft gebunden hat in die nachrichtendienstliche Tätigkeit im Westen, er sozusagen die Pflichten zur Herrschaftssicherung im Innern vernachlässigt habe. Das war auch sicherlich eine richtige Überzeugung von Ulbricht, das war für ihn immer Priorität, das andere war ihm nicht so wichtig. Bei den Sowjets war es genau umgekehrt. Die wollten wissen, welche Pläne die NATO hat und was die in Bonn da auskochen und das war für sie prioritär.
Maximilian Schönherr: Warum muss man aus einem Inlandsgeheimdienst, wie er sich so aufgebaut hat - wie wir das gerade besprochen haben - ein Ministerium machen?
Dr. Roger Engelmann: Na ja, im Ostblock gab's da verschiedene Modelle. Also, diese Staatssicherheitsapparate waren teilweise oder zeitweise eben eigene Ministerien oder sie waren irgendwie integriert ins jeweilige Innenministerium.
Maximilian Schönherr: Ja, aber das ist ein Unterschied, ne?
Dr. Roger Engelmann: Das ist ein Unterschied. Zum Beispiel in Polen war es, soviel ich weiß, nie selbständig, war immer Teil des Innenministeriums. Bei den Sowjets ging es immer hin und her - also als Teil des NKWD ist es ja, das ist Volkskommissariat für innere Angelegenheiten - also da war die Staatssicherheit sozusagen ein Teil davon. Dann wurde das ausgegründet, dann war es das NKGB, also das Volkskommissariat für Staatssicherheit und dann wurde es zum Ministerium, also MGB. Und dann, als Beria zurückkam, dann 53 nach dem Tod Stalins, wurde es wieder in das Innenministerium integriert, war also wieder Teil des erweiterten Innenministeriums und danach wurde es 54 wieder als KGB ausgegründet. Also, das ist selbst in der Sowjetunion ein ständiges Hin und Her.
Maximilian Schönherr: Aber in der DDR eben nicht?
Dr. Roger Engelmann: In der DDR nur in dieser kurzen Phase. Also erstens in der ganz kurzen Phase, wo es diese Hauptverwaltung war im Jahre 49 und Anfang bis Februar 50 und dann eben in der Phase, wo es mal kurz Staatssekretariat für Staatssicherheit war, also vom Juli 1953 bis 1955.
Maximilian Schönherr: Und dann wurde es Ministerium?
Dr. Roger Engelmann: Dann wurde es wieder Ministerium, genau. Und dann blieb es auch Ministerium bis zum Schluss.
Maximilian Schönherr: Und es gefiel auch allen? Es gefiel auch Honecker? Der wollte das nicht zurück integrieren ins Innere?
Dr. Roger Engelmann: Ja, aber es hat auch nie eine Rolle gespielt. Also, dieses Staatssekretariat, das war so ein bisschen eine Demütigung nach dem 17. Juni für das MfS, obwohl es gar nicht so gedacht war. Wir haben das mal beschrieben, dass das eigentlich ganz andere Hintergründe hatte. Das war nämlich eigentlich eine Analogie zu der sowjetischen Integration in das erweiterte MWD ursprünglich. Und dann, nachdem der 17. Juni gewesen war, und Zaisser abgesetzt worden war, und mit Schimpf und Schande aus der Partei ausgeschlossen wurde, da wurde es dann natürlich als Strafmaßnahme praktisch etikettiert. Aber so war es ursprünglich gar nicht gemeint. Aber es hat auch nie eine wirkliche Bedeutung gehabt. Das Staatssekretariat für Staatssicherheit unter dem Staatssekretär Ernst Wollweber war vollkommen unabhängig vom Innenministerium. Innenminister war dann Stoph, der hatte wirklich nichts zu sagen im Hinblick auf die Staatssicherheit.
Maximilian Schönherr: Aber die SED-Spitze schon?
Dr. Roger Engelmann: Die SED-Spitze schon, aber das ging über die Parteischiene im begrenzten Umfang. So viel, wie die Sowjets zugelassen haben. Aber klar, der Generalsekretär bzw. dann hieß er ja nur noch erster Sekretär, hatte natürlich zusammen mit dem ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen, der ja dann Erich Honecker wurde, hatten natürlich schon was zu sagen. Aber eigentlich streng genommen wirklich nur der Erste Sekretär. Also in Staatssicherheits-Dingen war wirklich immer nur der oberste Parteichef die maßgebliche Person.
Maximilian Schönherr: Obwohl es so aussieht, als wäre es sehr eigenständig, wenn man in Lichtenberg sich diesen Komplex ansieht und den Eingang und Mielkes Büro und so weiter.
Dr. Roger Engelmann: Na ja, gut, eine gewisse Eigenständigkeit hatten sie schon, aber wenn jemand außerhalb des MfS noch was zu sagen hat im Hinblick auf das MfS, dann war es vor allem der Parteichef.
Maximilian Schönherr: Schwand denn in den späten 50er Jahren dann der Einfluss der Sowjets auf den Inlandsgeheimdienst, also auf die Stasi, völlig oder blieb das erhalten?
Dr. Roger Engelmann: Also einen gewissen Einfluss gab's immer, vor allen Dingen in den Bereichen, die die Sowjets interessiert haben, nämlich die Auslandsaufklärung. Da bekamen sie einen ganz hohen Prozentsatz der Informationen, die von der HV A erarbeitet wurden, gingen zu einem ganz hohen Prozentsatz automatisch auch an den KGB.
Maximilian Schönherr: HV A müssen wir kurz auflösen.
Dr. Roger Engelmann: Ja, also die Hauptverwaltung A oder Aufklärung wird es manchmal auch aufgelöst, die für die Auslandsspionage im MfS zuständig war.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
Maximilian Schönherr: Ich möchte nur mal auf die Einflussnahme der SED auf Gerichtsprozesse kommen. Ulbricht sagt, wir würden gerne das Strafmaß so und so haben, das Ministerium für Staatssicherheit aber zum Beispiel hat, das Layout würde man heute sagen, von dem Prozess gegen Walter Praedel 1961 gemacht. Die haben vorgeschlagen, wie lange der Prozess dauern soll, welche Medien involviert sein sollen und der MfS Mitarbeiter und Offiziere waren im Gerichtssaal. Es war kein Schauprozess an sich, aber der DDR-Rundfunk hat darüber berichtet, aber es waren keine West-Journalisten dabei. Da hat quasi das MfS Justiz gemacht. Ganz üblich?
Dr. Roger Engelmann: Na ja, diese Abteilung Agitation, die im Jahr 55 auch gegründet wurde, die hatte ja, anfangs jedenfalls, die Hauptfunktionen, diese Schauprozesse auszuarbeiten und dann auch noch mit anderen Mitteln zu flankieren. Also mit Medienarbeit und Ausstellungen haben sie zum Beispiel auch gemacht, die dann in den Großbetrieben auf Tournee gegangen sind und, ich sag mal, die Dramaturgie eines solchen Schauprozessen, die wurde relativ minutiös unter agitatorischen Gesichtspunkten geplant im MfS. Also das kann man ganz schön an dem RIAS-Prozess, da sind die entsprechenden Akten überliefert, da kann man das ganz schön sehen. Schon die Angeklagten wurden nach agitatorischen Gesichtspunkten ausgesucht, nicht etwa nach strafrechtlichen. Die, die sich am besten eigneten, um eine bestimmte Botschaft an den Mann zu bringen, die wurden als Angeklagte ausgewählt.
Maximilian Schönherr: Das hat nicht Justizministerium gemacht, das hat das MfS gemacht, und das hat auch nicht das Gericht und auch nicht der Staatsanwalt gemacht?
Dr. Roger Engelmann: Ne ne, im Grunde waren die zusammengewürfelt, die hatten ja gar nichts miteinander zu tun. Den einzigen gemeinsamen Nenner, den die hatten, war, dass sie mit dem RIAS zu tun hatten. Aber untereinander hatten die ja nichts miteinander zu tun. Und die waren allein aus propagandistischen Gründen ausgewählt worden, waren dann auch nach Berlin verfrachtet worden. Der Wohnort oder der Tatort spielte ja keine Rolle. Da wurde der Gerichtsort wurde praktisch festgelegt, indem man den Untersuchungshäftling in die entsprechende Haftanstalt gebracht hat. In dem Fall nach Berlin, weil es ja vom obersten Gericht stattfinden sollte. Und dann hat man das auf die Weise inszeniert. Es gibt keinen Hinweis, dass da die Staatsanwaltschaft irgendeine Rolle gespielt hat in der Auswahl der Angeklagten.
Maximilian Schönherr: Die hatte ja aber auch nie was dagegen?
Dr. Roger Engelmann: In solchen politisch so stark aufgeladenen Vorgängen und Verfahren hätte sie sich gar nicht getraut, was dagegen zu haben, weil sie wusste, dass das ohnehin mit der Partei schon alles abgesprochen ist.
Maximilian Schönherr: Und da gab's vom Gericht her nie einen Widerstand?
Dr. Roger Engelmann: Also in diesen Schauprozessen - und ich meine, auch wenn der DDR-Rundfunk dabei war, war das ein Schauprozess. Das ist dann immer ein sogenannter Prozess vor erweiterter Öffentlichkeit, heißt es in den Akten, wenn der Rundfunk dabei ist und das, das kann man als Schauprozess bezeichnen. Das waren dann Prozesse, die darauf zugeschnitten waren, eine bestimmte Wirkung zu entfalten. Und da wurden die Angeklagten schon allein deshalb ausgewählt, weil man sicher gehen musste, dass sie auch nicht aus der Rolle fallen. Die mussten ja dann die reuigen Sünder spielen, das war meistens die Rolle, die ihnen zugedacht war.
Maximilian Schönherr: Hat auch meistens geklappt.
Dr. Roger Engelmann: Na ja, man hat ihnen natürlich entsprechend gesagt: "Na, wenn du das jetzt nicht machst, dann gnade dir Gott!", so ungefähr.
Maximilian Schönherr: Und bei den Geheimprozessen wie jetzt Elli Barczatis und Karl Laurenz, da hat das MfS nur die Vorarbeit natürlich gemacht, damit sie dann auch beobachtet und verhaftet werden konnten, aber im Prozess selber keinen Einfluss mehr?
Dr. Roger Engelmann: Na ja, das ist in der Forschung ein bisschen umstritten. Also, in 50er Jahren würde ich sagen - man kann es an den Unterlagen nicht wirklich ablesen - es ist nur so, dass das MfS so hermetisch agiert, in diesen Fällen auch. Und das sind ja sozusagen Prozesse, die extrem sicherheitsrelevant sind aus der Sicht des MfS oder aus der Sicht der DDR muss man sagen. Und da war einfach völlig klar, dass das MfS das Sagen hat. Also auf jeden Fall in den 50er Jahren und da hätte sich ein Staatsanwalt gar nicht getraut, etwas dagegen zu sagen. Zumal sie wussten, dass das natürlich alles schon abgestimmt war. In dem Moment, wo der Prozess eröffnet wird, ist das alles schon abgestimmt, bis hin zu den Strafmaßen. Und zwar sowohl mit der SED-Führung als auch mit den Sowjets, die ja bis 55 auf jeden Fall auch noch mitgeredet haben.
Maximilian Schönherr: Jetzt komme ich noch auf eine Sache und dann machen wir langsam Schluss, okay?
Dr. Roger Engelmann: Ja.
Maximilian Schönherr: Wie war die Zusammenarbeit mit Karl Wilhelm Fricke für dieses Buch, was Sie geschrieben haben? Wie lange haben Sie daran geschrieben und wie schreibt man so ein Buch zusammen, sie als der Historiker und Fricke, als der Journalist, der Betroffene noch dazu?
Dr. Roger Engelmann: Das war extrem unkompliziert, muss ich sagen. Also ich habe ja relativ viel Texte mit anderen zusammengeschrieben und obwohl Karl Wilhelm Fricke sicherlich jemand ist, der mit einem klaren Standpunkt und auch mit einem großen Gewicht sozusagen in dieses Verhältnis gekommen ist, lief das wunderbar. Also wir haben uns die die Kapitel aufgeteilt und haben die dann nacheinander geschrieben, haben die gegengelesen und redaktionelle Überarbeitungspunkte besprochen. Und es gab dann hier und da vielleicht mal einen Punkt, den man diskutieren muss, den man ausdiskutieren musste und das war aber völlig unproblematisch, also dass wir eine unterschiedliche berufliche Sozialisation haben, hat da bestimmt nicht negativ gewirkt. Also, ich denke sogar eher, dass es im Mittel mit einem Historiker-Kollegen schwieriger ist als mit Karl Wilhelm Fricke, weil er vielleicht auch als Journalist da auch pragmatischer an solche Gemeinschaftsaufgaben, sagen wir mal, herangeht.
Maximilian Schönherr: Hat er ihren Stil kritisiert? Gab's da Stellen, wo er sagte: "Das muss man anders formulieren.", aber umgekehrt nie?
Dr. Roger Engelmann: Ja. Na ja, ich meine, Karl Wilhelm Fricke war ja sowieso eher so ein Stilist. Also da hatte ich keinen Grund. Ich gehöre eigentlich auch eher zu den Stilisten, so, wenn ich mir so meine Kollegen anschaue. Aber hatten wir gar nicht, im Gegenteil, da hatte er eher bei mir was anzumerken, was ich übrigens alles akzeptiert habe, weil es völlig einleuchtend war. Wir haben dann inhaltlich ein bisschen und methodisch ab und zu - ich habe dann ab und zu mal bei den Quellen noch was ergänzt, aber das lief alles ganz, ganz problemlos.
Maximilian Schönherr: Also, wenn ich das Buch durchblättere, sind auf jeder Seite sind typischerweise ein, zwei Quellenangaben unten. Die kamen im Wesentlichen von Ihnen wahrscheinlich dann?
Dr. Roger Engelmann: Nein, wir hatten im Prinzip unsere Also, jeweiligen Quellen-Konvolute.
Maximilian Schönherr: Und er hatte auch den gleichen Zugang zu dem Archiv wie Sie als intern arbeitender Wissenschaftler?
Dr. Roger Engelmann: Er hatte damals - wir haben ja damals mit einer Reihe externen Kollegen gearbeitet. Die bekamen dann eine vertragliche Bindung an-
Maximilian Schönherr: Das ist doch heute immer noch so?
Dr. Roger Engelmann: Das ist immer noch so. Und die hatten dann natürlich die gleichen Verpflichtungen wie wir, die gleichen Geheimhaltungsverpflichtungen, und aber auch dann die gleichen Möglichkeiten.
Maximilian Schönherr: Das heißt, wenn Sie jetzt über Elli Barczatis schnell eine Akte bräuchten, dann würden Sie hier anrufen und würden vielleicht zur Akte hingehen oder die Akte wäre morgen spätestens da. Und bei Fricke auch?
Dr. Roger Engelmann: Na ja, also morgen wäre die nicht da. Also da müsste ich zu meiner Abteilungsleiterin gehen und mir einen Sofort-Vermerk holen. Dann wäre die Akte morgen da. Aber normalerweise dauert das auch intern wesentlich länger.
Maximilian Schönherr: Und bei Fricke dann genauso lang?
Dr. Roger Engelmann: Ja, damals waren die Zeiten, glaub ich, die Wartezeiten sogar eher kürzer bei den Magazinbestellungen. Dann sind natürlich auch die die Kopien rausgegangen an ihn, aber natürlich dann entsprechend geschwärzt. Also sehr streng geschwärzt, weil damals waren die Bestimmungen, was die Schwärzungen angeht noch strenger als heute.
Maximilian Schönherr: Können Schluss machen, okay?
Dr. Roger Engelmann: Okay.
Maximilian Schönherr: Oder wollen Sie noch etwas Wichtiges sagen?
[beide lachen]
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Das war ein Gespräch mit Dr. Roger Engelmann, meinem Kollegen, der seit Gründung unserer Forschungsabteilung 1992 als Historiker im Stasi-Unterlagen-Archiv arbeitet. Sein Buch über die "konzentrierten Schläge" kann man im Buchhandel beziehen oder auch in der Spezialbibliothek in unserem Standort an der Karl-Liebknecht-Straße in Berlin einsehen.
Maximilian Schönherr: Kann da jeder hinkommen?
Dagmar Hovestädt: Da kann jeder hinkommen, es ist allerdings nur eine Präsenzbibliothek. Man kann also nicht ausleihen, aber es sind - oh Gott - weit über 50.000 Bände zum Thema DDR, Sowjetunion, Kommunismus-Aufarbeitung - sehr interessante, sehr gut sortierte Spezialbibliothek.
Maximilian Schönherr: Das heißt ich gehe diese Treppe hoch, dann komme ich zum Empfang, die Empfangs-Damen und Herren werden mir sagen: "Bibliothek ist rechts.".
Dagmar Hovestädt: Genau.
Maximilian Schönherr: Und dann gehe ich in die Bibliothek rein, ohne mich ohne einzuchecken, quasi.
Dagmar Hovestädt: Ja, man sagt schon freundlich "Guten Tag", man muss wahrscheinlich auch wegen Corona nochmal ein bisschen gucken, ob man da gerade seinen Namen hinterlegen muss oder nicht. Aber man hat dann im Grunde genommen die Möglichkeit dort, solange die Öffnungszeiten sind, sich den ganzen Tag aufzuhalten und die doch sehr gut sortierte Spezialsammlung durchzuschauen.
Maximilian Schönherr: Du fährst ja immer mit dem Aufzug, dann gleich in die siebte Etage. Warst du schon mal rechts abgebogen?
Dagmar Hovestädt: Ich bin sehr häufig in der Bibliothek, weil ich immer gerne etwas lese und nach neuen Sachen suche. Und ich fahre übrigens nicht mit dem Fahrstuhl, sondern ich laufe die Treppe.
Maximilian Schönherr: Unser Podcast endet immer mit einem akustischen Einblick in den riesigen Audiopool des Stasi-Unterlagen-Archivs. Wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Spätestens seit dem Gundermann-Film von Andreas Dresen ist der Liedermacher Gerhard Gundermann einem breiten Publikum bekannt. Dreharbeiten zum Film fanden auch in der Berliner Magdalenenstraße statt. Auf unserer Website ist in diesem Zusammenhang zu lesen, Zitat: "Von 1976 bis 1984 arbeitete er zudem inoffiziell für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unter dem Decknamen "Grigori". Sein Verhältnis zum Staat wurde zunehmend ambivalent. Nach einigen Querelen wurde er 1984 aus der SED ausgeschlossen und auch die Staatssicherheit stellte die Zusammenarbeit wegen seiner "prinzipiellen Eigenwilligkeit" ein." Zitat Ende. Die Einstellung der Zusammenarbeit durch die Stasi beendete jedoch nicht die Überwachung der Aktivitäten Gundermanns. Noch im November 1989 war ein IM der HA XX bei einem Konzert in der Akademie der Künste. Den konspirativen Konzertmitschnitt ergänzt der IM durch eine Beschreibung des Konzertes und dessen Besucher sowie durch Beobachtungen im Foyer, die wir jetzt hören.
[Archivton]
[männliche Stimme 1:] Gerhard Gundermann. "Erinnerungen an die Zukunft". Vor dem Programm unterhalten-, unterhielten sich die Tochter der Schauspielerin Peter Kölling und des Regisseurs Richard Engel, Nadja Engel, Schauspielerin am Staatstheater Schwerin und die Frau vom Liedermacher Gerhard Gundermann, äh, Conny Gundermann, über eine Demonstration am 19. November. Hinzu kommt eine dritte, offensichtlich Mitarbeiterin eines Berliner Theaters, die von einer Demonstration-, von der Demonstration am 4. November und einer Demonstration am 19. November erzählt, über drei Reihen hinweg ruft: Man dürfe für die Demonstration - welche gemeint ist, war nicht erkenntlich - zwar keine Werbung machen, da sie noch nicht genehmigt sei, aber man solle es trotzdem weitererzählen. Beginn sei zehn Uhr vor dem ADN. Das Programm Gundermann selbst: viel Anklang. Er gibt vorher einige einleitende Worte, wo er sagt, dass einige Programmteile sich überholt haben, andere an Aktualität gewonnen haben. Innerhalb des Programms zu beachten, dass ein Lied unter dem Titel, will ich mal sagen: "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht". Dieses-, dieser Titel wurde mit Zwischenbeifall und starkem Beifall und Bravo-Rufen gekürt. Alle Programme werden mit Ton und Video mitgeschnitten. Zusatz zur Ausgestaltung: Im Foyer befindet sich ein, wenn man so will, Kettenkarussell, an dessen Ketten Briefkästen hängen. Auf diesen Briefkästen stehen einzelne Begriffe. Anleitungen zum Handeln ist, dass jeder Beteiligte eine blaue, eine rote Karte bekommt und diese blaue oder rote Karte dazu benutzt sein, einmal das Wichtigste an der Demokratie und einmal das Unwichtigste an der Demokratie zu kennzeichnen. Die einzelnen Briefkästen, wo diese Karten hineingesteckt werden sollen, sind zum Beispiel beschriftet mit: "Richtig wählen", "Verantwortung ausüben", "Beteiligt sein", "Öffentliche Kontrolle", "Kritik üben" und anderen in dieser Lage. Ebenfalls im Foyer befindet sich, aufgebaut aus drei Glasröhren, ein sogenanntes Barometer. In diesen Glasröhren können mittels einer Schaufel verschiedenfarbige Sande gefüllt werden. Ein Röhrchen-, eine Röhre ist für: "Es beginnt der Sozialismus.", eine Röhre ist für "Der Sozialismus ist eine Utopie.", ähnlich gefasst, nicht wörtlich. Und eine dritte Röhre, nicht wörtlich, sondern mehr sinngemäß: "Der Sozialismus ist am Ende.". Das mittlere Röhrchen, also das: "Der Sozialismus beginnt." ist bis jetzt circa dreiviertel gefüllt oder halb gefüllt, die anderen Röhrchen kaum gefüllt. Im Foyer bewegt sich eine männliche Person mit einem Rekorder und einem Mikrofon. Bis jetzt ist nicht erkenntlich, woher er kommt und welche Zielstellung er verfolgt.
[schnelles Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."